Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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II.

In der ersten Zeit, nachdem Theklas Mutter geheiratet hatte, sah die Familie nur wenig Freunde bei sich. Man war zunächst zu sehr mit der Ordnung des gegenseitigen Verhältnisses beschäftigt, um an Geselligkeit zu denken. Aber nun, wo die Dinge eine festere Form angenommen hatten, legte Sänger die Absicht an den Tag, gesellig zu leben.

Diesem Wunsche kam die Neugier der Freunde entgegen, zu sehen, wie die frisch gebackenen Eheleute wohl mit einander auskämen, ob sie zärtlich seien, wer das Regiment führe, wie die Stiefkinder behandelt würden, und ähnliche hochinteressante Fragen.

Die Wißbegier sollte Befriedigung finden. Sängers machten Besuche.

Vor dem Vorwurfe der Vergnügungssucht wußte der Finanzrat sich zu schützen. Thekla war ja längst dran zum Ausgehen. Sänger sagte es jedem, der es hören wollte, daß er allein seiner Stieftochter zu Liebe sich in die Geselligkeit stürze. Es sei eine große Unbequemlichkeit, die er sich des Kindes wegen auferlege, aber er halte es für seine Pflicht, da er doch nun einmal der Stellvertreter seines verstorbenen Freundes Lüdekind geworden sei.

Lilly Ziegrist rümpfte zwar die Nase darüber, daß Thekla nicht am Hofe ausgeführt werde. Sie sprach von »zweiter Gesellschaft«, und bedauerte Thekla, daß sie von vornherein in eine ganz »schiefe Position« komme. Sie würde niemals ein »Sort« machen auf diese Art.

Thekla nahm sich das nicht allzu schwer zu Herzen. Die Dinge, welche ihrer Freundin Lilly als höchstes Ideal 145 vorschwebten, suchte sie gar nicht. Vor allen wollte sie flott tanzen, denn davon hatte sie seit der Tanzstunde sehr wenig gehabt.

Die Vorbereitungen allein schon, das Aussuchen der Toiletten, das Anprobieren und die Einkäufe, waren eine Freude für sich, die sie als etwas völlig Neues genoß. Dann das Besuchefahren. Man lernte eine Menge Menschen und Häuser kennen. Sie knüpfte Beziehungen zu jungen Mädchen von neuem an, die sie in der Schule und im Konfirmationsunterricht kennen gelernt hatte. Die meisten ihrer Altersgenossinnen waren bereits ein oder gar zwei Winter ausgegangen. Man fand es sehr richtig, ja dringend notwendig, daß sie nun auch ausgeführt werde, und deutete an, daß sie manches nachzuholen haben werde.

Und nun liefen die ersten Einladungen ein. Welche Aufregung! Auf einem Balle sollte Thekla eingeführt werden. Endlich würden sich auch ihr die Pforten aufthun jener wunderbaren Welt, genannt »Gesellschaft«, von der sie soviel Widersprechendes gehört und gelesen hatte. Thekla erwartete sehr viel. Nun würde das Leben erst eigentlich beginnen! Jetzt erst trat sie in die Zahl der erwachsenen Menschen ein. Was war man, wenn man noch keinen Ball mitgemacht hatte? Nicht viel mehr als ein Backfisch! Dame »wurde« man doch erst, wenn man in Gesellschaft ging. Wie eine zweite Konfirmation kam es ihr vor, was ihr bevorstand, ohne die Weihe der eigentlichen, aber doch von großer Bedeutung. Ja, es war ein wichtiger Augenblick ihres Lebens.

Und das Verhalten der Erwachsenen bestärkte sie in der Annahme, daß sie außerordentlichen Erlebnissen entgegengehe. Es wurde zu Haus kaum noch von etwas anderem gesprochen, als von dem Balle. Die Mutter gab Ermahnungen und korrigierte jetzt häufig an Theklas 146 Haltung und Benehmen. »Das und das darfst du in Gesellschaft nicht thun oder sagen,« hieß es, »das ist nicht Mode!« oder »das sieht dumm aus!« wohl auch »das ist nicht mädchenhaft!« Der Stiefvater ließ es an guter Lehre nicht fehlen. Nicht zu frei dürfe eine junge Dame auftreten, sonst gelte sie leicht als kokett, aber auch wiederum nicht zu schüchtern, sonst werde sie für einfältig gehalten. Zu oberflächlich solle man nicht sein in der Unterhaltung, aber auch nicht zu gelehrt und gründlich, denn das ermüde. Kurz immer den rechten Mittelweg! »Und vor allem laß das eine nicht außer Acht, Thekla, denn das ist die Quintessenz: immer weiblich! Euer schönster Schmuck ist doch die echte Weiblichkeit!«

Der Erfolg von so vielen guten Lehren war, daß Thekla den Dingen, die da kommen sollten, mit einer gewissen Befangenheit und Unruhe entgegensah. Die Herren schienen doch furchtbar kritisch zu sein und sehr viel zu verlangen. Ob sie genügen würde? –

Sie musterte ihr Gesicht jetzt manchmal vor dem Spiegel, mit anderen minder gleichgiltigen Blicken, als sie es vordem zu thun gepflegt hatte. Sie war in dem Bewußtsein aufgewachsen, nicht gerade häßlich zu sein. In der Klasse hatte sie ja sogar zu den anerkannten »Schönheiten« gezählt. Aber was verstanden Mädchen schließlich davon! Würde sie auch im Ballsaale bestehen? Lilly Ziegrist war der Ansicht gewesen, daß Thekla eine »Figur« habe, und es schien ihr fast selbst so, wenn sie beim Aus- und Ankleiden einen Blick in das Glas warf. Aber ihr Gesicht! War das hübsch? Man hatte darüber selbst so wenig Urteil, man kannte sich so genau. Wie konnte das, was einem so alltäglich und uninteressant vorkam, anderen besonders gefallen? Sie unterwarf ihre Züge einer genauen Musterung, wie man sich das Gesicht eines fremden 147 Mädchens betrachtete. Mit manchem darin konnte sie zufrieden sein. Sicher konnte niemand schönere Zähne und reinere Farben besitzen, als sie. Aber Ella Bartusch zum Beispiel hatte eine feinere Nase, und dann die dunklen Augen mit den langen Wimpern, die sie so interessant fand an der Freundin. Ach, davon konnte sie bei sich nichts entdecken! Wie ihre Augen in Wahrheit seien, das wußte sie gar nicht, denn sich selbst im Spiegelbild in die Augen zu blicken, davor schämt man sich doch! Überhaupt – das war eine von jenen rätselhaften Erscheinungen, denen man besser nicht nachdachte, weil sie verwirrten – sie schämte sich des eigenen Körpers.

Als sie dann zum ersten Male das Ballkleid an hatte, und das merkwürdig kalte Gefühl der entblößten Schultern und Arme fühlte, das feine, knisternde Rauschen des Kleides und der Röcke hörte, dazu das künstliche Gebäude einer hohen Frisur, von der Friseuse sachgemäß hergestellt, und Puder, den ihr die Mutter im letzten Augenblick auf Wangen und Nase gethan, um ihre »lebhaften Farben« etwas zu dämpfen, kurz nachdem alles an ihr vollendet war, eine Arbeit, die Stunden in Anspruch genommen hatte, kam sie sich so fremd vor, so beängstigend fremd. Sicherlich das war nicht sie, nicht Thekla Lüdekind, diese große, elegante Dame, von der ihr der Stehspiegel im Salon ein glänzendes Bild vortäuschen wollte.

»Du siehst allerliebst aus, mein Kind,« raunte ihr Frau Sänger zu und küßte sie. Es machte fast den Eindruck, als sei die Mutter gerührt. Und auch der Stiefvater gab seinen Segen, indem er beifällig schmunzelte und behauptete, Thekla sähe ihrer Mutter ähnlich.

Dem jungen Dinge war so ernst und feierlich zu Mute, gar nicht als solle es zu einem Vergnügen gehen. Man machte soviel Wesens von ihr, sie war auf einmal die 148 Hauptperson geworden. Die Eltern schienen stolz auf sie. Man erwartete soviel von ihr. Geradezu angst werden konnte einem! Wenn sie nun nicht gefiel! Wenn sie vielleicht gar nicht tanzte. Wie enttäuscht würde da die Mutter sein! Am liebsten wäre sie gar nicht gegangen. Als ob sie zu einem Examen müsse oder etwas ähnlich Schrecklichem, kam es ihr auf einmal vor.

Nach einer Wagenfahrt, bei der sie sich in dem ungewohnten Kleide erst recht unbehaglich fühlte, betrat sie, verzagten Herzens und auf ein sicheres Durchfallen gefaßt, den Ballsaal. Hier benahmen ihr die starken Eindrücke von Licht, Stimmendurcheinander, Farben, Duft und menschlichen Gesichtern geradezu den Atem. Vor ihren geblendeten Sinnen verschwamm alles in einem großen Chaos. Erst wurde sie von ihrer Mutter herumgeführt bei den »Müttern«; denn die zu begrüßen sei das Wichtigste. Mechanisch machte sie ihre Verbeugung, mechanisch antwortete sie auf die an sie gerichteten Fragen. Dann brachte ihr Stiefvater einen Herren zu ihr, den Vortänzer, der brachte wieder neue Herren herbei. Eine Tanzkarte wurde ihr in die Hand gedrückt. Zehnmal hintereinander und mehr erklang die Frage: »Haben gnädiges Fräulein noch einen Tanz frei?« Und nun begann ein Verhandeln und Vergleichen der Herren mit ihr und den Herren unter einander, bis alles klappte und ihre Tanzkarte besetzt war.

Dann erklang der erste Geigenstrich, und Thekla flog durch den Saal. Ihre Sorge, daß sie das Tanzen verlernt habe, erwies sich als unbegründet. Sehr schnell war sie in dem Rhythmus wieder drin. Und es war doch etwas ganz anderes jetzt, als damals bei der Sandrini, auf einem guten Parkett, bei richtiger Tanzmusik, im Arme eines wirklichen Herrn, überhaupt auf einem Balle. Und von da an rollte alles gleichsam von selbst ab. Man mußte nur 149 Zutrauen fassen, es war gar nicht so schwer. Auch die Unterhaltung ging besser, als sie gedacht hatte. Die Herren redeten meist sehr lebhaft. Nach einigen Tänzen allerdings schon machte sie die erstaunliche Entdeckung, daß sie alle so ziemlich dasselbe sagten.

Bei Tisch saß sie mit einer Anzahl anderer junger Leute, Herren und Damen, an einer besonderen, kleinen Tafel, welche der Vortänzer belegt hatte. Man gab ihr zu verstehen, daß sie, wie sie hier beisammen säßen, die Crême seien der Crême.

»Halten Sie sich nur immer zu uns, Fräulein von Lüdekind,« sagte ihr nach dem Souperwalzer eine von den jungen Damen. »Wir sind fast alle adelig, oder doch wenigstens Offizierstöchter! Die besseren Elemente müssen zusammenhalten. Mit Kaufmannstöchtern zum Beispiel soll man sich nicht einlassen. Und mit solchen Herren, wie der junge Hepmeier, dürfen Sie nicht wieder tanzen. Sein Vater ist getauft worden. Aber das konnten Sie doch nicht wissen!«

Thekla mußte erfahren, daß sie noch mancherlei zu lernen habe. Es gab da Finessen, von denen man, wenn man nicht eingeweiht war, kaum eine Ahnung haben konnte. Ähnlich wie einstmals in der Klasse war es: eine Anzahl Mädchen hielt zusammen und blickte auf alle anderen, nicht zu ihrer Clique gehörigen, mitleidig überlegen herab. Auch bestanden gewisse Gesetze und Regeln, die darum nicht minder streng beachtet wurden, weil sie nirgends aufgeschrieben waren. Es gab Geheimnisse, in die man eingeweiht wurde unter dem gewichtigen Versprechen, sie heilig zu wahren. Und was für harmlose Geheimnisse waren das zumeist? – Es gab Anekdoten, Neckereien, Verschwörungen und Intriguen. Es gab einige Mädchen, die den Ton angaben. Und auch einige räudige Schafe 150 waren da, um Freude und Triumph der anderen vollkommen zu machen, die hielten sich von der Herde abseits und waren der allgemeinen Verachtung preisgegeben.

Dieses wenig beneidenswerte Los teilten die Schwestern Kalkmeyer, die Thekla nur zu gut von der Klasse her kannte. Sie hatten nicht an Schönheit zugenommen seit jener Zeit. Niemand wußte eigentlich recht, warum sie ausgingen, denn sie waren stets schlechter Laune und betrugen sich schnippisch und gereizt gegen jedermann. Es ließ sich nicht entscheiden: waren diese Mädchen so unliebenswürdig, weil sie schlecht behandelt wurden, oder wurden sie so schlecht behandelt, weil sie unliebenswürdig waren? – Sie tanzten nur bei größtem Damenmangel.

Aus einer Art von kameradschaftlichem Gefühle heraus, das sie für jedes Mädchen, das Fräulein Zuckmanns Schule besucht hatte, empfand, versuchte es Thekla, mit Helene und Marie Kalkmeyer auf freundschaftlichen Fuß zu kommen. Aber dieser Versuch scheiterte an dem Hochmut der beiden. Sie fühlten sich als Töchter ihres Vaters, der inzwischen zu hoher Stellung im Kultusministerium befördert worden war. Genau wie ehemals in der Klasse hielten sie sich für berufen, auch im Ballsaale die Moralwächter zu spielen. Thekla bildete einen Gegenstand großer Entrüstung für diese Mädchen. Sie war leichtsinnig und hoffährtig; denn wie wäre es sonst zu erklären gewesen, daß Fräulein von Lüdekind in einem fort tanzte, und daß sie in einem fort saßen? Das konnte doch nur an der Koketterie liegen, mit der diese junge Dame, wie die meisten anderen, die Herren an sich zu ziehen wußte. Die einzig Tugendhaften waren sie: Helene und Marie Kalkmeyer. Aber die Männer ließen sich ja leider immer vom hohlen, gleißenden Scheine anziehen und verachteten das gediegene Gold der echten Sittsamkeit!

151 Nach einigen Wochen schon fühlte sich Thekla in dem geselligen Treiben gänzlich heimisch. Sie kannte nun eine große Anzahl von Leuten und lernte bei jeder Gelegenheit neue kennen. Und sie kannte sie nicht allein mit Namen, sie sprach zu ihnen, grüßte sich mit ihnen auf der Straße, kannte ihre Eigentümlichkeiten, ihren Leumund, wie sie untereinander verwandt waren, ob sie reich seien oder arm, und was sie in der Welt vorstellten. Kurz, das junge Mädchen nahm teil an den intimen Beziehungen, den Interessen, dem Klatsch eines großen Kreises, der ihr bis vor kurzem völlig fremd gewesen war.

In dieser Zeit erhielt sie einen Brief von Gabriel Bartusch, der freilich auf eine ganz andere, ernstere Tonart gestimmt war. Von Arbeit schrieb er und Studien. Verkehr habe er keinen, wenigstens nichts was diesen Namen verdiene; wünsche sich auch keinen. Die Gegenwart sei dunkel; und er würde dieses elende Dasein von sich werfen als wertlos, wenn er nicht den Schimmer einer Hoffnung hätte für die Zukunft. Was für eine »Hoffnung« er meine, sagte er nicht.

Thekla verspürte etwas wie schlechtes Gewissen, als sie eines Morgens, nach einer langen Ballnacht noch im Bette liegend, diesen Brief erhielt. Sie sah Gabriel im Geiste in angestrengtester Arbeit, ohne Freunde, ohne Erholung, halb verzweifelt. Von ganzem Herzen that er ihr leid. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie selbst das Leben so leicht nehmen konnte.

Es war schwer, ihm auf diesen Brief etwas zu antworten. Sie hatte ja versprochen, ihm zu schreiben. Aber konnte sie ihm die tausend Nichtigkeiten berichten, in denen sie jetzt stand? Welches Kleid sie vorige Nacht getragen, wer sie zu Tisch geführt, mit wem sie den Cotillon getanzt! –

152 Ihre Antwort fiel sehr mager aus; eigentlich war es nur eine Ermahnung an ihn: brav zu sein, und der Lohn werde schon nicht ausbleiben. Als sie ihren Brief durchlas, fühlte sie selbst, daß er unbedeutend sei. Sie glaubte Gabriels spöttische Miene zu sehen beim Lesen. Gleichviel! Es war so immer noch besser, als wenn sie etwas geschrieben hätte, was sie nicht empfand und was er hätte mißverstehen können.

Eine erstaunliche Entdeckung an sich selbst machte Thekla in dieser Zeit; sie fand, daß sie in Gesellschaft eine ganz andere Person sei, als sonst im alltäglichen Leben. Sie sprach anders, sie bewegte sich anders, ja sie glaubte, daß sie ein anderes Gesicht habe dort als daheim. Man lachte über Dinge, über die gar nicht zu lachen war, man redete über Sachen, die einem gar nicht am Herzen lagen, man war befangen, geziert, bald unnatürlich zurückhaltend, bald unnatürlich lustig, und alles das ohne irgendwelchen vernünftigen Grund.

Was war das eigentlich? Warum that man das? That man's den anderen Mädels nach? Auch die Herren schlugen meist einen gespreizten lauten Ton an. Wozu spielte man sich diese Komödie vor? Konnte man sich dagegen nicht auflehnen? Sie wollte es versuchen! Aber ehe sie sich's versah, war sie wieder mitten drin in dem Ton, der ringsum alles beherrschte.

Wäre sie auf gesellschaftlichen Erfolg sehr erpicht gewesen, wie einige ihrer Bekannten es waren, so hätte Thekla zufrieden sein können; ihre Tanzkarte war immer im Nu gefüllt, und an Extratouren und Cotillonbouquets fehlte es ihr nicht. Und trotz alledem fühlte sich das junge Mädchen eigentlich nicht befriedigt. Im Augenblicke selbst machte ihr dieses Treiben ja Spaß, ja sie hatte oftmals ein starkes Gefühl des Triumphes, aber die 153 hochgespannten Erwartungen auf das Außerordentliche, das sie erleben würde, hatten sich nicht erfüllt.

Es war doch etwas Ernüchterndes auf dem Grunde all dieser Faschingsfreude. Das, was Vergnügen sein sollte, glich manchmal fast einem Geschäft. Man betrieb es wie Sport. Eigentlich das Widersinnigste, was man sich denken konnte. Von einem wirklich erhebenden Glücke war keine Rede. Von Herzen froh wurde man nicht dabei, und besser erst recht nicht.

Es war für das junge Mädchen ein Glück, daß sie Erholung und Anfrischung haben konnte, so oft sie ihrer bedurfte, bei Tante Wanda. Mit ihr durfte man über alles sprechen, auch über Ballerlebnisse. Wanda Lüdekind war in ihrer Jugend selbst eine flotte Tänzerin gewesen und machte kein Hehl daraus, daß sie mit achtzehn Jahren nicht viel anderes im Kopfe gehabt habe, als: Toilettensorgen, Tanzengagements und Cotillonflitter. Sie ersah aus den eifrigen Erzählungen ihrer Nichte, daß die Welt in den vierzig Jahren, die seitdem verflossen waren, auch nicht viel anders geworden war. Daß Thekla gehuldigt werden würde, hatte Wanda Lüdekind erwartet; aber mit Genugthuung sah sie aus allem, was Thekla auskramte, daß sich das Mädchen den Kopf nicht hatte verdrehen lassen. Die Tante war nach dieser Richtung hin nicht völlig frei gewesen von Sorge. Sie wußte, wie es in Gesellschaft zugeht, wieviel Berechnung auf die jungen Dinger lauert, die ahnungslos zum ersten Male ihre weißen Schultern im Lichte des Tanzsaales ausstellten.

Sie achtete darum mit aufmerksamem Ohre, ob aus den Erzählungen Theklas ein Ton klänge, der ihren Argwohn bestätigen konnte. Aber sie hörte weiter nichts heraus, als jugendlich arglose Freude an den bunten Erlebnissen.

154 Daß Thekla anscheinend so gänzlich aufging in diesen Dingen, erschien unbedenklich. Das würde im Laufe der Tage sich schon alles wieder zurechtrücken und in das richtige Verhältnis finden. Die Hauptsache blieb doch die Erkenntnis, daß das junge Mädchen in ihrem Gemüt durchaus heiter, harmlos und frei geblieben sei.

Wanda hatte richtig beobachtet darin: Theklas Herz war frei geblieben. Wohl bevorzugte sie gewisse Tänzer. Sie war sich dessen voll bewußt, daß dieser Herr angenehmer und netter sei, als jener. Der war hübsch, elegant und flott, jener häßlich und ungeschickt. Mit dem einen tanzte es sich gut, mit dem anderen floß die Unterhaltung besser. Aber im Großen und Ganzen waren ihr die Herren doch eine ziemlich dunkle, eintönige Masse geblieben. Sie kamen ihr manchmal vor, wie beim Spiele die Gegenpartei. Sie mußten eben da sein, sonst gab es keinen Spaß. Fast wie ein notwendiges Übel erschienen sie. Wenn man sich auch noch so gut mit ihnen unterhielt, in irgend welche tieferen Beziehungen, so wie etwa zu einer Freundin, trat man nicht zu einander. Man wußte ja nichts von ihnen, außer das, was sich im Laufe eines Diners oder einer Ballunterhaltung sagen läßt; und das war herzlich wenig. Was waren sie eigentlich anderes, wenn das Fest vorüber war, als Namen auf der Tanzkarte? – Wenn Tante Wanda sie gelegentlich fragte, was sie von dem oder jenem ihrer Tänzer halte, war sie in Verlegenheit um die Antwort. Sie dachte nie länger an einen, als er gerade bei ihr war.

* * *

155 Thekla war daher ziemlich verwundert, als ihre Mutter sie gelegentlich fragte, warum sie den Souperwalzer diesmal nicht mit Herrn von Deistel getanzt habe. Bis dahin hatte sie es für bloßen Zufall gehalten, daß dieser junge Herr sie einigemale gerade zum Souper engagiert hatte.

Herr von Deistel gehörte auch zu denen, die sie nur im Gesellschaftsanzuge kannte. Aus seiner Tischunterhaltung hatte sie sich nur soviel gemerkt, daß er Assessor sei und am Gericht arbeite. Er radelte mit Passion, machte sich aber nichts aus Jagd und Reiten. Von einer verheirateten Schwester, die hier am Orte lebe, hatte er auch gesprochen, bei ihr erholte er sich am Sonntag von dem Junggesellentisch der Woche. Daß er Forelle lieber esse als Lachs, hatte er gelegentlich auch verraten. Seinen Schnurrbart, den er nach der neuesten Mode gerade aufgebürstet trug, schien er mindestens ebenso zu verehren, wie seine langezogenen Fingernägel. Thekla fand, daß Herr von Deistel, abgesehen von einer etwas gezierten Sprache, die sie zum Lachen reizte, zu den Netteren gehöre, wohl vor allem darum, weil er so gut tanzte.

Gegen Schluß der Wintersaison machte Herr von Deistel Besuch bei den Sängers und wurde angenommen. Seine Schwester, die Frau eines Landgerichtsrats, lud Thekla und ihre Eltern zu einem kleinen Diner ein, wobei Herr von Deistel und sie die einzigen jungen Leute waren. In diesen Vorgängen fand Thekla nichts Außerordentliches. Auch der Umstand, daß die Einladung der Landgerichtsrätin von Seiten der Eltern sehr schnell erwidert wurde, öffnete ihr noch nicht die Augen.

Es kam daher wie ein Blitz aus heiterem Himmel für das junge Mädchen, als ihr Stiefvater sie eines Morgens nach dem Kaffee in sein Zimmer rief und ihr dort in 156 Gegenwart ihrer Mutter eröffnete: Herr von Deistel habe um ihre Hand angehalten.

Thekla hörte die Worte ganz deutlich, aber sie glaubte nicht, was sie vernahm. Es war ja unmöglich!

Wie konnte ein Mensch, der ihr ein völlig Fremder war, sie zur Frau haben wollen! Es kam ihr vor wie ein schlechter Witz, den man sich mit ihr erlaubte. Sie sah ihre Mutter fragend an, die nicht ohne Erregung schien, aber doch zu jedem Worte ihres Mannes beifällig nickte.

»Ein sehr wohlerzogener junger Mensch, dieser Herr von Deistel!« sagte der Stiefvater. »Ich habe mich genau nach ihm erkundigt. Man hört nur Gutes von ihm. Er ist im stande, eine Frau zu ernähren, hat, wenn ein Onkel stirbt, sogar noch ein Übriges zu erwarten. Die Familie ist sehr achtbar. Kurz, man kann dich nur beglückwünschen, Thekla!«

»Ja – aber ich kenne ihn doch gar nicht!« stotterte das junge Mädchen.

»Seit Monaten macht er ihr den Hof, und sie will ihn nicht kennen!« rief Sänger. »Komisches Mädchen! Wir haben euch doch genug Gelegenheit gegeben! Ich habe seinen Antrag längst erwartet.«

Thekla wußte in diesem Augenblicke wirklich nicht, ob sie weinen solle oder lachen. Sie mußte an Herrn von Deistel denken, ganz deutlich stand er vor ihr: sehr höflich, sehr korrekt, ein wenig geziert mit seinen runden, immer etwas erstaunten Augen. Und der hielt um sie an, der wollte – – nein, das war zu wunderlich! Das Komische in der Vorstellung überwog. Sie lachte hell heraus.

Aber Sänger nahm eine strafende Miene an und sagte im Tone der Entrüstung: »Mein Kind, ich finde dein Lachen geradezu frivol. Die Ehe ist eine heilige 157 Sache. Unser Familienleben, ja unsere ganze Gesellschaft ruht auf dieser Institution« . . . . Er verlor sich in einem nationalökonomischen Vortrag.

Endlich besann er sich, daß er auf's Bureau müsse. Ehe er ging, sagte er mit bedeutungsvollem Blicke zu seiner Frau: »Ernestine, ich überlasse dir das. Hier beginnt dein Amt!« Und Thekla machte er darauf aufmerksam, daß sie sehr thöricht zu nennen wäre, wenn sie diesen Antrag ausschlüge, einmal weil sie schwerlich einen besseren erwarten könne, und sodann, weil es eine Beleidigung sei für den Herrn. Es grenze an »Koketterie«, sich die Annäherung eines jungen Mannes gefallen zu lassen und ihm dann einen Korb zu geben.

Die letzten Worte hatten das junge Mädchen mehr getroffen, als alles, was er von der »Heiligkeit des Instituts« gesagt hatte. Sie eilte auf die Mutter zu. War das wahr? Hatte sie irgend etwas gethan, Herrn von Deistel anzulocken? Durfte man ihr »Koketterie« vorwerfen?

Frau Sänger suchte Thekla zu beschwichtigen. Die Vorwürfe des Vaters seien vielleicht etwas hart gewesen. Aber allerdings das könne sie nicht leugnen, auch sie habe geglaubt, Herr von Deistel gefalle Thekla, und daß sie ihm Eindruck gemacht habe, sei ja allen klar gewesen, die sie zusammen gesehen hätten. Ja sie, die Mutter, habe sich schon innig für ihr Kind gefreut, denn Herr von Deistel sei doch ein so reizender Mann und sein Antrag sehr ehrenvoll für die ganze Familie.

Thekla wußte nicht mehr, was sie denken solle. Also ihre Mutter hatte stillschweigend angenommen, daß sich die Tochter einen Bräutigam erobere. Und andere Leute schienen dasselbe gedacht zu haben. Jetzt wurde dem jungen Mädchen mit einem Male Verschiedenes klar: Blicke, Worte, kleine Zufälligkeiten, die doch keine gewesen waren, Bemerkungen 158 und Winke, die sie wohl gehört, aber ihrem eigentlichen Sinne nach nicht verstanden hatte. Brennende Scham überfiel sie bei dem Gedanken, wofür all die Menschen sie gehalten haben mußten.

Sie blieb lange in tiefes Nachsinnen versunken. Ihre Mutter wurde ungeduldig und meinte, daß man dem jungen Manne auf seinen Brief doch eine Antwort schuldig sei. Thekla hatte darüber schon gar nicht mehr nachgedacht. Die Frage ob sie »ja« oder »nein« sagen solle, war ja längst entschieden.

Sie wußte nichts von der Ehe, sie wußte überhaupt nicht viel vom Leben, aber das lebte als sicheres eingeborenes Gefühl in ihr, daß man mit diesen Dingen nicht scherzen solle. Viel, viel ernster nahm sie die Frage, als ihr Stiefvater, obgleich sie über die »Ehe« lange nicht so schön zu sprechen verstand, wie er. Der Instinkt lehrte sie, es war das Wichtigste im Leben der Frau.

Nein, sie kannte diesen Menschen wirklich nicht! Wenn sie hundertmal freundlich mit ihm gesprochen, scheinbar intim, so hatte das nichts zu bedeuten, ihr Herz war sich daran nicht des geringsten Anteiles bewußt. Wenn er das anders aufgefaßt, mehr darin zu sehen geglaubt hatte, so war das nicht ihre Schuld.

Die Mutter konnte das nicht verstehen. Sie sah eine ihr teure Hoffnung schwinden, die Gründe, welche ihre Tochter anführte, schienen ihr auf Einbildung zu beruhen. Sie klagte über die Unannehmlichkeiten, die es nun geben werde mit der Familie des Abgewiesenen. Die hatten mit dieser Partie jedenfalls schon wie mit einer abgemachten Sache gerechnet.

Dann fragte sie Thekla, ob sie überhaupt nicht heiraten wolle. Der Verdacht, daß das Mädchen etwa eine andere Neigung hege, war ihr plötzlich gekommen.

159 »Ich bitte dich, Mutter, quäle mich nicht!« bat Thekla, und begann zu weinen. Frau Sänger schüttelte unwillig den Kopf. Konnte man aus diesem Mädel klug werden!

Sie warf der Tochter Eigensinn vor und Ungehorsam. Ihre Eltern hätten nicht Mühe, nicht Kosten gescheut, sie in die Welt zu führen, ihr Bekanntschaften zu vermitteln, und nun sei der Erfolg, daß sie sich mit einer befreundeten Familie wahrscheinlich für alle Zeiten überwerfen würden.

Es gab dem jungen Mädchen einen Stich durch's Herz, die Mutter das sagen zu hören. Daß die anderen so dachten, war ihr nicht weiter verwunderlich, aber ein solches Urteil aus dem Munde der Mutter, kam ihr wie Erniedrigung vor. Hatte sie denn gar keinen Stolz? Fühlte sie denn nicht die Kränkung, die ihrem Kinde angethan war? Sie sprach von einem »ehrenvollen Antrage«. Das war doch geradezu Hohn! Ein Mensch, dem sie nicht das geringste Anrecht gegeben zu irgend welchen Hoffnungen. – Ein Mann, der ihr gleichgiltig war bis zur Lächerlichkeit. –

Jäh wurde sie aus ihrem Mädchentraume gerissen; die Wirklichkeit hatte davor keinen Respekt. »Liebe«, das Wort, das schon mehr als einmal bedeutungsvoll in ihr Ohr geklungen, war auch heute wieder gefallen. In Herrn von Deistels Brief hatte es gestanden; der Finanzrat hatte es mit einer Betonung gebraucht, als habe er einen Leckerbissen auf der Zunge. Thekla war es vorgekommen, als ob ein geweihter, unendlich geheimnisvoller Gegenstand von rohen Händen an's Tageslicht gezerrt würde.

Das Erlebte griff sie weit mehr an, als es anfangs geschienen. Ihre Eltern machten es ihr auch nicht leichter zu tragen. Der Finanzrat, welcher sich ja für einen besonderen Kenner der Frau hielt, hatte triumphierend schon 160 erklärt: er blicke seiner Stieftochter bis auf den Grund des Herzens, und was er dort ganz deutlich erkenne, sei ein Verlobungsring. Nun war er entrüstet, daß Thekla die Vermessenheit gehabt hatte, eine so witzige Behauptung zu widerlegen.

Eines Tages, als ihr die schlechte Laune und die Vorwürfe zu viel wurden, mit denen die Luft zu Hause jetzt geladen war, besann sich Thekla, daß sie ja noch ein zweites Heim besitze bei Tante Wanda! Daß sie an die nicht schon eher gedacht hatte!

Sie ging nach dem kleinen Hause, das ihr wie eine friedliche Bucht vorkam, in die sie sich nach schwerem Sturme retten durfte.

Es gab keine großen Erklärungen. Wanda Lüdekind erkannte auf den ersten Blick, daß die Nichte ihrer bedürfe. Fast schien es, als habe sie auf das Kind gewartet.

Natürlich mußte Thekla erst ihre Eltern fragen, ob sie für's nächste wieder zu Tante Wanda gehen dürfe. Sie erhielt ungemessenen Urlaub. Es schien, als lasse man sie zu Haus gar nicht ungern ziehen.

* * *

Bei der Tante bekam Thekla wieder ihr altes Stübchen im ersten Stockwerke, mit den hellen Tüllgardinen, den grünen Epheuranken im Tapetenmuster und der Stuckdecke mit Engeln, Fruchtgewinden und Füllhörnern aus weißem Gyps, die sie so gern im Halbschlaf betrachtete; alles so wunderlich altmodisch und traulich.

Die Tante ließ die Nichte für's erste ganz in Ruhe. Wollte das Mädchen sich mitteilen, dann wurde sie schon 161 von selbst kommen. Wanda gehörte nicht zu den Neugierigen. Thekla wußte ihr Dank für ihr Schweigen. Sie brauchte kein Mitgefühl. Allein die Thatsache, in Tante Wandas Gesellschaft sein zu dürfen, schuf ihr Linderung.

Die Luft war so gesund in dieser sauber und akkurat gehaltenen Häuslichkeit. Oft, wenn Wanda sie nur anblickte mit ihren klaren Augen und ihr ermutigend zulächelte, ohne ein Wort zu sagen, dann ward es dem jungen Dinge zu Mute, als streiche ihr eine unsichtbare Hand unendlich sanft über den Scheitel.

Wanda Lüdekind behandelte die Nichte neuerdings vielmehr wie ihresgleichen. Thekla schien nicht mehr für sie das unreife Wesen, das geleitet und gelegentlich gemaßregelt sein muß, sie trat ihr jetzt mehr wie eine Schwester gegenüber. Sie mochte wohl ahnen, daß Thekla in dieser letzten Zeit vom Ernste des Lebens berührt worden sei, daß sie nun auch zu der unsichtbaren Gemeinde der Frauen gehöre, die etwas erlebt haben. Darum konnte sie sie als gleichberechtigt anerkennen, als eine Leidensgefährtin.

Im übrigen war alles beim alten geblieben. Man konnte thun und lassen, was man wollte in diesem kleinen Eldorado, wenn man nur pünktlich war. Thekla betrieb ihren Gesang jetzt eifrig, den sie während der Ballsaison etwas vernachlässigt hatte. Abends las man, oder Wanda sah Gäste. Es war noch derselbe kleine Kreis von Freunden wie vormals.

Am häufigsten kam Reppiner. Wanda Lüdekind hatte zwar im Augenblicke gerade keinen Prozeß im Gange, zu dem sie seines Beistandes bedurft hätte, aber sie liebte es, Reppiners Urteil in tausend Dingen zu hören, die ihren regen Geist beschäftigten.

Das alte Fräulein hielt sich ein Blatt von ziemlich extremer Richtung. Sie war mit den regierenden Gewalten 162 sehr unzufrieden. Wäre es nach ihrem Kopfe gegangen, so hätte man eine fröhliche Revolution gemacht. Es freute sie, wenn sie las, daß die Leute irgendwo, fern oder nah, krawallierten. Sie war instinktiv immer auf Seite derer, die als »unruhige Köpfe« galten.

Mit Reppiner pflegte sie zu politisieren. Ihm trug sie all ihre Empörung über die Zustände vor. Warum ging es so ungerecht zu in der Welt? – Warum triumphierten überall Korruption, Borniertheit, Denkfaulheit? Warum gelangten Wahrheit und Freiheit nirgends zum Durchbruch?

Als echte Frau nahm sie alle Fragen höchst persönlich. Sie glaubte ihrem Blatt auf's Wort und wollte nichts von Reppiners stehender Antwort wissen, daß man den Fall kennen müsse, um ihn beurteilen zu können. Das müsse geändert werden, rief sie und drohte mit ihrer zierlichen Hand in die leere Luft hinaus. Ja, sie war im stande, den Freund für das gerade vorliegende Unrecht verantwortlich zu machen, weil er ihre Entrüstung nicht teilte. Der zuckte dann mit trübem Lächeln die Achseln; er war doch wirklich der letzte, der irgend welchen Einfluß auf den Gang der Dinge da draußen in der Welt hatte! –

»Ja, aber Sie sind ein Mann!« rief Wanda und blitzte ihn feindlich an. »Ihr seid an allem Unrecht schuld.«

»So!« erwiderte Reppiner komisch, »die Bibel behauptet, daß eine Frau den Sündenfall verschuldet habe.«

»Ach, Sie wissen ganz gut, wie ich's meine, Reppiner! Die Welt wird vom Manne regiert. Es sind eure Einrichtungen, in denen wir leben. Und sie sind miserabel genug! O, ich sollte nur ein Mann sein.«

»Ja, Sie säßen längst hinter Schloß und Riegel! Und wir können auch recht zufrieden damit sein, daß Sie 163 keiner von uns sind; dann gäbe es ein famoses Weib weniger.«

Wanda Lüdekind brauchte diese Art Entladungen wie das tägliche Brot. Wenn sie sich gründlich aussprechen konnte, dann erst fühlte sie sich wohl. Mit Doktor Beermann stritt sie sich über Medizin. Denn stets war sie anderer Ansicht als die Fachleute. Der alte erfahrene Arzt nahm ihre Eigentümlichkeit, Widerspruch zu üben um des Widerspruchs willen, mit gutem Humor hin.

Bedenklicher schien es dem Arzte, daß sie seine Ratschläge für ihre eigene Gesundheit mit Hartnäckigkeit in den Wind schlug. Beermann kannte sie und ihre ganze Familie seit Jahren. Und obgleich sich Wanda nicht untersuchen ließ – weil sie das ganz unerträglich fand – wußte er, daß ihre Lunge angegriffen sei; ein Leiden, an dem schon andere Lüdekinds zu Grunde gegangen waren.

Doktor Beermann ermahnte das alte Fräulein ernstlich, auf ihrer Hut zu sein. Die Badereisen im Sommer nützten ihr gar nichts, behauptete er. In der warmen Jahreszeit solle sie ruhig hier im Norden bleiben, aber im Winter müsse sie wärmere Klimate aufsuchen.

Wanda erklärte ihm frank und frei: was er rede, sei vollendeter Unsinn. Sie denke gar nicht daran, im Winter ihr warmes Nest zu verlassen, und wenn's zum Sterben ginge, wollte sie das wenigstens im eigenen Bette besorgen. Gegen solche Einwände war allerdings nichts auszurichten.

Das gespannte Verhältnis zwischen Wanda Lüdekind und den Sängers bestand nach wie vor. Seit Theklas Mutter die zweite Ehe eingegangen war, hatte Wanda ihre Schwelle nicht mehr übertreten. Sie vermied es, wenn es irgend sich machen ließ, den Namen »Sänger« überhaupt in den Mund zu nehmen. Thekla aber blieb, wenn sie 164 auch bei der Tante wohnte, doch natürlich im Zusammenhang mit den ihren.

Einmal kamen auch Agnes und Arthur, die Tante zu besuchen. Agnes war zu Ostern konfirmiert worden, und Arthur hatte wiedermal Ferien. Er näherte sich höheren Semestern und dachte mit Schrecken daran, daß er auch mal Examen machen müsse.

Jedenfalls hatten die beiden gehörige Instruktion von zu Haus mitbekommen, wie sie sich bei der Tante zu verhalten hätten. Arthur setzte Thekla in Erstaunen, durch die weisen und wohlgesetzten Reden, die er führte, und Agnes, die ein halblanges Kleid an hatte, trug Bedacht, ihre Beine in Ruhe zu halten, und nur zu antworten, wenn sie gefragt wurde.

Thekla hätte gern gewußt, wie ihre Geschwister der Tante gefallen haben mochten. Wanda äußerte nichts, sie lud auch die beiden nicht ein, worauf eigentlich wohl gerechnet worden war.

Es hatte nach wie vor den Anschein, als solle sie die einzige von ihrer Familie bleiben, seit der Vater gestorben war, die Gnade vor Wanda Lüdekinds Augen fand.

 


 


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