Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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V.

Niemand in der Gesellschaft wußte, wie es um Thekla in Wahrheit bestellt war. Niemand von den ihren daheim ahnte, welch tiefe Unruhe sich unter der stillen Oberfläche ihres äußeren Verhaltens verbarg. Konnte sie sich doch selbst nicht mal Rechenschaft darüber geben, wann und wo sich ihrer jener starke Eindruck bemächtigt hatte, der sie nun nicht mehr los ließ. Niemand hatte sie jemals gelehrt, was Liebe sei. Zu gewissen Dingen braucht man eben nicht der Schulung, gewisse Ereignisse kommen wie die Blüten am Baume, wie der Gesang des Vogels, über Nacht, von selbst, aus der Luft, vom Himmel. Die Liebe war auch nicht gekommen in ihr Herz, plötzlich und erschreckend, wie ein Gewitter aufzieht. Nein! Wie der Anbruch des Tages, still, aber unaufhaltsam in ruhig sieghafter Kraft.

Jene feine Unterscheidung, welche ihre Freundin Lilly aufgestellt hatte, zwischen Schwärmerei und Verliebtsein, machte Thekla nicht; für sie gab es nur: die Liebe.

Nicht ohne Kampf hatte sie sich ergeben. Ihre Mädchensprödigkeit setzte sich zur Wehr gegen das 197 unheimlich Neue, gegen das Unerhörte, das Besitz ergreifen wollte von ihr. Umsonst! Wie wollte man das bekämpfen, was in geheimen Tiefen der Natur sich entwickelte, was keimte und wuchs, genährt von unsichtbaren Kräften. Es war eben da, in ihr, eine Thatsache, wie der Frühling eine Thatsache ist.

Ihre Sinne waren die weit geöffneten Thore gewesen, durch welche das Wohlgefallen an seiner männlichen Persönlichkeit Einzug gehalten hatte. Sie liebte es, den Ton dieses sonoren Organes zu vernehmen, sich von diesem starken, elastischen Arme im Tanze getragen zu fühlen. Wenn das tiefe Leuchten seines Auges sie traf, war ihr, als dringe etwas Gefährliches auf sie ein. Er brauchte nicht zu sprechen, und seine Gegenwart redete doch zu ihr. Die geringfügigste Handlung hatte Bedeutung in ihren Augen, weil sie von ihm ausging. Wenn er im Zimmer war, schien die Luft verwandelt. Sie glaubte ohne aufzublicken zu wissen, ob sein Blick auf ihr ruhe.

Und dabei war er für sie ein ganz fremder Mensch. Sie wußte nicht viel mehr von ihm als das Wenige, was Lilly von ihm erzählt hatte. Thekla selbst hatte nur hie und da sich mit ihm unterhalten, wie man sich in Gesellschaft eben unterhält, flüchtig, über die gleichgiltigsten Dinge. Und noch dazu war sie sich bewußt, sich ihm gegenüber ganz besonders unglücklich und linkisch benommen zu haben.

Denn das war ja gerade das Verwirrende: der Mann, zu dem es sie gewaltsam hinzog, für den sie etwas unsagbar Gutes und Inniges empfand, derselbe Mann war ihr ein Gegenstand des geheimen Grauens. Sie hätte fliehen mögen aus seiner Nähe, ihr Haupt verbergen vor Scham. Welche Gewalt war ihm gegeben, sie so zu 198 verstricken! Wie kam er dazu, sich einzudrängen in ihre heimlichsten Gedanken und Träume! –

Um keinen Preis der Welt sollte er erfahren, was sie um seinetwillen litt. Sie zitterte, sich durch einen Blick, ein Erröten zu verraten. Aber wenn man das nur in der Gewalt gehabt hätte! Aus Scheu, entdeckt zu werden, zog sie sich zurück vor dem, zu dem es sie doch mit allen Fibern des Herzens trieb. Er sollte den Triumph nicht haben, sich zu sagen, daß auch sie ihm zugefallen sei. Sie mied ihn, that, als sähe sie ihn nicht, wenn er sie begrüßen wollte, ja behauptete einmal, bereits engagiert zu sein, als er sie um einen Tanz bat. Und welche Qualen der Angst empfand sie dann, daß er ihre Lüge gemerkt haben könne. O, ihr Herz war thöricht, war kindisch thöricht!

Daraus werden konnte ja niemals etwas! Sie, Thekla, war ihm höchst gleichgiltig! Er sah in ihr ein Gänschen, wahrscheinlich! Vielleicht dachte er noch schlimmer von ihr, hielt sie für eigensinnig und launenhaft. Berechtigt war er dazu, wie sie sich ihm gegenüber aufgeführt.

Zwar, er hatte sie gelegentlich auch ausgezeichnet. Er war stets höflich gewesen gegen sie; aber das war bei ihm Erziehungssache. Zur belle chasseresse hatte er sie wohl nur ausersehen ihres blonden Haares und ihrer blauen Augen wegen, die zufälligerweise dem Bilde entsprachen.

Lilly gefiel ihm doch am kleinen Finger besser als sie! Man sah es ja, wen er bevorzugte. Nein, nein, nur gar nicht daran denken, und vor allem sich nichts anmerken lassen! Die Demütigung wäre zu furchtbar gewesen, wenn jemand geglaubt hätte, sie könne Lillys wegen eifersüchtig sein.

Dann wurde sie, ohne es zu wollen, Zeuge einer 199 Unterhaltung, die während des Kotillons hinter ihrem Stuhle geführt wurde von ein paar älteren Herren. Der eine meinte, die Saison würde nun doch wohl noch ihre Verlobung sehen. »Wenn Sie auf die beiden da spekulieren, werden Sie sich wohl verrechnen!« erwiderte der andere, den Thekla an der Stimme als den alten Wächtelhaus erkannte. »Wernberg ist ein doppelt Genähter. Der wird den Deibel thun, und ein Mädel ohne Geld heiraten. Dem kommt's nur auf den Flirt an. Zum Amüsieren ist die kleine Ziegrist wie gemacht!«

Thekla konnte lange nicht den Gedanken an das Gehörte loswerden. Es wurde ja so vieles in der Gesellschaft gesprochen ohne Grund, und Herr von Wächtelhaus war zudem bekannt für seine böse Zunge. Sie konnte sich nicht denken, daß Leo Wernberg so einer sei. O nein, dazu war er viel zu vornehm und edel denkend! Sicher, mit solchem Verdacht wurde ihm schreiendes Unrecht gethan.

Am schwierigsten wurde es für Thekla, ihren Gemütszustand vor den ihrigen zu verbergen. In Gesellschaft trug jeder mehr oder weniger eine Maske; aber zu Haus, wo sie einen von Jugend auf kannten, wo es auffiel, wenn man schweigsamer war als sonst, verriet sich alles. Dazu kam Sängers aufdringliche Art, zu fragen, und die scharfen Augen und Ohren von Agnes. Die Mutter aber, welche ihr Recht, die Tochter auszuführen, an Frau von Ziegrist abgetreten hatte, hielt sich für berechtigt, zu erfahren, wie es jetzt in Hofkreisen zugehe, und wetteiferte mit ihrem Manne in eingehenden Fragen.

Eines Tages, als Thekla mit ihrer Mutter auf einem Besorgungsgange war, begegnete ihnen Herr von Wernberg. Thekla sah ihn erst, als er dicht vor ihr auftauchte und den Hut zog. Sie erschrak, ärgerte sich über 200 ihr Erschrecken und errötete. Frau Sänger mußte wohl davon etwas bemerkt haben, sie fragte sofort, wer der Herr gewesen sei, und in der Folgezeit erkundigte sie sich des öfteren bei Thekla, ob sie mit Herrn von Wernberg getanzt habe, ob er liebenswürdig sei, woher er stamme und so weiter. Dieses Ausgefragt-werden wurde zu einer wahren Tortur. Sie wußte doch nur zu gut, was die Mutter wollte und erwartete. Die Erfahrung vom vorigen Winter mit Herrn von Deistel war ihr noch in zu guter Erinnerung. In jedem jungen Manne sah Frau Sänger einen Heiratskandidaten.

Thekla fing an, das zu begreifen, was sie bisher den Dichtern, die es in allen Tonarten versicherten, nicht hatte glauben wollen, daß Liebe und Leid Geschwister seien. Sie hatte bis zu dieser Erfahrung immer gemeint, die Liebe sei etwas unaussprechlich Erhabenes und Hohes, der Religion Verwandtes, dabei Freundliches und Erquickendes, ein Vorschmack des Himmels. Nun mußte sie erkennen, daß ein Bodensatz irdischer Unvollkommenheit auch diesem Glücke eignete. War es nicht, wenn sie von der Liebe manch ein dunkles, vieldeutiges Wort gehört oder gelesen hatte, wie ein heiliger Schauer über ihren jungen Leib gegangen? Hatte sie nicht erwartet, daß sobald ihre Augen dieses größte aller Geheimnisse erkennen würden, dann die ganze Welt vor sich liegen zu sehen wie einen Blumengarten voll herrlicher Freuden! Dann sollten Friede und Klarheit kommen in all ihre Unruhe und Dunkelheit!

Aber es war alles anders gekommen. Wieviel Bitternis lag dem Gefühle kurzer Beseligung zu Grunde! Und noch schlimmer! Sie fühlte sich nicht geläutert und gebessert, eher gedemütigt, in Zweifel gestürzt und zerrissen. Es gab soviel Verwirrendes in diesen Gefühlen. Bis in ihr Mädchenbett hinein verfolgten sie häßliche Gedanken. 201 Schlechter, egoistischer hatte sie die Liebe gemacht, Neid und Eifersucht in sie gepflanzt und andere verabscheuenswürdige Empfindungen.

Sie weinte, wenn sie des Abends allein war, oftmals über sich. Sie betete zu Gott und zum Heiland um Hilfe und Erleuchtung. Aber selbst in ihre Andacht mischten sich fremde, zerstreuende Gedanken ein. Es war nicht mehr die stille Gebetsflamme, wie sie einstmals aus ihrem Herzen rein zum Allerhöchsten aufgelodert war. Inbrünstiger war jetzt ihr Fordern, verzweifelter ihr Ringen, aus einem gefolterten Gemüte kam ihr Schreien.

Aber stets war es auch hier, als sei sie nicht allein. Selbst in geweihter Stunde suchte sie eine fremde Gestalt heim, wollte sich eindrängen in ihre Andacht. Wenn sie auf den Knieen liegend, die Hände erhob zu dem Christus über ihrem Bette, war es etwas ganz anderes, als der leidende Heiland, das sie aus dem Bilde anstarrte. Wohin fliehen davor? War ihre Liebe zu Gott so klein, ihr Glaube so schwach gegründet, daß er sie vor solcher Versuchung nicht zu schützen vermochte? O Gott, was war aus ihr geworden! Wohin war sie gekommen!

Und verzweifelt grub sie sich in die Kissen ein, um sich vor den Gesichten zu retten, die sie verfolgten.

* * *

Der Erfolg, den man mit den historischen Porträts gehabt hatte, verlockte, es nun auch noch mit Komödie spielen zu versuchen. Die erste Frage war natürlich: was sollte man aufführen? Eine ganze Anzahl Stücke wurde in Betracht gezogen, doch verwarf man sie alle. Bei dem 202 einen eignete sich der Stoff nicht, ein anderes konnte nicht besetzt werden, dieses wurde unpassend gefunden, jenes zu wenig pikant. Schließlich einigte man sich auf ein ziemlich harmloses Stück, halb Schauspiel, halb Schwank.

Es wurde der Vorschlag gemacht, den Regisseur des Hoftheaters anzunehmen, zur Einstudierung. Doch sagte man sich bald, daß dadurch die Intimität des Ganzen leiden würde. Man wollte unter sich bleiben. Aller Blicke richteten sich daher von neuem auf Leo Wernberg. Man erwartete von ihm, daß er der Mann sei, auch den Posten eines Regisseurs auszufüllen. Er nahm das Amt an, unter der Bedingung, daß man ihm unbedingt gehorche. Man versprach ihm lachend alles, im voraus des guten Gelingens sicher, wenn er die Sache in die Hand nahm.

Dem gegebenen Versprechen zum Trotze, ließen es sich einige Damen natürlich nicht nehmen, allerhand kleine Intriguen anzuspinnen, um in den Besitz solcher Rollen zu kommen, die sie gerade für ihre Person als besonders vorteilhaft ansahen. Es gab in dem Stücke eine wenig sympathische, weibliche Rolle: eine Kokette, die in ihrer ganzen Schändlichkeit schließlich entlarvt wird. Dieser Charakter war noch dazu einem angejahrten, heiratslustigen Mädchen angedichtet, dem von einer jüngeren, hübscheren und liebenswürdigeren Person der ersehnte Bräutigam schließlich vor der Nase weggeschnappt wird. Von seinem Rechte als Regisseur Gebrauch machend, hatte Wernberg entschieden, daß Fräulein von Ziegrist diesen stark chargierten Charakter darstellen solle, weil er ihr die Gabe scharfen Charakterisierens zutraue.

Das war sehr wenig nach Frau von Ziegrists Sinne. Sie fühlte sich als Mutter beleidigt. Warum mußte gerade Lilly die Partie der alten Jungfer übernehmen? In jeder anderen Rolle hätte sie sie lieber gesehen. Denn 203 schließlich konnte das zu einem bösen Omen werden für Lilly. – Aber was konnte sie thun! War es doch unbegreiflicherweise Leo Wernberg selbst gewesen, der so gewählt hatte. Und Lilly, klüger als ihre Mutter, nahm die Rolle an, ohne eine Miene zu verziehen, wohl wissend, daß sie sich mit einer Weigerung lächerlich gemacht haben würde.

Leichter war es, die Partie des jüngeren Mädchens zu besetzen. Hier kam es nur auf Jugend, sympathische Erscheinung und die Fähigkeit an, sanfte Zurückhaltung zum Ausdruck zu bringen, aus der sich schließlich unter dem Einflusse der Liebe die Zärtlichkeit des Weibes wie von selbst entwickelt. Außer diesen beiden, in starkem Gegensatz gehaltenen Mädchengestalten, gab es noch eine Reihe von Nebenfiguren. Den Helden sollte ein Rittmeister geben, der mit martialischem Schnurrbart und mächtiger Kommandostimme ausgestattet, annahm, daß er damit alles besitze, was man von einem Liebhaber verlangen könne. Die Aufgabe, die glückliche Braut darzustellen, hatte Wernberg Fräulein von Lüdekind zugedacht. Thekla schien nach Erscheinung und Wesen für diesen in freundlichen Farben gehaltenen Charakter ausgezeichnet zu passen. Sie wollte ablehnen, sie getraue es sich nicht, so viel auswendig zu lernen, die Aufgabe sei zu groß. Aber Wernberg redete ihr zu: sie solle mal sehen, es werde wundervoll gehen. Sie unterschätze sich selbst, er kenne sie besser. Der Charakter sei wie für sie geschrieben, sie brauche sich nur selbst zu spielen.

Er ahnte nicht, wie seine Rede sie traf. Stundenlang grübelte sie am Abende dieses Tages darüber nach, was er mit solchen Worten gemeint haben könne. War es Höflichkeit gewesen, Schmeichelei vielleicht gar? Hatte er sie auf diese Weise zur Annahme der Rolle bewegen 204 wollen? Oder bedeutete es mehr; hatte er wirklich eine so besondere Meinung von ihr? Er kenne sie besser, als sie sich selbst, hatte er gesagt. War das eine von jenen Redensarten, wie Herren sie gebrauchten, um Eindruck zu machen, oder war es mehr? Wer ihr darüber hätte die Wahrheit sagen können! –

Zunächst fand eine Leseprobe statt. Lilly wußte durch die witzige Art, wie sie ein eifersüchtiges und mißgünstiges Frauennaturell zu parodieren verstand, alles zum Lachen zu bringen. Thekla brachte das Gegenstück dazu ebenfalls gut heraus. Wernberg nickte ihr verschiedenfach ermutigend zu, als wolle er sagen: habe ich dich nicht richtig taxiert! Auch die Nebenfiguren: Heldenmutter, komischer Onkel, Dienstboten machten ihre Sache zur Zufriedenheit. Nur der Held war völlig ungenügend. Der schöne Rittmeister kopierte einen Heldendarsteller der Hofbühne, der in Schillerschen Rollen die Herzen aller kleinen Bürgermädchen eroberte. Das falsch verstandene Pathos wirkte in zweiter Auflage natürlich nur noch drastischer. Die Zuhörer lachten. Der Rittmeister nahm das leider für eine erwünschte Wirkung auf. Es war sehr schwer, ihn zu überzeugen, daß er für diese Rolle nicht passe, und ihn zum Rücktritt zu bewegen. Aber Leo Wernberg brachte auch dieses Kunststück schließlich fertig.

Nun war die große Frage: wer sollte an Stelle des glücklich Beseitigten die frei gewordene Rolle übernehmen? – Niemand von den jüngeren Herren riß sich darum, denn die Partie war umfangreich. Es war Herr von Wächtelhaus, der den Vorschlag machte: Wernberg möge doch selbst in die Bresche springen; er wünsche sich für sein Theater keinen besseren Vertreter des Liebhaberfaches als ihn. Wernberg hielt es für notwendig, sich zunächst zu weigern, um sich noch ein wenig bitten zu lassen; 205 schließlich nahm er aber an. Die Regie ging, da er nun selbst zu den Darstellern gehörte, auf Herrn von Wächtelhaus über.

Bei der nächsten Probe sollte die Handlung von den Darstellern mit den ausgeschriebenen Rollen in der Hand andeutungsweise gespielt werden. Wie immer bei Liebhaberaufführungen war es das Schwerste, Leute, denen das Komödiemachen nicht zur zweiten Natur geworden ist, dazu zu bringen, daß sie aus sich herausgehen. Der richtige Schauspieler lebt schon längst in seiner Rolle, während der Dilletant sich noch abmüht, von seinem eigenen Wesen loszukommen.

Wächtelhaus hielt vom ersten Augenblicke an darauf, daß wirklich gespielt werde. Es wurde in dem Stücke, besonders gegen Schluß, ziemlich ausgiebig umarmt und geküßt. Spötter, der er war, meinte Wächtelhaus: da wolle er sich nicht einmischen, man könne es getrost den jungen Leuten überlassen, auch ohne Anleitung hierin die Natur zu treffen.

Im Gegensatz zu Wernberg war der neue Regisseur mit Fräulein von Lüdekind durchaus nicht zufrieden. Es war, als ob das junge Mädchen seit der letzten Probe eine ganz andere Person geworden sei. Sie machte den Eindruck der Ängstlichkeit und Befangenheit. Wächtelhaus deutete an, daß er eine Naive, die Angst habe, ihren Partner zu umarmen, nicht gebrauchen könne. Feuer und Bewegung verlangte er. »Sie müssen sich vorstellen, Sie liebten diesen jungen Mann. Sie dürfen im Moment keinen anderen Gedanken haben, als ihm gefallen zu wollen. Wenn Sie das nicht können, mein Kind, dann haben Sie kein Theaterblut.«

Thekla bat am Schlusse der Probe, daß man ihr die Rolle abnehme. Man redete ihr zu: sie solle den Mut 206 nur nicht verlieren, es werde schon besser gehen das nächste Mal.

Auch Wernberg war unter denen, die ihr zusetzten. Aber sie erklärte schließlich unter Thränen, sie könne nicht.

Hier sah Frau von Ziegrist den Augenblick für gekommen, zum Eingreifen. Thekla war ihr anvertraut, sie hatte alles Recht, sich als die mütterlich besorgte aufzuspielen. Sie halte es für ganz richtig, daß das junge Mädchen zurücktrete; Zwang dürfe ihr auf keinen Fall angethan werden. Es sei ja nicht jedermanns Sache Theater zu spielen. Sie belobte Thekla sogar, daß sie so verständig sei.

Für Neubesetzung der Rolle wußte Frau von Ziegrist Rat. Sie selbst bot sich an. Zwar nicht für die Partie der Naiven, denn dazu sei sie zu alt; aber sie wolle gern das ältere Mädchen spielen, wenn sie damit der Sache zu dienen vermöge, und Lilly könne dann an Fräulein von Lüdekinds Stelle treten.

Man war anfangs etwas befremdet über diesen Vorschlag, der Frau von Ziegrist gar nicht ähnlich sah. – Sie hielt sonst sehr auf Korrektheit und höfische Würde. – Aber schließlich fand man ihn annehmbar, besonders als Lilly bei einem Versuche bewiesen hatte, daß sie sich auch in diese Rolle gar nicht so übel zu finden verstand.

Einer war in der Gesellschaft, der Frau von Ziegrists Verhalten vollkommen durchschaute: der alte Wächtelhaus. Er gehörte nicht zu den Spaßverderbern. Ihn amüsierte es, zu sehen, was für Widrigkeiten eine Mutter im stande ist, auf sich zu nehmen, wenn es gilt, einen Mann für die Tochter zu erobern. Der Gedanke, daß aus dem Braut- und Bräutigam-Spielen schließlich Ernst werden könne, war ja vertrackt schlau. Aber Wächtelhaus kannte Leo 207 Wernberg; der schien ihm nicht der Mann, sich so leicht das Netz überwerfen zu lassen.

Wenn ihr die Rolle auch nicht eigentlich lag, so besaß Lilly doch jene Unbefangenheit, die Herr von Wächtelhaus an Thekla vermißt hatte, in hohem Grade. Sie genierte sich nicht im geringsten, sich von ihrem Partner küssen zu lassen und ihn zu umarmen. Und Wächtelhaus konnte ihr das ironische Kompliment machen, daß sie es wundervoll verstehe, sich in die »unangenehmsten Situationen zu versetzen.«

* * *

Der Aufführung wohnte Thekla nicht bei. Sie ging überhaupt nicht mehr in Gesellschaft. Aber niemand durfte merken weshalb. Wer hätte verstehen können, was ihr widerfahren war! – Als Vorwand, für ihr plötzliches Fernbleiben von aller Geselligkeit, mußte ihr Tante Wandas Unpäßlichkeit dienen.

Das alte Fräulein war spät im Herbst vom Sommerausfluge zurückgekehrt mit einer starken Erkältung. Den Winter über kränkelte sie, wollte sich aber nicht werfen lassen. Nun mußte sie ihren Trotz büßen; eine starke Grippe fesselte sie an's Bett.

Herr und Frau Sänger konnten nicht begreifen, wie Thekla um der Erkrankung der Tante willen, all die »ehrenvollen Einladungen« ausschlagen mochte, die sie zum Schluß des Karnevals besonders zahlreich erhielt. Sänger war entrüstet über diesen »neuesten Eigensinn« seiner Stieftochter. Er machte ihr ernste Vorstellungen, was für Aussichten sie sich möglicherweise verderbe. Thekla 208 widersprach ihm nicht; was hätte es auch genutzt! Aber gerade dieser stille Widerstand reizte ihn. Mit jedem Jahre wurde die Unbotmäßigkeit bei diesem Mädchen schlimmer. Ein wahres Kreuz war ihm mit diesem Kinde seiner Frau auferlegt worden.

Er ließ sich hinreißen, ihr zu sagen: wenn sie sich solche Schrullenhaftigkeit angewöhne, könne sie sich nicht wundern, daß sie keinen Mann bekomme. – Agnes, die diesem Ausbruch beiwohnte, spitzte neugierig die Ohren. Thekla aber stand, ohne ein Wort zu erwidern, auf und verließ still das Zimmer.

Sie ging in diesen Tagen viel zu Tante Wanda, froh, in der Sorge um die Erkrankte etwas gefunden zu haben, das ihre Gedanken abzog. Wenn sie dann abends nach Haus kam, begab sie sich gleich auf ihr Zimmer; von den ihren wollte sie so wenig wie möglich sehen.

So trübe endete dieser Karneval für sie, der so lustig begonnen hatte.

Thekla hatte angenommen, daß sich Leo Wernberg und Lilly noch vor Ablauf der Saison verloben würden. Vielleicht war es gut so, vielleicht gehörten diese beiden zusammen! Ja sie waren wohl von Anfang her für einander bestimmt. Einem ungewöhnlichen Menschen, wie Leo Wernberg, mochte es ja auch vielleicht gelingen, aus Lilly eine gute Frau zu machen. Sagte man nicht, die Liebe sei im stande, Wunder zu wirken? – Thekla ging in der Selbsttäuschung so weit, daß sie schließlich zu wünschen glaubte, aus diesen beiden möchte ein Paar werden.

Aber es kam und kam keine Verlobungsanzeige. Die Fastenzeit hatte begonnen, und nichts verlautete, daß der Wunsch der alten Herzogin sich endlich mal erfüllt habe.

Eines Tages machte Frau von Ziegrist mit Lilly 209 Besuch bei Sängers. Thekla war sicher, daß nun die Mitteilung kommen müsse. Anstatt dessen erklärte Frau von Ziegrist, daß Lilly Abschied nehmen wolle, sie sei Hofdame geworden bei einer fürstlichen Dame.

Die Sängers gratulierten. Thekla war so erstaunt, daß sie für's erste keine Worte der Beglückwünschung fand.

Lilly fing an zu berichten: von jeher sei das ihr größter Wunsch gewesen. Hofdame sei eine »ideale Stellung«. Und zudem habe sie es besonders angenehm getroffen. Ihre Fürstin wäre eine sehr große Dame, habe zwar kein Land, aber sei dafür enorm reich, und – ein weiterer Vorzug – kinderlos. Einen großartig vornehmen und liebenswürdigen Mann besitze sie. Man sei ganz international, spreche französisch, englisch und russisch; das Letztere werde sie noch erlernen. Sie werde sehr viel reisen mit dem Fürstenpaare, die Welt sehen, überall in der allerersten Gesellschaft verkehren. Kurz, ihr Lebensideal sei erfüllt.

Es war auffallend, wie eifrig Lilly sich bemühte, der Freundin klar zu machen, daß sie glücklich sei. Thekla kannte Lilly von klein auf, wie sich nur Klassengenossinnen kennen. Sie wußte, wie Lilly aussah, wenn sie log. Es stand für Thekla fest, daß Lilly alles andere sage, als die Wahrheit.

Also Leo Wernberg hatte Lilly sitzen lassen! – Es war so gekommen, wie der alte Wächtelhaus prophezeit hatte. Und Lillys »Lebensideal« war nun auf einmal: Hofdame zu werden.

Gefühle und Gedanken sehr gemischter Natur stürmten auf Thekla ein. Wie Triumph wollte es über sie kommen. Also Lilly hatte ihn nicht erobert! Ihre Anschläge waren zunichte geworden. Es lag Gerechtigkeit darin. Aber sie suchte das in sich niederzuringen. Schadenfreude war etwas 210 so Niedriges. Sie hatte schon als Kind nicht verstehen können, wie man sich über das Unglück einer Kameradin freuen könne.

Arme Lilly! Welche Enttäuschung mußte sie fühlen, sie, die sich ihrem Ziele so nahe geglaubt hatte! Ob sie wohl im stande war, wirklich tiefen Kummer zu empfinden? Oder ob es bloß Ärger war und gekränkter Ehrgeiz, was aus ihrem neuesten Entschlusse sprach. In beiden Fällen war sie zu beklagen. Thekla gab sich die größte Mühe, freundlich von ihr zu denken.

Und doch strömte aus dem Mißerfolg der Freundin etwas wie Balsam in die eigenen Wunden. Für sich selbst erhoffte Thekla darum nichts. Sie wußte: aus dem Traum, den sie geträumt, konnte nie und nimmer etwas werden. Leo Wernberg war ihr nicht bestimmt. Aber es war ihr doch wenigstens erspart geblieben, ihn an Lillys Seite zu sehen.

Jetzt, wo das nicht mehr drohte, vermochte sie über sich selbst und das Erlebte ruhiger zu denken. Wie uns nachts ein Albdrücken überfällt, so war sie plötzlich unter eine fremde Gewalt geraten. War das aus ihrem Innern emporgestiegen? Gab es dort solche unheimliche, unkontrollierbare Mächte? Diese Sehnsucht, dieses stürmische Fordern, dieses unklare Begehren! War es nicht schrecklich, zu denken, daß so etwas Besitz von der Seele ergreifen konnte, wie eine Krankheit den Leib überfällt, und man ist dem machtlos übergeben! –

Ging das anderen auch so? Sicherlich, andere Frauen hatten Ähnliches erlebt! Aber wer hätte darüber sprechen wollen! Irgendwo und irgendwann würde sie schon eine Antwort erhalten darauf; dessen war sie sicher.

So klärten sich ihre Gefühle. Sie war doch nicht schlecht gewesen. Sie brauchte sich ihrer Handlungsweise 211 nicht zu schämen! Sie hatte sich doch nicht weggeworfen. Sein Herz verlieren, konnte doch nimmermehr Sünde und Schande sein. Sich selbst antragen, wie es Lilly gethan hatte, darin lag die Schmach. Das war ein Brandmal, das man nie wieder los wurde. Sie durfte den Kopf hoch tragen; nichts hatte sie sich vergeben.

Es kam ihr auf einmal bei, Gabriels Briefe, alles, was sie an Erinnerungen an ihn besaß, von dem Skizzenhefte mit dem Gedicht angefangen, wieder vorzunehmen. Ein neues Verständnis ging ihr auf für ihn. In gänzlich verändertem Lichte erschien ihr sein Werben um sie, da sie zwischen den Zeilen las, wie heiß sie geliebt worden war. Was sie ehemals kalt gelassen, was sie überhaupt kaum gemerkt hatte, ergriff und rührte sie mit einemmale zu tiefer Sympathie.

Ja, das Leben war wunderlich eingerichtet! Aber es war doch nicht so unerträglich, wie es ihr in ihren dunkelsten Stunden vor kurzem noch erschienen. Zu sterben wünschte sie sich nicht mehr. Sie konnte jetzt schon darüber lächeln, wenn sie dachte, daß sie in ihrer schlimmsten Not den lieben Gott gebeten hatte, er möge sie von dieser Welt nehmen, da sie darinnen zu unglücklich sei.

Ihre Melancholie wich allmählich einer gesünderen Stimmung. Es gab doch noch Pflichten, die zu erfüllen waren, Möglichkeiten und Hoffnungen, an die sie glauben durfte, trotz allem. Sah die Welt nicht ganz anders aus! War es nicht, als sei ihr ein neuer Sinn aufgegangen!

Sie wußte nicht, daß es die erste wirklich große Enttäuschung war, die ihr den Schleier der Kindlichkeit von den Augen genommen hatte und ihr nun die Farben aller Dinge tiefer und die Züge aller Erlebnisse bedeutsamer erscheinen ließ. 212

 


 


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