Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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VII.

Wanda Lüdekind kehrte in ihr Heim zurück, als auch im Norden der Winter zu weichen begann. Sie war befriedigt vom Erfolg ihrer Kur, behauptete, sich gekräftigt zu fühlen, und meinte, das müsse nun für lange aushalten. In der Einsamkeit der Fremde hatte sie sich allerhand Pläne ausgedacht, die nun zur Ausführung kommen sollten. Das alte Fräulein war voll Energie und Lebenslust.

Wenn man freilich Doktor Beermann hörte, dann sah man Wandas Befinden in anderem Lichte. Er hatte ihre Lunge untersucht und festgestellt, daß die Erkrankung, derentwegen er der Patientin die Luftveränderung vorgeschlagen, nicht aufgehalten worden sei. Der Kranken sagte er nichts über den traurigen Befund, aber er ließ die nächsten Freunde nun nicht mehr im Zweifel über seine Diagnose.

Es bedurfte einiger Zeit, ehe Thekla Doktor 224 Beermanns Worte in ihrem ganzen Gewicht zu fassen begann. Zu gewöhnen vermochte sie sich nicht an den Gedanken, der zu außerordentlich war für ihre Jugend, als daß er durch die Zeit seine Schrecken hätte verlieren können. Sie wußte ja, was der Tod bedeutete, denn sie hatte ihren Vater verloren; aber das war damals gekommen, wie ein Blitz unvermittelt. Aber war das, was sich hier vorbereitete, nicht viel, viel entsetzlicher noch. Die Auflösung eines lieben Menschen, der man mit wachen Augen beiwohnte! – Konnte sich Doktor Beermann nicht täuschen? Es gab, wie sie schon gehört hatte, manchen Fall, wo Patienten, nachdem ihnen der sichere Tod vorausgesagt worden war, erst recht genasen, dem medizinischen Gutachten zum Trotze.

Und Tante Wandas Erscheinung und ganzes Wesen gaben ihr scheinbar recht. Wer die klaren Augen und die energische Beweglichkeit der noch im Alter anmutigen Person sah, konnte sich schwer vorstellen, daß dieses lebensvolle Wesen unentrinnbarem Siechtum verfallen sein sollte.

Eine gewisse Genußfähigkeit und Freude am Dasein, die früher kein ausgesprochener Zug in Wanda Lüdekinds Natur gewesen war, fiel jetzt ihren Freunden an ihr auf. Sie wollte stets Gesellschaft haben und Unterhaltung. Wenn die Leute traurige Mienen zeigten, war sie ungehalten, sie verlangte, vergnügte Gesichter um sich zu sehen. Ihr Geist war reger denn je. Oft stellte sie eine ihrer paradoxen Bemerkungen auf, nur um Widerspruch herauszufordern. Sie beklagte sich, daß Reppiner, der früher solchen Fehdehandschuh willig aufgenommen hatte, jetzt so fürchterlich langweilig und stumpf geworden sei. Sie konnte nicht begreifen, was den Freund bedrücke.

Auch ihre Kranken- und Armenbesuche wollte sie in altgewohnter Weise wieder aufnehmen. Aber da mußte sie 225 doch merken, daß dies über ihre Kräfte gehe. Sehr erstaunlich war ihr das. Sie konnte sich die rätselhafte Erscheinung, daß der Körper nicht dem Willen gehorchen wolle, nur durch einen augenblicklichen Schwächezustand erklären, der bald weichen werde.

Und weil ihr das Alleinsein, das sie früher geliebt hatte, neuerdings unbehaglich war, fragte sie eines Tages die Nichte, ob sie nicht zu ihr ziehen wolle. Thekla zauderte keinen Augenblick, dem Wunsche der Tante nachzukommen. Zu Haus Urlaub zu erhalten, wurde ihr nicht schwer gemacht. Sänger klagte sowieso neuerdings ganz unverblümt, wie schwierig ein Hausstand mit zwei erwachsenen Töchtern sei.

Thekla zog also wieder zu Tante Wanda; diesmal allerdings nicht in ihr altes Stübchen mit den Rokokoengeln und Epheuguirlanden, sondern dicht neben das Schlafzimmer des alten Fräuleins, um, sobald diese des Nachts einen Wunsch äußerte, sofort zur Hand zu sein.

Doktor Beermann hatte eigentlich eine Diakonissin verlangt, aber Wanda Lüdekind wollte davon nichts wissen. »Ihr thut doch gerade, als ob ich zum Sterben krank wäre!« rief sie belustigt aus. Und da sie sich auch weiterhin standhaft weigerte, ein »fremdes Gesicht« um sich zu sehen, war der Arzt schließlich froh, in Thekla eine Persönlichkeit zur Pflege zu besitzen, die einer so eigensinnigen Kranken angenehm war. Man durfte vielleicht hoffen, daß das, was dem jungen Mädchen an Erfahrung abging, die Liebe ersetzen werde.

Theklas Aufgabe, wie sie ihr Doktor Beermann auseinandergesetzt hatte, war: vor allem die Patientin zu unterhalten und ihr das Dasein in jeder Weise leicht und angenehm zu machen. Darüber hinaus fiel dem jungen Mädchen das schwierigere Amt zu, die Patientin zu 226 bewachen, daß sie den Vorschriften des Arztes gemäß lebte. Ferner hatte sie die Korrespondenz der Tante zu führen. Da waren die vielen Bittsteller, die sich an das wohlhabende alte Fräulein heranzudrängen suchten. Früher hatte Wanda Lüdekind solche Gesuche selbst geprüft und je nach dem Falle abgewiesen oder erhört. Jetzt durfte das nicht mehr sein. Doktor Beermann hatte sein Veto eingelegt, jede Erregung solle von der Kranken ferngehalten werden. Da mußte denn Thekla auch hier einspringen, so gut sie es verstand. Die Bittsteller fuhren dabei nicht schlecht; denn das junge Fräulein von Lüdekind verband mit angeborener Gutmütigkeit die ganze Arglosigkeit und das leicht ergriffene Herz der Jugend.

So kam der Sommer heran. Thekla merkte kaum etwas vom Gange der Jahreszeiten. Vom Krankenzimmer in den kleinen Gartensaal, wo ihres Vaters Bild hing, von da in den Garten und wieder in's Haus zurück, das waren die Gänge, die sie Tag ein, Tag aus ohne weitere Abwechselung hatte.

Die Stadt wurde allmählich leer. Wer es erschwingen konnte, ging wenigstens für die Hundstage fort. Sängers waren in's Gebirge gegangen. Arthur blieb in der Universitätsstadt, um während der Ferien zu arbeiten. Auch von Ella sah Thekla jetzt so gut wie nichts.

Ihr einziger Umgang waren Tante Wandas Freunde. Doktor Beermann erschien täglich, und nicht viel seltener kam Reppiner. Das gemeinsame Interesse an der Kranken führte die drei Menschen einander näher.

Reppiner war für Thekla früher eine unverständliche, oft unheimliche Persönlichkeit gewesen; sie hatte eigentlich Tante Wandas Vorliebe für diesen Sonderling nie recht begriffen. Es war nicht Reppiners Sache, jedermann seine Gefühle zu zeigen. Er pflegte sich mit sarkastischen 227 Bemerkungen, oder mit einem bitteren Lächeln zu helfen, wenn ihn mal eine sentimentale Schwäche anwandeln wollte. Wanda Lüdekind verstand das. Menschen, die herbe Erfahrungen durchgemacht haben, fürchten sich vor nichts mehr, als vor dem Anscheine der Weichheit, zeigen sich lieber selbst stachelig, als daß sie zugeben, daß sie ein Stachel getroffen hat. Wanda blickte durch die rauhe Haut, die dieser Mann, wie mancher seiner Stammesgenossen, zum Schutze gegen widrige Verhältnisse sich hatte wachsen lassen, in den weicheren Kern seiner Natur hinein. Sie verstand es, die milden Seiten seines Wesens herauszulocken. In ihrer Gesellschaft wuchsen diesem Vereinsamten Lebensfreude und Zutrauen; ähnlich wie ein vor Kälte Erstarrter in der linden Atmosphäre eines gastlichen Heims den Gebrauch seiner Gliedmaßen wiedergewinnt.

Meist erschien Reppiner in den frühen Abendstunden, wo die Kranke am besten aufgelegt war, Besuch zu empfangen. Da nahm er dann Thekla das Amt, die Patientin zu unterhalten, ab. Es war wirklich rührend zu sehen, wie er jeden Tag etwas Neues zur Erheiterung des alten Fräuleins zu erzählen sich bestrebte. Er hatte es sogar zu einer gewissen Kunstfertigkeit gebracht im launigen Plaudern, und wer ihn da gehört hätte, ohne ihn sonst zu kennen, der würde ihn leicht für einen Causeur von Anlage gehalten haben. Wie wenig Reppiner zur Heiterkeit aufgelegt war, das merkte Thekla, wenn er, allein mit ihr, sich nach Wandas Befinden erkundigte; wenn sie ihm dann sagen mußte, daß der Husten wieder schlimmer sei, oder daß die Kranke vor Atemnot nur wenig Schlaf gehabt habe in der letzten Nacht.

Dem jungen Mädchen fiel es jetzt manchmal auf, daß die Tante nachdenklicher war, als ob sie sich mit ernsten Gedanken beschäftige. Eine Nacht war 228 besonders schlimm. Die Kranke konnte keine Ruhe finden; tiefe Seufzer entrangen sich ihrer Brust. Sie stöhnte, warf sich im Bett hin und her und bat, daß man ihr helfen möge. Zum ersten Male hatte Thekla das Gefühl, daß sich die Kranke ängstige. Das schnitt in's Herz. Wie furchtbar mußte die Macht sein, der sich eine Wanda Lüdekind beugte? – Thekla reichte der Kranken ein linderndes Mittel, das sie nur geben sollte im Falle unerträglicher Beschwerden. Darauf wurde es nach einiger Zeit besser. Die Kranke fiel in Schlaf, und Thekla konnte der alten Kathinka den Rest der Nachtwache überlassen.

Am nächsten Morgen, als das junge Mädchen spät erwachte, galt ihr erster Blick der Kranken. Sie fand Tante Wanda wach und fieberfrei. Thekla begab sich in ihr Zimmer zurück, um sich anzukleiden. Nach kurzer Zeit jedoch vernahm sie ein Klopfen am Bettrande, das verabredete Zeichen, sowie man ihrer bedürfen würde.

Die Augen der Kranken sahen sie tief und durchdringend am »Komm her, mein Kind, ich will dich etwas fragen! Setz' dich ganz nahe.«

Thekla mußte auf dem Bettrande Platz nehmen.

»Sage mir die volle Wahrheit! Von den anderen erfahre ich's doch nicht. Wie steht es mit mir? Werde ich sterben müssen?«

Thekla war auf diese Frage nicht völlig unvorbereitet. Doktor Beermann hatte ihr anbefohlen, falls sie gestellt werde, solle sie sagen: Hoffnung auf Genesung sei nicht ausgeschlossen. Der Arzt wußte aus Erfahrung, wie gerade auf starke Persönlichkeiten die Erkenntnis völliger Hoffnungslosigkeit vernichtend wirkt. Thekla sagte gehorsam das, was ihr in den Mund gelegt worden war, obgleich es ihr wie eine Sünde erschien.

229 Aber Tante Wanda schüttelte unwillig den Kopf und rief: »Glaub's nicht! Es ist unrecht von euch! Ich muß doch wissen, wie lange ich noch habe. Wichtiges hängt davon ab. Ich weiß, daß es mit mir zu Ende geht.«

Das Letzte wurde kaum hörbar gesagt. Für Thekla war es zu viel; sie bedeckte die Augen mit der Hand, um die hervorbrechenden Thränen zurückzuhalten.

»Ich wußte es!« sagte Wanda nach einiger Zeit und wandte ihr Gesicht der Wand zu. Thekla ging leise an's Fenster, blickte hinaus in das Grün der Bäume, und versuchte ihre Bewegung niederzuringen.

Als sie hörte, wie die Kranke sich regte, ging sie wieder zu ihr.

»Laß mir den guten Reppiner rufen!« sagte Wanda mit ruhiger Stimme. »Ich will meinen letzten Willen mit ihm durchsprechen.«

Reppiner kam und blieb mehrere Stunden, während deren sich Thekla, auf Wunsch der Kranken, im Garten aufzuhalten hatte.

Thekla sah Reppiner nur von weitem einen kurzen Augenblick, als er ging. Er schaute noch ernster und gedrückter drein als gewöhnlich.

* * *

Nun wurde doch eine Diakonisse angenommen zur Pflege. Wanda Lüdekind ließ es geschehen. Sie wehrte sich überhaupt gegen nichts mehr, seit sie erkannt hatte, daß einer bei ihr angeklopft habe, gegen dessen Finger alle Auflehnung umsonst ist.

230 Die Pflegerin, von Doktor Beermann selbst ausgesucht, war ein Wesen, das man im Leben wie im Sterben gern um sich haben mochte. Schwester Sabina war noch jung; einen wunderbaren Gegensatz zu ihrer ernsten Tracht gab ihr rosiges Gesichtchen ab. Ein halbes Kind, in dessen Züge das Leben noch nichts geschrieben hatte. Und so eine ging von einem Krankenlager zum anderen, von Sterbebett zu Sterbebett!

Theklas Herz flog dem gleichaltrigen Mädchen sofort entgegen. Es machte ihr tiefen Eindruck, zu sehen, mit welcher inneren Freudigkeit Schwester Sabina ihren schweren Beruf erfüllte. In den Weg kamen die beiden Mädchen einander nicht. Wenn auch die Diakonisse jetzt die Pflege übernommen hatte, so blieb doch Thekla die eigentliche Vertraute Wandas. Die Nichte war schließlich das einzige Wesen, für das die Sterbende noch lebendiges Interesse an den Tag legte. Mit vielem anderen schien sie abgeschlossen zu haben, als hätte sie durch ganze Gedankenkreise und Gefühlsgruppen einen Strich gemacht. Reppiner konnte ihr die schönsten Geschichten erzählen, die er zu ihrer Erheiterung aus den Zeitungen zusammensuchte, Wanda hörte kaum noch darauf.

Dafür waren andere Dinge wichtig geworden für sie. Sie lebte und webte jetzt ganz in alten Erinnerungen. Das weit Zurückliegende erhielt erneute Bedeutung, als ob sie im Angesicht des Todes Kraft suchen wollte und Erquickung bei dem was längst entschwunden war.

Thekla mußte aus wohl verschlossenen Truhen und Fächern, zu denen bisher niemand Zutritt gehabt als Tante Wanda selbst, Bücher, Hefte, Briefe und Photographien herbeiholen. Diese Dinge breitete dann das alte Fräulein vor sich aus und verkehrte mit ihnen, wie mit lebenden Wesen. Zum Lesen kam es nicht. Sie schien auch die 231 meisten dieser Briefe auswendig zu können. Es war mehr ein Durchblättern, ein Sich-in-Erinnerung-rufen verblichener Empfindungen, eine Rekapitulation des ganzen Lebens, ehe man endgiltig von ihm Abschied nimmt.

Die Sterbende schien ihren Schmerzen zum Trotze doch glücklich und heiter. Ihre Züge hatten etwas kindlich Sanftmütiges angenommen, das Gesicht verkleinerte sich zusehends, der früher schon überzarte Körper schien nur noch ein Gedanke zu sein. Sie lächelte jeden freundlich an, der an ihr Lager trat; dabei hatte man das Gefühl, kaum von ihr bemerkt zu werden. Ihr Geist schien sich mit Dingen zu beschäftigen, die in weiter Ferne lagen. Voll Sanftmut und Geduld ertrug sie ihr Leiden, alles war gut und schön, ihr ehemals so stark ausgebildeter, kritischer Sinn schien seine Schärfe völlig eingebüßt zu haben. Jetzt wo das Leben von ihr wich, brach jene Güte sieghaft durch, welche die wenigen Bevorzugten, denen Wanda Lüdekind Zutritt zu ihrem Herzen gelassen hatte, längst als den eigentlichen leuchtenden Kern ihres Wesens erkannt hatten.

Reppiner saß, wenn er kam, meist am Fenster mit trüber Miene. Er machte keinen Versuch mehr, seine Freundin mit Anekdoten zu erheitern. Manchmal fiel bei solchem Besuche kaum mehr als die im Flüsterton gesprochene Frage nach dem Befinden der Kranken, und schließlich wurde auch diese nicht mehr gestellt, weil man die Antwort längst wußte. Dann herrschte ein Schweigen, in dem man den kleinsten Laut im Hause vernahm, wo einem das Summen einer Fliege wie Lärm vorkam. Alles wurde beredt: die Dinge, der Raum, die laufenden Minuten; während die Menschen in banger Scheu vor dem Unsichtbaren verstummten.

Oft war es, als unterhalte sie sich mit jemandem. 232 Man sah, daß ihre Lippen sich leise bewegten, und daß ihre Augen mit jenem wunderbaren in's Weite sich verlierenden Ausdrucke, der Sterbenden eigen ist, nach oben gerichtet waren. Thekla meinte im stillen, sie bete vielleicht; obgleich Tante Wanda ja eigentlich niemals zu denen gehört hatte, die im Gebet ihre Zuflucht suchten.

Eines Tages rief Wanda Lüdekind die Nichte an ihr Lager. Thekla beugte sich über sie, um ihr das laute Sprechen zu ersparen. Durch eine Bewegung deutete Wanda an, daß sie ein wenig zurücktreten möge. Sie behielt die Hand des jungen Mädchens in der ihren und ließ das Auge voll auf ihr ruhen.

»Du siehst deinem Vater sehr ähnlich! Du bist wirklich sein Ebenbild!« sagte sie dann langsam. »Thue mir einen Gefallen, Kind! Bring mir sein Bild hierher! Ich will es immer vor Augen haben.«

Thekla holte Schwester Sabina herbei. Sie trugen gemeinsam das große Bild aus dem Gartensaal nebst der Staffelei, auf der es stand, heran, und stellten es so auf, daß die Kranke es ohne Beschwerde jederzeit betrachten konnte. Dann entfernte sich die Diakonisse schweigend.

»Und nun soll niemand mehr in dieses Zimmer kommen, der Doktor nicht, Reppiner nicht, auch die Schwester nicht mehr. Hörst du, Thekla!« rief Wanda in einem Tone, der an ihre alte Energie erinnerte. »Keine Fremden mehr! Ich will nun ganz allein sein mit dir und mit ihm!«

Das junge Mädchen wagte nichts dagegen zu sagen. »Richte mich ein wenig auf!« bat die Sterbende. Thekla that es in der Art, wie sie es der Pflegerin abgesehen hatte.

Lang ausgestreckt, das Haupt durch Kissen erhöht, mit gefalteten Händen, lag Wanda Lüdekind und betrachtete das Bild des Verstorbenen. Thekla hatte sich hinter das Kopfende des Bettes zurückgezogen.

233 »Du bist bei mir! – Ich habe dich nun!« hörte sie die Sterbende flüstern.

Der Arzt kam. Thekla ging ihm in den Flur entgegen und teilte ihm Tante Wandas Wunsch mit. Doktor Beermann meinte, man solle ihr jeden Willen lassen fortan, und ging. Später kam Reppiner. »Bin ich für Wanda Lüdekind ein Fremder?« fragte er bitter. Aber auch er ging.

Als Wanda sah, daß sie ganz allein seien, rief sie: »Thekla, mein Kind, willst du mir ein wenig zuhören!« – Das junge Mädchen machte Vorstellungen, daß sich die Tante doch nicht zuviel zumuten solle. »O, laß mich doch!« meinte Wanda, fast wie ein Kind in bittendem Tone. »Ich fühle mich so – ich weiß nicht – so leicht wie seit langem nicht. Das hat der dort gemacht!« Sie wies auf das Bild von Theklas Vater. »Heut will ich noch mal jung sein mit euch beiden.«

Ein Lächeln glitt über ihre Züge.

»Dein Vater konnte so lebenslustig sein, so von Herzen froh, wie ich nie wieder einen Menschen gesehen habe. Das kam, weil er so gut war. Nur reine Menschen können so glücklich sein und so beglücken.«

Sie verfiel in langes Schweigen; ihr Blick war auf das Bild vor sich geheftet. »Du sollst wissen, mein Kind, wie es zwischen mir und deinem Vater gewesen ist,« sagte sie dann. »Du bist jetzt soweit, daß du das verstehen kannst.« Und nun begann Wandas Beichte. Sie sprach mit schwacher Stimme, oft Pausen machend, aber doch für Thekla verständlich.

»Ich habe deinen Vater gekannt, als er noch ein Knabe war. Da war er mein kleiner Vetter, von dem ich Huldigung gern hinnahm. Ich glaube, er bewunderte mich damals sehr. Und ich – nun ich hatte andere Dinge und 234 andere Menschen im Kopfe. In der Jugend machen ein paar Jahre einen großen Unterschied. Ich war eine Dame und er noch lange kein Mann. Ich hatte den Knaben nur gern, weil er so offen war und so gutartig.

»Du weißt, daß ich eine schwere Jugendzeit durchgemacht habe. Meine Eltern starben kurz hintereinander, ließen mich allein. Furchtsam war ich ja nicht, aber ich war unerfahren. Ich will dir meine traurigen Erfahrungen nicht aufzählen. Die Menschen, die mich damals gekränkt haben, sind wohl alle nicht mehr am Leben. Mag ihre Schuld mit ihnen ruhen. Nur das eine: ich verlobte mich. Du wunderst dich! Das hast du nicht gewußt! Ja, mein Kind, ich bin einmal Braut gewesen. Mein Bräutigam? Nichts von ihm! Der Traum war kurz und fiel mit meinem Glauben an den Mann.

»Damals sollte ich erfahren, was es heißt, einen wahrhaften Freund besitzen. Dein Vater trat für mich ein. Ich selbst wäre nicht ruhig und klar genug gewesen, um mich aus solcher Verstrickung zu lösen. Das that Eberhardt Lüdekind für mich, that es in jener edlen, ritterlichen, selbstlosen Weise, die nur Männern eigen ist, welche Ehrfurcht haben vor der Frau. Er erklärte, nur für mich eingetreten zu sein, weil ich eine Lüdekind sei, und weil er es nicht dulde, ein Mitglied seiner Familie beleidigt zu sehen. Wir blieben Vetter und Cousine auch nach diesem Erlebnis. –

»Thekla, Frauenliebe ist anders geartet als Männerliebe. Wäre ich Mann gewesen, ich hätte meine Gefühle zeigen dürfen, ohne mich zu erniedrigen. Verschämtheit gilt für weiblich, ja, es soll eine Tugend sein; ich weiß es. Aber sie kann zum Schleier werden, der den Sonnenstrahl des Glückes nicht zu uns dringen läßt, so daß wir im Dunklen verblühen müssen.

»Eberhardt sah nicht, wie es in Wahrheit um mich 235 stand. Bei jeder anderen hätte er es gesehen; denn die Männer sind schnell von Begriffen in diesen Dingen. Mir gegenüber war er mit Blindheit geschlagen. Ich war ihm vertraut von Kindheit an; nichts Neues, Außergewöhnliches, Rätselhaftes, Verlockendes gab es an mir für ihn. Und ich selbst – nun ich war zu stolz, ihm auch nur einen Schritt entgegenzugehen. Und so blieb es zwischen uns bei der guten Kameradschaft.

»Und dann verlobte er sich und heiratete. Behaupten, ich hätte ihn einer Frau gegönnt, irgend einer Frau und wäre sie die beste gewesen, würde eine Lüge sein. Thekla, wir sind alle menschlich, sehr menschlich, wenn wir lieben. – Gehaßt habe ich deine Mutter nicht; davon kann ich mich frei sprechen. Ich habe mich sogar daran gewöhnt mit der Zeit, sie als Eberhardts Frau anzusehen. Ja, als der Augenblick kam – er mußte ja kommen – wo er von der, die er gewählt, Schätze verlangte, die sie nicht besaß, da stellte ich mich auf ihre Seite. Er hatte kein Recht zu Vorwürfen, da er sich als Mann sein Schicksal selbst bestimmt hatte. Denn nun gingen ihm die Augen mit einem Male auf, über vieles. Auch mich maß er mit anderen Blicken, wo er gelernt hatte, zu vergleichen.

»Und Schlimmeres war ihm noch aufgespart. Das Schicksal fing an, ihn zu zausen, man kränkte ihn, man schob ihn beiseite in seinem Berufe. Wehe dem Manne, dem in solchem Augenblicke nicht die rechte Lebensgefährtin zur Seite steht! Eberhardt kam zu mir, hilfesuchend, wollte bei der Freundin sein Haupt ausruhen. Da mußte ich ihm sagen, daß es zu spät sei, daß er gewählt habe. – So wehe habe ich ihm thun müssen! Aber viel, viel bitterer war mein Schmerz. Ich habe schwerer und länger zu tragen gehabt als er. Lange, ehe ihm eine Ahnung davon aufgegangen, wußte ich es: er war für 236 mich bestimmt und ich für ihn. Anstatt dessen sind wir aneinander vorübergegangen, haben uns um das Herrlichste gebracht, was das Leben für uns in Bereitschaft hatte.«

Wieder eine Pause. Die Sterbende seufzte tief. Dann mit visionärem Blicke:

»Aber das wird ausgeglichen sein, alles! Auch das wird von mir genommen werden. Er hat mir schon lange gewinkt.«

Wanda war am Ende ihrer Kräfte angelangt. Thekla reichte ihr ein wenig Eiswasser zum Labsal. Mit geschlossenen Augen und schmerzhaft verzogenen Zügen lag die Sterbende eine Weile. Die Atembeschwerden nahmen zu, erreichten einen Höhepunkt und ließen dann wieder langsam nach.

Als es vorüber war, lächelte Wanda der Nichte mit mattem Ausdrucke zu: »Das Sterben ist nicht so schwer, Kind, wenn man abgeschlossen hat. Ich habe abgeschlossen, als er ging.«

Das nächste kam dann in einzelnen, kurzen Sätzen heraus, bedeutungsvoll, knapp; wie Denksprüche, die sich dem Kinde einprägen sollten: »Halte dich tapfer! – Mut! Das Leben tragen ist alles! – Sich selbst getreu bleiben! – Es ist echtes Gold in dir, mein Kind, das suche zu Tage zu fördern. – Wenn dir einer begegnet, den du der Liebe wert findest, den halte fest über alles. Laß dich nie irre machen an einem Freunde! – Vor allem aber habe keine Angst! Das Leben ist nicht so wertvoll, wie es scheint, und das Sterben nicht so schwer, wie man denkt.« – –

Nach dieser letzten Kraftanstrengung sank die Kranke sichtlich zusammen. Thekla nahm sich zusammen. Das hier konnte sie ja nie vergessen; es war Tante Wandas Testament an sie. Aber jetzt durfte sie solchen Gedanken nicht nachhängen; der Zustand der Sterbenden erforderte 237 ihre ganze ungeteilte Aufmerksamkeit. Obgleich sie keine Erfahrung hatte, wußte sie doch wie durch Eingebung, daß sich hier die letzten Augenblicke vorbereiteten.

Wanda schlug die Augen groß auf. Es lag in dem Blicke, mit dem sie die vor ihr Stehende musterte, etwas Übernatürliches. Ihr Gesicht wurde maskenartig starr. Mit gespannter Aufmerksamkeit aller Sinne schien sie einem Etwas: einem Ton, einem Ruf, in weiter Ferne zu lauschen. Der Eindruck von Unerhörtem spiegelte sich in ihren Mienen.

Allmählich, ganz allmählich wich das Starre aus den Zügen. Das kleine Gesicht sah auf einmal so müde aus. Ein sehnsuchtsvolles Lächeln huschte wie ein Schatten darüber hin. »Bist du bei mir?« flüsterte Wanda, den Blick in's Weite gerichtet, und hob ihre wachsbleiche Hand wie zu zärtlichem Gruß. »Bleibe doch bei mir! Warum bist du so lange von mir gegangen? –«

Immer noch einmal veränderte sich das Gesicht. Die straff angespannten Partieen lösten sich. Heiter und unendlich sanft wurde der Ausdruck. Der Atem ging nur noch unmerklich wie ein schwacher Hauch. Sie lächelte, wie Kinder im Traume lächeln. Ein Seufzer aus tiefster Brust. Thekla beugte sich über das Bett, weil sie glaubte, die Sterbende habe noch einen Wunsch. Sie konnte das Flüstern nicht verstehen; nur zwei Worte fing sie auf: »Ich liebe . . .« Das war das Letzte.

Der Tod war so sanft über Wanda Lüdekind gekommen, daß das junge Mädchen im Zweifel blieb, ob es nicht Schlaf sei. Den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, die Hände leicht übereinandergelegt, so schlummerte sie anscheinend. Als sich Thekla endlich entschloß, die Ruhende zu berühren, merkte sie, daß der Körper schon im Erkalten begriffen sei.

238 Es war ja auch für Thekla klar gewesen in der letzten Zeit, daß es so kommen würde, und doch, als sie jetzt vor der Thatsache stand, wußte sie nicht, was damit anfangen. Thränen hatte sie noch nicht, der Schmerz schwieg, nur eine unsäglich bange Stimmung bemächtigte sich ihrer. Sie war allein gelassen in der Welt; weiter wußte sie nichts.

Rein mechanisch machte sie sich daran, das zu thun, wovon sie annahm, daß es in diesem Augenblicke das Richtige sei. Zunächst weckte sie die Diakonissin, die nach anstrengender Krankenwache endlich eine Nacht durch wieder geschlafen hatte. Schwester Sabina betrat das Sterbezimmer und nahm an der Leiche die nötigsten Handgriffe vor. Thekla sah ihr, daneben sitzend, wie geistesabwesend zu. Dann öffnete die Schwester das Fenster; der helle Tag drang in das Zimmer. Kathinka kam von einem Morgengange aus der Stadt zurück. Ihr standen die Thränen sofort zu Gebote. Wie Ungebildete häufig, schwelgte sie in einem Übermaß von Schmerzbezeugungen, warf sich heulend an der Leiche ihrer Herrin nieder, bis Schwester Sabina sie sanft aus dem Sterbezimmer entfernte, indem sie ihr auftrug, Doktor Beermann herbeizuholen.

»Haben wir keine Blumen?« fragte die Schwester. »Es sieht dann gleich viel freundlicher aus.« Thekla besann sich, daß Reppiner am Tage vorher, wie er oft gethan, einige Rosenknospen mitgebracht hatte. Von Thekla waren sie in Wasser gestellt worden, und nun fand man sie voll erblüht. Die wurden der Verstorbenen in die Hände gegeben.

Und wie sie nun die Tote betrachtete, die erhabene Ruhe dieses Bildes, die vertrauten und in ihrer Unbeweglichkeit doch so fremden Züge, die feinen, weißen 239 Hände, die nicht mehr fühlten, daß man sie geschmückt, da war es aus mit aller Fassung. Endlich konnte sie dort niedersinken, wo ihr Platz war. Und nun rannen die Thränen heiß und bitter, aber erlösend.

Dann kam Doktor Beermann, später Reppiner. Beide waren ernst und ergriffen. Reppiner wies ein Schreiben vor, von Wanda Lüdekind, das ihn zum Vollstrecker ihres Willens ernannte. Der Advokat fragte Thekla, ob sie ihm behilflich sein wolle, bei den nächstliegenden Anordnungen. Das junge Mädchen lehnte alles ab. Sie zog sich in das kleine Zimmer im ersten Stockwerk zurück, das sie ehemals innegehabt, und gab sich dort in der Einsamkeit ihrem Kummer hin. Was da unten vorging, wollte sie nicht sehen.

Reppiner fand Schlüssel, Wertsachen und Schriftlichkeiten genau an dem Orte, wo die Sterbende es in einem von ihrer Hand geschriebenen Verzeichnis angegeben hatte. Er verbrannte verschiedenes, anderes nahm er in Verwahrsam, wie es Wandas Bestimmungen entsprach.

Im Sterbezimmer standen die beiden Männer beisammen. »Sie sieht nicht aus, als ob sie schwer gelitten hätte,« sagte Reppiner mit gedämpfter Stimme, als glaubte er, die Tote könne noch etwas vernehmen.

Sie standen eine Weile in Ehrfurcht vor der Vollendeten. Die Züge der Leiche hatten schon jenes abgeschlossen Vornehme, ja Selbstzufriedene, angenommen, das uns mit Scheu vor diesem Einsamen erfüllt.

Dann wandte sich Reppiner seufzend ab. Man kann so furchtbar wenig sagen, wenn einen ein Verlust wirklich in's Herz getroffen hat. Alle Worte sind unzulänglich und klingen so falsch. Leicht klammert man sich dann, um nur Abziehung zu finden, an das Alltägliche.

»Wie alt ist sie eigentlich geworden?« fragte der Advokat.

240 »Dreiundsechzig!« war die Antwort.

»Dieser Mann muß ihr sehr nahe gestanden haben!« meinte Reppiner vor dem Porträt, das noch immer am Fußende stand, in Anschauung versunken. »Sie war ein Herz geschaffen zur Liebe.«

»Wissen Sie auch um diese alten Geschichten?« fragte der Arzt.

»Wanda sprach davon nicht; aber man fühlte es doch, wenn man sie kannte. Ich weiß nicht, trotz ihrer weißen Haare, hatte sie mir immer etwas wie eine Braut.«

»Das haben Sie richtig erkannt. Das Bräutliche war das eigentliche Geheimnis ihres Wesens!« meinte Beermann.

»Ich will sehen, ob ich irgendwo einen blühenden Myrtenzweig auftreiben kann, ihr den mitzugeben,« sagte Reppiner im Gehen. 241

 


 


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