Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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III.

Es war Frau Sänger in den letzten Monaten nicht gut gegangen, sie klagte über Müdigkeit und herumziehende Schmerzen und schien plötzlich um Jahre gealtert.

Ihr Gatte war schnell mit der Erklärung da: sie habe sich im vergangenen Winter beim Ausführen ihrer 165 Tochter Thekla überanstrengt; aufgeopfert war sie worden im Dienste der Mutterpflichten. Der Hausarzt wußte einen anderen Grund. Frau Sänger stand in einem für die Frauennatur kritischen Alter. Doktor Beerwald verordnete Ruhe und Kräftigung und meinte, daß sie solche nur außerhalb des täglichen Getriebes ihres Hauswesens finden könne. Der längere Aufenthalt in einem Luftkurort wurde für das geeignetste befunden. Thekla und Agnes sollten die Mutter begleiten, denn auch ihnen könne der Landaufenthalt nichts schaden.

So sah sich denn Thekla eines Tages mit Mutter und Schwester in einem bekannten Luftkurort. Doktor Beerwald hatte ihr die Mutter noch besonders übergeben und ihr an's Herz gelegt, daß sie vor allem seelische Erregungen von der Leidenden fern halten möge.

Man wohnte in einer größeren für weibliche Patienten eingerichteten Villa, deren Besitzer und Leiter ein Arzt war. Frau Sängers Kur bestand in ausgestrecktem Liegen, im Genusse freier Luft und in Massage. Thekla fand Beschäftigung genug. Die Mutter mit Kunst bewegungslos gemacht, brauchte vom frühen Morgen ab mancherlei Handreichungen. Wenn sie dann in der Hängematte untergebracht war, las Thekla ihr vor oder suchte sie sonst wie zu unterhalten. Das Fräulein, welches die Massage ausführte, zeigte Thekla die leichteren Handgriffe, die auch der Laie, ohne Schaden anzurichten, ausüben mag.

Schwierig war es, für Agnes eine passende Beschäftigung ausfindig zu machen. Vor Kraft und Ausgelassenheit strotzend, langweilte sich dieser Backfisch in Gesellschaft der kranken Mutter. Am Lesen hatte Agnes noch nicht Geschmack gefunden, und das Arbeiten fand sie überflüssig. Sie erklärte bald nach Ankunft in der Villenkolonie, daß dies das »ledernste Nest der ganzen Welt« 166 sei. Ihr fehlten die Pastorsrangen, mit denen sie im Jahre vorher herumgetollt war. Hier gab es nur sehr viel leidende Damen, aber keine Mädchen im Alter von Agnes und Jungens erst recht nicht. Sie saß also den lieben langen Tag da, gähnend, eine Handarbeit im Schoße und stahl dem lieben Gott die Zeit.

Endlich erschien die Erlösung aus diesem qualvollen Zustand für Agnes in Gestalt einer russischen Familie. Diese Leute kamen mit einem Schwarm von Dienstboten und Kindern in allen Altern. Die Bekanntschaft war schnell angeknüpft. Von da ab kam das junge Mädchen meist nur noch zu den Mahlzeiten mit den ihren zusammen; die übrige Zeit verbrachte sie in Gesellschaft der Russen. Gelegenheit zu Croquet, Luftkegel und Tennis gab es im nahen Kurpark genug. Für Thekla wurde das Amt, die Mutter zu pflegen, wesentlich erleichtert, von dem Augenblicke ab, wo dieses Quecksilber von Schwester untergebracht war.

In Abwesenheit ihres Mannes zeigte sich Frau Sänger als eine ganz andere Frau: freier und heiterer. Zwar hatte ihr der Finanzrat genaue Vorschriften mitgegeben, wie sie sich zu verhalten habe im Wachen wie im Schlafen. Aber der Arzt kümmerte sich natürlich sehr wenig darum. Die Kranke machte gute Fortschritte und erhielt nach einiger Zeit die Erlaubnis, von der liegenden Lebensart zu mäßiger Bewegung überzugehen.

Thekla hatte bis dahin keinerlei Bekanntschaften unter den Kurgästen gemacht. Wer an diesem Orte weilte, war zumeist mit der Pflege seines siechen Leibes beschäftigt und nicht geneigt, Verkehr zu suchen.

Eines Tages, als Thekla mit ihrer Mutter langsam in einer Allee des Kurgartens auf- und abschritt, wo man nachgerade auch schon jedes Gesicht und jede Toilette 167 kannte, fiel ihnen als neue Erscheinung ein Herr auf, in dem sie, als er näher kommend grüßte, Herrn von Ziegrist erkannten, Lillys Vater. Einige Tage darauf begegnete man auch Frau von Ziegrist, mit der es eine Aussprache gab.

Das Ehepaar befand sich im Dienste der Herzogin Witwe hier, deren Hofmarschall Herr von Ziegrist war. Die alte Dame besaß ein Schlößchen in der Nähe, das sie jeden Sommer auf einige Monate zu besuchen pflegte. Es war manches Jahr her, daß Theklas Mutter, als sie, noch Frau von Lüdekind, am Hofe ausging, ihr vorgestellt worden war. Die Ziegrists, als echte Hofleute beständig auf der Suche nach Neuigkeiten, die sie brühwarm ihrer Hoheit mitteilen mußten, erkundigten sich eingehend nach Frau Sängers Leiden.

Eines Tages hatte man denn auch das Glück, die alte Herzogin ausfahren zu sehen. Frau Sänger, die auf diesen Augenblick schon längst gespannt hatte, machte mit Thekla Front und brachte ihren schönsten Hofknix an. Sie hatte die Genugthuung, ein freundliches Kopfnicken als Gegengruß zu empfangen.

Dieses Ereignis weckte bei Frau Sänger die Erinnerungen an ihre Hofzeit auf, die nur einen leisen Schlummer hatten. Thekla bekam in den nächsten Tagen viel von Fürstlichkeiten und ihren verwickelten Verwandtschaftsverhältnissen zu hören, von Hofschleppen, Neujahrscouren und dergleichen.

Bei dieser Gelegenheit erfuhr das junge Mädchen, daß die Verbindung ihrer Eltern recht eigentlich am Hofe entstanden war. Ihr Vater hatte seinen Antrag gemacht am Morgen nach einem Hofballe, wo er mit der bereits Angebeteten den Souperwalzer getanzt. Überhaupt erzählte Frau Sänger in jener Zeit viel von ihrem ersten Gatten. 168 Sie sagte selbst, sie müsse jetzt soviel an Eberhardt denken, und oft sei er im Traume bei ihr. Sie sprach manchmal von ihm wie von einem Lebenden.

Thekla stand vor einem Rätsel. Die Mutter mußte den Vater doch sehr geliebt haben, ja sicher liebte sie ihn noch. Ganz glücklich und jung und wie verklärt konnte sie erscheinen, wenn sie von ihrem Brautstande sprach, von den Geschenken, mit denen er sie überrascht hatte, wie sie in der ersten Zeit als junges Leutnantspaar mancherlei komisches Mißgeschick gehabt; und was dergleichen intime Züge mehr waren.

Und wo war alles das nun hin? Hatte sich seit jener Nacht, wo der geliebte Mann den letzten Atemzug ausgehaucht hatte, nicht eine ganze Welt zwischen sie und ihre erste Liebe geschoben? War das dieselbe Frau, die dann ein zweites Mal am Altare mit den nämlichen Worten einem anderen Treue gelobt hatte? Und dieser andere, den sie doch auch lieben mußte, hatte, wie man sah, nicht die Erinnerung an jenes erste Glück aus ihrem Herzen verdrängt! –

Das junge Mädchen konnte sich darin unmöglich zurecht finden. Jugend weiß eben nicht, was Jahre zu bedeuten haben, wie wandelbar alles Menschliche ist und wie die Zeit den Keim der Untreue, der in jeder Liebe ruht, begünstigt.

Man sprach gelegentlich auch von Tante Wanda. Thekla hatte ihren Namen oft auf den Lippen, und meist mit überschwänglichen Begleitworten der Bewunderung. Aber Frau Sänger schien das nicht sonderlich zu lieben; sie äußerte keine eigentliche Ansicht über Wanda Lüdekind. Als aber Thekla einmal rühmend Tante Wandas Wohlthätigkeit erwähnte, da meinte sie: »Nun ja, Wanda ist reich! Sie kann so etwas leicht. Aber im Grunde ist 169 sie doch egoistisch. In ihrem ganzen Leben ist sie stets nach ihrem alten eigensinnigen Kopfe gegangen. Ich bin übrigens sehr gespannt, wem sie mal ihr ganzes Geld hinterlassen wird. Davon hätte sie euch auch längst was abgeben können, statt es alles für sich zu behalten! Und du sollst sehen, wenn's so weit sein wird, vermacht sie es gar nicht der Familie! Seitdem euer Vater tot ist, thut sie ja so wie so, als habe sie gar nichts mehr mit uns zu schaffen. Früher ging mir ihre Intimität oft zu weit, aber jetzt spielt sie sich auf die Gekränkte. So ist Wanda immer gewesen. Ich könnte dir manche Erfahrung mit ihr erzählen.«

Wenn Thekla dann die Abwesende in Schutz nahm, erregte sich die Mutter nur noch mehr, und das sollte doch nicht sein; der Arzt hatte ja jede Gemütsbewegung als schädlich bezeichnet. Die Tochter vermied es daher in Zukunft, dieses leidige Thema zu berühren. Die Abneigung gegen Tante Wanda mußte doch tief sitzen bei der Mutter.

Thekla lernte jetzt ihre Mutter viel besser begreifen. Wenn auch vielleicht ihre Achtung vor der Frau, die ihr das Leben geschenkt, nicht zunahm, so wuchs doch ihre verstehende Teilnahme.

Eines Tages machte Herr von Ziegrist seine Aufwartung bei Frau Sänger. Er erklärte den Zweck des Besuches sofort: Ihre Hoheit, die Herzogin Witwe, hatte den Wunsch ausgesprochen, Fräulein von Lüdekind kennen zu lernen. Er komme, um die Zeit der Vorstellung mit den Damen zu besprechen.

Frau Sänger geriet über diese Nachricht in die größte Aufregung. Der Hofmarschall setzte allerdings sofort einen Dämpfer darauf, indem er andeutete: die Herzogin wünsche nur das junge Mädchen zu sehen, da man es Frau Sänger bei ihrem Körperzustande natürlich nicht zumuten wolle, 170 sich irgendwie anzustrengen. Aber vielleicht könne sie die Tochter doch hin und wieder für ein paar Stunden entbehren. Es sei ja wohl bekannt, fügte er verbindlich hinzu, welch gnädigen Anteil Ihre Hoheit gerade an jungen Damen der Gesellschaft nehme. Übrigens brauche man sich wegen Toiletten keine Sorge zu machen; die Herzogin sei auf dem Lande und erwarte keinerlei Aufwand.

Dann erklärte der vorbedachte Mann noch für Thekla besonders: sie möge sich nur ganz ungeniert geben; Ihre Hoheit liebe die Ungezwungenheit, besonders wenn sie in »Uhlenstein« sei, so hieß ihr Landsitz.

Thekla hatte zwar durch ihre Freundin Lilly schon viel von Fürstlichkeiten erzählen hören, selbst aber noch niemals mit solchen zu thun gehabt. Ihre Mutter erklärte ihr, von welcher Bedeutung diese Bekanntschaft für sie werden könne. Das junge Mädchen bekam als völliger Neuling im Hofton manche gutgemeinte Weisung mit auf den Weg.

Die Herzogin Witwe war als Gattin des verstorbenen Landesherrn einige Jahrzehnte hindurch die erste Frau des Landes gewesen. Es hieß sogar in eingeweihten Kreisen, sie habe mehr regiert als ihr kränklicher Gatte. Da ihr Nachkommenschaft versagt geblieben, war die Regierung an ihren Neffen, den jetzigen Herzog, übergegangen.

Zwischen den beiden Hofhaltungen, der alten und der jungen, bestand eine gewisse Rivalität, die sich vor allem auf geselligem Gebiete fühlbar machte. Durch Alter, Vermögen und Erfahrung war die Herzogin Witwe die vornehmere und bedeutendere; die Jungen aber hatten den politischen Vorrang, da sie am Regimente waren. In der Gesellschaft gab die Alte noch immer den Ton an. Zu ihrem Kreise zu gehören, war daher das Bestreben aller, die gesellschaftlichen Ehrgeiz hegten.

171 Dem jungen Mädchen klopfte das Herz doch etwas, als zur angesagten Zeit eine Hofequipage vorfuhr, um sie nach Schloß Uhlenstein zu führen. Man hatte so wunderliche Dinge von der alten hochgestellten Frau gehört.

Der Wagen fuhr nicht ganz bis vor das Schloß – das eigentlich mehr ein Landhaus war und nur seiner fürstlichen Besitzerin halber diesen stolzen Namen führte; Thekla wurde bedeutet, daß sich Ihre Hoheit in den Anlagen aufhalte.

In einiger Entfernung sah man vor einem Sommerhause eine alte Frau sitzen. Ob sie das war? – Thekla strich sich ihr einfaches helles Kleid zurecht und machte sich auf den Weg. Frau von Ziegrist kam ihr entgegen, wie immer äußerst elegant gekleidet. Das junge Mädchen erhielt nochmals die Weisung, sie solle sich nur nicht ängstigen. Ihre Hoheit sei übrigens heute in gnädigster Laune. Das letztere wurde von der Ziegrist halblaut getuschelt, denn man näherte sich der alten Dame.

Sie saß in einem Strandstuhle, über den Füßen eine Decke, das Haar mit einem breitrandigen Strohhute bedeckt, die Augen durch eine rauchschwarze Brille gegen die Sonne geschützt. Neben ihr spielte ein Foxterrier mit dem Häkelknaule, den die Herzogin hatte fallen lassen. Thekla machte ihren bei der Mutter eingeübten Hofknix. Die alte Dame hielt ihr die Hand entgegen, die zu küssen, das Mädchen Geistesgegenwart genug fand.

»Setzen Sie sich dorthin, Fräulein von Lüdekind!« sagte die Herzogin mit einer entsprechenden Handbewegung. Ihre Stimme klang nicht unangenehm. »Mein Knaul!« rief sie dann, worauf Frau von Ziegrist sich diensteifrig bückte, um dem Hunde das völlig entstellte Garn zu entreißen. »Bringen Sie das, bitte, wieder in Ordnung, liebste Ziegrist!«

172 »Nun, mein gutes Kind, erzählen Sie mir mal . . .« damit wandte sie sich Thekla zu. »Ihr Vater war der Major von Lüdekind; wie hieß er doch gleich mit Vornamen? – Eberhardt, ganz richtig! Und Ihre Mutter ist eine geborene von Friemar. Sehen Sie, Beste« – das war wieder an die Ziegrist gerichtet, – »mein Gedächtnis ist doch nicht so schlecht; ich habe Ihnen gleich gesagt, daß sie eine geborene Friemar sei!« Die Hofdame murmelte einige Worte der Bewunderung.

Darauf fuhr die Herzogin fort, Thekla nach verschiedenen ihrer Verwandten aus der vorigen Generation auszuforschen, von denen das junge Mädchen gerade nur die Namen gehört hatte. In einem Falle mußte sie bekennen, sie wisse nichts von diesem Onkel. Die Herzogin erklärte: »Er war Rittmeister bei den Dragonern, machte Schulden – das heißt, nein, er machte keine Schulden; er machte sonstige Dummheiten, und ging um die Ecke. War ein hübsches Kerlchen und tanzte fix. Ich sehe ihn noch! Damals wurde noch Wert auf das Tanzen gelegt, überhaupt auf Tenue. Heutzutage – nun, ich habe Charly meine Ansicht gesagt!« Charly war ihr Neffe, der regierende Herzog.

Nach dieser Abschweifung fragte die Herzogin ziemlich unvermittelt:

»Und jetzt hat Ihre Mutter einen Herrn Sänger geheiratet?« Als Thekla schüchtern bejahte: »Hm, ich halte nicht viel davon, wenn Witwen heiraten.«

Damit schien das junge Mädchen für's erste abgethan. Die Herzogin unterhielt sich mit ihrer Dame, und Thekla hatte Zeit, ein wenig zu beobachten, wozu sie bisher über dem Staunen gar nicht gekommen war.

So hatte sie sich eine Fürstin im Leben nicht vorgestellt.

173 Nun kamen Erdbeeren. Die Herzogin trank ein Gläschen starken Wein. Thekla mußte sich den Teller ein zweites Mal füllen. Sie hatte ihre anfängliche Befangenheit fast ganz verloren. Die alte Dame mochte eine sonderbare Frau sein, aber sie war voll Wohlwollen. Ihr Blick ruhte öfters freundlich auf dem jungen Mädchen. »Sie ist reizend, sie ist wirklich reizend!« sagte sie plötzlich zu ihrer Dame. Die Ziegrist bejahte eilfertig, wie sie jede Bemerkung bejaht hätte, die ihre Hoheit zu machen geruhte.

Dann wurde Thekla gefragt, wo sie zur Schule gegangen sei. Hier mischte sich Frau von Ziegrist in's Gespräch. Sie wußte die eigene Tochter in Erinnerung zu bringen: Lilly und Fräulein von Lüdekind seien zusammen gewesen in einer Klasse und jetzt noch intim befreundet.

Die alte Dame nickte. »Ja, Jugend! Ich gäbe mein halbes Vermögen, nein, dreiviertel von allem dafür, wenn ich mir neue Beine beschaffen könnte!«

Gelegentlich fragte die Herzogin, ob Fräulein von Lüdekind Klavier spiele. Thekla bejahte und fügte schüchtern hinzu, daß sie auch ein wenig singe.

»Sie singt!« rief die alte Dame in jugendlicher Lebhaftigkeit. »Liebste Ziegrist, sie singt!«

Nun hieß es, das junge Mädchen müsse sofort etwas vortragen. Thekla wandte ein, sie habe keine Noten mit, und außerdem sei sie auch nicht gewöhnt, sich selbst zu begleiten.

Die Herzogin hatte sich's aber nun mal in den Kopf gesetzt, Thekla singen zu hören. Hindernisse gab es nicht in den Augen einer Persönlichkeit, die gewöhnt war, daß sich alles auf ihren Wunsch einrichtete. Ein Lakai wurde zu Frau Sänger entsandt, sie möge ihrer Tochter die Noten schicken. Vor allem aber galt es, jemanden zu finden, der begleiten konnte, denn die Ziegrist war unmusikalisch.

174 »Rufen Sie doch Ihren Mann, Liebste!« meinte die Herzogin. Die Dame ging und holte den Hofmarschall. »Mein guter Ziegrist!« rief die alte Dame ihm entgegen. »Sie müssen uns sofort einen Menschen verschaffen, der begleiten kann. Ganz gleich, wer und was er ist!«

Herr von Ziegrist, ein äußerst steifer und feierlicher Herr, der in keiner Lebenslage den Hofmarschall vergaß, antwortete mit deutlichem Ärger über die ihm zugedachte Mission: er glaube kaum, daß sich so Hals über Kopf jemand geeignetes finden lassen werde.

»Ach, seien Sie nur nicht langweilig!« rief die Herzogin. »Irgend eine menschliche Seele ist sicher unter den Kurgästen da unten, die ein bißchen klimpern kann. Sehen Sie sich nur um! Thuen Sie mir das zu Liebe, mein guter Ziegrist!«

Der Hofmarschall verbeugte sich schweigend und ging. Wahrscheinlich verwünschte er im Inneren das junge Mädchen, die ihm diese Unbequemlichkeit auferlegt hatte.

Die Damen begaben sich nach dem Hause. »Die Kleine da mag sich inzwischen im Garten ergehen, bis alles beisammen ist, dann wollen wir hören, was sie kann!« sagte die Alte und entließ das junge Mädchen am Eingang des Schlosses.

Thekla ging, einem schmalen Pfade folgend, nach einer kleinen Anhöhe, von der aus man einen schönen Rundblick über Park, Villen, Wald und die Dörfer und Felder der Umgegend genoß. Sie ließ sich auf einer Bank nieder, die dort stand.

Der herrliche Sonnenuntergang, der nur auf sie gewartet zu haben schien, ließ sie kühl. Kaum daß sie dem Schauspiel Beachtung schenkte; sie war beunruhigt. Warum hatte sie nur gesagt, daß sie singe? – Die Herzogin war sicher sehr verwöhnt. Und was konnte sie bieten! 175 Schwerlich würde sie genügen. Fast wünschte sie, Herr von Ziegrist möchte niemanden finden.

Ihr Wunsch sollte sich nicht erfüllen. Sie hatte noch keine halbe Stunde hier oben gesessen, als ein Lakai erschien und ihr die Aufforderung brachte, hereinzukommen. Vom Schlosse her hörte sie Musik; es klang, als probiere jemand das Instrument. Nun half es nichts! nun galt's sich zusammen nehmen und sein Bestes geben!

Der Lakai öffnete ihr. Sie trat in einen geräumigen Gartensaal. Dort fand sie die Herzogin in einem Armstuhle. Die alte Dame rief gutgelaunt: »Da ist sie ja doch! Wir dachten schon, sie hätte Schulfieber bekommen!«

Thekla bemerkte vor dem Flügel einen kleinen Herrn mit schwarzem, buschigen Haar und Schnurrbart, der aufsprang und ihr einen tiefen Diener machte, wobei sie seine Augen wunderlich anfunkelten. Der Hofmarschall stellte ihn ihr als: »Herr von Gablonsky« vor.

Der kleine Mann wollte in gebrochenem Deutsch, das den Polen verriet, eine Ansprache an das junge Mädchen halten, welche »Erre« es ihm sei, mit »gnediges Freilein« vor so erlauchter Zuhörerschaft sich »produzirren« zu dürfen. Herr von Ziegrist schnitt ihm jedoch das Wort ab, indem er die Künstler ersuchte, sich zunächst einmal darüber zu einigen, was vorgetragen werden solle. Thekla kramte in ihren Noten und nannte ein Lied. »Charrmant!« rief der Pole. »Kenne ich! Werde ich machen!« Er schlug ein paar Akkorde an, mit Geläufigkeit und schönem Anschlag.

Das Lied kam besser heraus, als es Thekla jemals für möglich gehalten hätte. Mit jeder Strophe wurde ihre Stimme fester. Die Begleitung schmiegte sich durchaus dem Gesange an.

Die Herzogin applaudierte und verlangte ein Gleiches von dem Ehepaare Ziegrist. Thekla mußte noch mehr 176 singen. Übrigens merkte sie, daß die alte Dame den Gesang summend begleitete; allerdings mit mehr gutem Willen, als richtigem Gehör.

Nach einigen Liedern erklärte die Herzogin, es sei genug, Fräulein von Lüdekind sei nun müde. Wie das gesagt wurde, vertrug es keinen Widerspruch. Dann dankte sie Herrn von Gablonsky freundlich, aber doch in einer Art, die keinen Zweifel darüber aufkommen ließ, daß er sich entfernen dürfe. Der Pole ging, nachdem er der Herzogin zweimal, den anderen Damen einmal die Hand geküßt hatte, und hinterließ den betäubenden Duft eines süßlichen Parfüms, so daß die alte Dame lachend befahl, hinter ihm sämtliche Fenster zu öffnen.

»Wo haben Sie denn diesen putzigen Slovaken aufgelesen, mein guter Ziegrist?« rief die Herzogin. »Das Kerlchen spielt übrigens gut Klavier, und hat ein Wesen wie ein Maikätzchen.« –

Der Hofmarschall erzählte mit viel Umständlichkeit, wie er Herrn von Gablonsky ausfindig gemacht habe, der Oberkellner vom Kursaal spielte eine Rolle dabei. Er sei hier in Begleitung seiner Schwester, einer Gräfin, mit fabelhaft klingendem Namen. Übrigens glaube man nicht recht an dieses Geschwisterpaar. Mit einem Blick auf Thekla schloß Herr von Ziegrist seinen Bericht.

»Glauben Sie, daß er eine Brillantnadel annimmt?« fragte die Herzogin. Der Hofmarschall überlegte und meinte dann: der Oberkellner habe durchblicken lassen, daß Herr von Gablonsky kein pünktlicher Zahler sei. Ziegrist riet, daß man ihm die Mühe, die Nadel zu versetzen, ersparen möchte.

Die Herzogin war höchlich belustigt. Ziegrist müsse über dieses polnische Geschwisterpaar noch mehr in Erfahrung bringen. »Die Kleine hier mag aber nun zu ihrer 177 Mutter zurückkehren!« Damit sprach sie das erlösende Wort, auf das Thekla schon längst gewartet hatte.

Das junge Mädchen wurde in der Folge noch einigemale aufgefordert, zur Herzogin zu kommen. Ganz wie beim ersten Male durfte sie anfangs mit der alten Dame eine Weile zusammen sein, dann erschien Herr von Gablonsky, sie zu begleiten.

Der Pole begann neuerdings, sich in die Unterhaltung zu mischen, ja einmal versuchte er es, den Damen starke Liebenswürdigkeiten an den Hals zu werfen; jedoch kam er damit nicht weit. Man gab ihm zu verstehen, daß er allein zur Klavierbegleitung gebeten sei.

Es bedeutete eine angenehme Überraschung für Thekla, als ihr eines Tages durch einen Lakaien mitgeteilt wurde, sie brauche die Noten nicht mitzubringen, solle sich aber zu einer Ausfahrt im offenen Wagen ankleiden. Die Herzogin liebte Abwechselung. Der Hofmarschall aber in seiner Verlegenheit, neue Zerstreuungen zu beschaffen, hatte vorgeschlagen, Ausfahrten in die umliegenden Dörfer zu unternehmen.

Frau Sänger, die eigentlich schon an Rückkehr gedacht hatte, da ihre Kur beendet war, gab noch etwas Zeit zu; es that so wohl zu sehen, welcher Ehren ihr Kind gewürdigt wurde.

In ihren Briefen an den Finanzrat ließ sie ihrer Befriedigung freien Lauf.

Die unmittelbare Folge davon war, daß der Finanzrat schrieb, er habe sich Urlaub erbeten und werde zu ihnen kommen.

So trat er denn eines Tages in dem Kurorte auf, angethan mit einem neuen, grauen Cylinder, den seidengefütterten Sommerüberzieher auf dem Arme, die Hände in strohgelben Handschuhen, in seinen engsten Lackstiefeletten.

178 Auch ihm schmeichelte es nicht wenig, daß Thekla in direkte Beziehungen zum Hofe getreten war. Er fühlte sich als Stiefvater dieses Kindes und war geneigt, sich selbst ein Verdienst um diesen Erfolg zuzuschreiben.

Sein Hauptbestreben war, sich der Herzogin Witwe bemerklich zu machen. Früh am Morgen war er schon in der Nähe des Schlosses anzutreffen. Wenn er in den Anlagen saß, seine Zeitung lesend, schielte er mit einem Auge stets über das Blatt hinweg, ob nicht irgend etwas von Ihrer Hoheit zu erblicken sei. Aber mit Ausnahme eines Lakaien, der eine Tasche zur Post trug, kam ihm niemand vom Hofe in den Wurf. Eine tiefgehende Erregung bemächtigte sich seiner, als Thekla abermals zu einer Ausfahrt mit der Herzogin aufgefordert wurde. Er kleidete sich daraufhin besonders feierlich an, als sei er selbst der Geladene.

Als das junge Mädchen am selben Nachmittage auf dem Rücksitze einer Hofequipage der Herzogin und Frau von Ziegrist gegenüber saß, lachte die alte Dame plötzlich vergnügt auf – wie sie es that, wenn ihr etwas Komisches in's Auge fiel. Sie rief: »Wer war denn dieser alte Geck? Hat man je etwas Possierlicheres gesehen!«

Thekla sah sich um, und erblickte ihren Stiefvater, der am Wege stand und mit tiefabgezogenem Hute dienerte. Sie errötete, mehr für ihre Mutter als für sich selbst. Noch nie zuvor war ihr beigekommen, daß ihr Stiefvater auch als Narr aufgefaßt werden könne. Sie war froh, daß man ihre Beziehungen zu dem »alten Gecken« nicht erkannt hatte.

An einem Zwischenfalle wie diesem konnte sich die alte Dame lange belustigen. Stets wollte sie etwas Unterhaltendes sehen oder erleben. Das Weltgetriebe war ihr eine Komödie, der sie von der Hofloge aus beiwohnte. Aber 179 sie war dabei durchaus nicht blasiert. Ein Hund, der eine Katze in einen Obstbaum hinaufjagte, konnte sie ebenso amüsieren, wie ein alter Bummler mit roter Nase, zerrissenen Schuhen und abenteuerlichem Hute. Auch ein gut Teil Naivität hatte sich die Greisin bewahrt. So wunderte sie sich beständig, daß es in den Dörfern, durch die man kam, gar keine Bauern gäbe. Sie hatte bei verschiedenen Gelegenheiten ihres langen Lebens Bauernfestlichkeiten beigewohnt, die ihr zu Ehren veranstaltet worden waren. Sie wußte also, was Bauern seien. Diese Leute trugen Hüte mit Blumensträußen und Bändern, Kniehosen und weiße Strümpfe. Davon war aber hier nichts zu sehen, und sie klagte, daß es in dieser Gegend gar keine Bauern gäbe.

Dies sollte übrigens Theklas letzte Ausfahrt mit der Herzogin gewesen sein. Die alte Dame, deren Aufenthalt auf Schloß »Uhlenstein« ursprünglich für den ganzen Sommer berechnet gewesen war, änderte ihre Dispositionen in einer ihrer jähen Launen, und zog mit ihrem Hofstaate plötzlich nach einem andern Sitze.

Der Finanzrat sah darauf keinen vernünftigen Grund mehr, hierzubleiben. Auch bei Sängers wurde die Abreise nunmehr festgesetzt.

 


 


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