Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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VI.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück rief Frau von Lüdekind ihre Tochter beiseite. Thekla könne ihr einen großen Gefallen thun, wenn sie sogleich zu Tante Wanda gehe. Sie möge der Tante von dem neuesten Familienereignis Mitteilung machen. Eigentlich hätte sie es ja selbst auch thun können, fügte die Witwe etwas hastig hinzu, aber Thekla stehe doch nun mal so gut bei der Tante; und wer weiß, die nehme es am Ende gar übel. Man wisse ja bei Wanda Lüdekind niemals recht, woran man sei.

Thekla that, wie ihr geheißen, holte zunächst Hut und Handschuhe. Die Witwe kam ihr nachgeeilt. »Höre noch eins, mein gutes Kind! Wenn dich die Tante einladen sollte – ich weiß ja nicht, ob sie es vorhat, aber 105 es wäre doch möglich – wenn sie dich also auffordert, bei ihr zu wohnen für einige Zeit, so nimm's an. Sie wollte dich ja schon früher immer haben. Und jetzt würde es gerade mal gut passen.«

So mit Instruktion versehen, begab sich Thekla zur Tante. Das gnädige Fräulein sei aus zu Armenbesuchen, versicherte Kathinka, Wanda Lüdekinds wichtigster Dienstbote, ein Mittelding zwischen Dienstmädchen, Jungfer und Wirtschafterin. Thekla beschloß also zu warten, denn die Aufträge, die ihr die Mutter gegeben hatte, konnte sie doch unmöglich Kathinka anvertrauen.

Sie wäre nur gar zu gern hier geblieben; dazu brauchte ihr die Mutter wahrlich nicht erst zuzureden. Schon früher einmal, als Arthur das Scharlachfieber gehabt, hatte Thekla einige Wochen bei der Tante verlebt.

Wie vertraut ihr die Räume waren! Wanda Lüdekind hatte, um die ewigen Nöte mit dem Hauswirte los zu sein, das Häuschen mitsamt dem Gartengrundstück angekauft. Sie hatte mehr Platz darin, als für ein alleinstehendes Mädchen nötig ist. Die Besitzung paßte auserlesen zu ihren Gewohnheiten und Bedürfnissen, und gab ihrer Persönlichkeit recht eigentlich den Rahmen, der zu ihr gehörte.

Das Häuschen lag etwas von der Straße zurück, hinter einem Kranz von alten Flieder- und Goldregen-Sträuchern, über die es gerade nur mit den ovalen Dachfenstern hervorguckte. Einige unaufdringliche Verzierungen über Thür und Fenstern gaben ihm einen gewissen Stil und hoben es als etwas Besonderes ab von den übrigen grauen, schmucklosen Kästen, die mit ihren vielen Etagen hierherum aufstiegen. Zu ebener Erde lag außer der Küche und der Vorratskammer nur ein winziges Eßzimmer und ein kleiner Salon neben dem schmalen Hausflur. Zum 106 Dachstockwerk führte eine Holztreppe empor. Oben ein viereckiger Platz mit alten Nußbaumschränken umstellt, hinter weiß angestrichenen Thüren die freundlichen Schlafzimmer.

Der Salon zu ebener Erde blickte am schmalen Ende durch ein großes Fenster auf den Garten. Dieser Garten mit seinen sauber abgezirkelten, von niederem Buchsbaum eingefaßten Blumenbeeten schien nur die Fortsetzung dieses Zimmers, dessen Wände eine altmodische Tapete wie mit einem Gitterwerk von Blumenguirlanden und Laubgewinden verzierte. Über zierlichen Empirekommoden, Rokokoetageren, Tischen und Stühlen im Biedermeierstile, hingen an der Wand eine Anzahl von jenen zarten und doch so sprechenden Pastellporträts, wie sie zur Zeit unserer Urgroßmütter gemalt wurden. Das Ganze war anheimelnd und gemütlich, wenn auch nicht gerade einheitlich. Auf Wanda Lüdekind, als die letzte eines Familienzweiges, waren allerhand Erbstücke aus den verschiedensten Einrichtungen gekommen. Der Neid behauptete von ihr, sie sei geizig und scharre Vermögen zusammen. Das Gegenteil davon war ungefähr richtig; die Hilfsbedürftigen ihrer Umgebung wußten das. Allerdings haßte das alte Fräulein die Verschwendung.

Thekla musterte all die guten Bekannten unter den Bildern. Alles befand sich noch am alten Platze. Nur ein Bild war neu hinzugekommen, ein großes, das auf einer Staffelei ganz für sich stand. Das junge Mädchen erschrak geradezu, als sie die Züge ihres Vaters in voller Lebendigkeit vor sich erblickte.

Wie kam Tante Wanda zu dem Bilde? Thekla wußte genau, daß sich der Vater niemals hatte malen lassen. Oft hatte die Mutter darüber geklagt, daß sie nur Photographien von ihm besitze.

Das Porträt stellte den Verstorbenen dar in dem 107 Alter, wie er aus dem Leben geschieden war. Im schlichten, grauen Anzug, wie man ihn meist gesehen hatte, seit er den Abschied genommen. Sinnend, ein wenig melancholisch, blickten seine großen, blauen Augen aus dem treuherzigen Gesichte auf den Beschauer herab. Thekla stand davor mit angehaltenem Atem. Ihr war, als sei der Verstorbene gegenwärtig in Fleisch und Blut. Ja, das war freilich etwas ganz, ganz anderes, als die steifen Photographien daheim! Wenn man das sah, dann konnte man wahrhaftig meinen, der Vater sei gar nicht für immer gegangen, hier hatte er eine Heimstätte gefunden. Und hier gehörte dieses Bild auch her! Das fühlte Thekla deutlich, je länger sie sich in diesem Zimmer aufhielt, das von diesem Porträt völlig beherrscht wurde.

Wanda Lüdekind kam endlich und mochte wohl dem Mienenspiele Theklas ablesen, was es sei, das die Nichte so ergriffen habe. »Du kanntest es noch nicht?« fragte sie. »Ist es schön?« –

Dann erzählte sie, wie das Porträt entstanden sei. Sie hatte dem ersten Maler der Stadt, welcher den Verstorbenen bei Lebzeiten gekannt hatte, den Auftrag gegeben, ihn unter Zuhilfenahme einiger Photographien zu malen. Vor einigen Tagen erst war das Bildnis fertig geworden. »Es überwältigt mich selbst immer noch durch sein Leben!« meinte Wanda, dabei liebkoste sie das Porträt mit einem langen Blicke.

Dann riß sie sich los und sagte in freundlichem Tone, die Augen noch groß von Ergriffenheit: »Leg ab, Thekla! Es freut mich, daß du deinen Weg mal wieder zu mir gefunden hast. Du darfst nicht gleich wieder gehen, mein Kind! Wie steht's bei euch?« –

Jetzt erst, wo sie sprechen sollte, wurde es Thekla klar, daß ihr Auftrag doch ein recht schwerer sei. Vor den 108 klaren Augen des alten Fräuleins fühlte sie sich von Scheu befallen.

»Was hast du denn, Kind? Du siehst mir so eigentümlich aus. Ist bei euch was passiert?« –

Da löste sich bei Thekla die unnatürliche Spannung, in der sie sich seit gestern befand; sie begann heftig zu weinen.

»Du großer Gott!« rief Wanda, »was hat denn das Mädel! Haben sie dir was gethan? Rede doch nur!«

»Gestern war Mamas Geburtstag« . . . . begann Thekla schluchzend.

»Das habe ich gewußt!« rief die Tante. »Ich wollte kommen, habe mir's aber anders überlegt. Der Herr Finanzrat war doch gewiß bei euch – wie?«

Diese Frage gab Thekla Gelegenheit zu reden. Sie trat ganz nahe an die Tante heran, ihren Arm um den Hals des alten Fräuleins legend, flüsterte sie ihr die Nachricht in's Ohr.

Wanda verfärbte sich. Ihr kleiner, zierlicher Körper reckte sich mit einem Male ganz stramm und steif empor. Mit blitzenden Augen rief sie aus: »Hab's gewußt! Hab's kommen sehen! Pfui Schande und Schmach!« Dann ging sie im Zimmer auf und ab, kaum noch auf die Anwesenheit der Nichte achtend. Vor dem Bilde ihres verstorbenen Vetters blieb sie stehen: »Das hast du nicht verdient! Nein, das nicht!«

Mit einem Male wandte sie sich und stellte sich vor Thekla hin: »Sage deiner Mutter von mir . . . . . Nein, sage ihr nichts! Sie ist ja Eberhardts niemals würdig gewesen. Vielleicht hat sie jetzt den gewählt, der zu ihr paßt.«

Als sie jedoch an Theklas Bestürzung sah, daß das doch wohl nicht die angemessene Sprache der Tochter 109 gegenüber sei, hielt sie an sich und fragte in etwas milderem Tone: »Und du, was soll denn nun aus dir werden?«

Das Mädchen umarmte das alte Fräulein von neuem. »Darf ich nicht bei dir bleiben Tante?« fragte sie ängstlich leise.

»Hier bleiben, bei mir? Gar kein übler Gedanke, Kind! Daheim wirst du jetzt auch nur das fünfte Rad am Wagen sein. Dort werden sie nun Brautpaar spielen. Ekelhaft!« Das Letzte sagte sie mehr für sich. »Natürlich, du bleibst bei mir! Du kannst gleich wieder in dein altes Zimmer ziehen, oben; das hat nur auf dich gewartet.«

* * *

Für's erste blieb also Thekla im Hause der Tante. Der Umzug war schnell bewerkstelligt. Ihre Mutter deutete dabei an, daß sie möglicherweise nicht wieder in ihr bisheriges Zimmer im Elternhause zurückkehren werde, da man die Wohnung gekündigt habe. Der Finanzrat wolle nicht hier wohnen bleiben, weil die Wohnung zu weit von seinem Büreau gelegen sei. Nach der Hochzeit aber werde man ein Quartier in der inneren Stadt beziehen.

Es war das erste Mal gewesen, daß sie der Tochter gegenüber von der Hochzeit gesprochen hatte. Für wann der Termin in's Auge gefaßt sei, erfuhr Thekla nicht, sie fragte auch nicht danach.

Arthur hatte wieder die Universität bezogen. Das Brautpaar war also sich selbst überlassen, denn Agnes wurde in ein ländliches Pfarrhaus gegeben, wo sie den ganzen Sommer über bleiben sollte. Es hatte sich mit einem Male herausgestellt, daß das Mädchen nervös sei, und daß sie der Kräftigung in frischer Landluft dringend bedürfe.

110 Thekla vermißte das Elternhaus so gut wie gar nicht. In wenigen Tagen schon war ihr zu Mute, als sei dies hier ihr eigentliches Heim.

Bei Wanda Lüdekind wurde zeitig aufgestanden, des Abends saß man nicht zu lange auf, die Mahlzeiten mußten pünktlich angerichtet sein. Der kleine Hausstand rollte wie am Schnürchen ab. Als die Tante merkte, daß Thekla sich nützlich machen wollte, wies sie das junge Mädchen an, erklärte ihr, warum dies und jenes so gemacht werde und ließ sie mit zugreifen in der Häuslichkeit.

Wanda hielt überhaupt sehr viel von der Thätigkeit. Sie meinte, man werde fett und phlegmatisch, wie so viele Frauen der besseren Stände, wenn man nicht den ganzen Tag über beschäftigt sei.

Thekla setzte ihren Mal- und Klavierunterricht auch im Hause der Tante fort. Wanda, die dem Unterricht beiwohnte, sah sich das eine Weile lang mit an, ohne etwas zu sagen. Dann fragte sie eines Tages die Nichte, ob sie Vergnügen habe an den Stunden. Thekla war offen genug, das zu verneinen. Dann müßten sie abgeschafft werden, je eher je besser, erklärte Wanda, denn das sei ja nur Geldverschwendung und Quälerei obendrein. Thekla meinte, die Malstunden würde sie ohne Kummer fahren lassen, aber in der Musik möchte sie es gern weiter versuchen.

Die Tante lachte sie aus, daß sie das nicht längst gesagt habe. Dann lohnte sie den alten Professor der Mal- und Zeichenkunst ab, und ebenso die Konservatoristin. Es wurde nach einer neuen Lehrkraft für den Klavierunterricht gesucht.

Eine tüchtige Lehrerin war nach einiger Zeit gefunden, zu der Thekla in's Haus ging, weil die Tante nur ein ungenügendes Instrument besaß. Freilich war das eine andere Sache! Thekla fühlte, daß sie bei der neuen 111 Lehrerin in einer Stunde mehr lerne als vordem in Monaten. Eines Tages kam sie glückstrahlend und berichtete der Tante, die Lehrerin sage, daß sie eine schöne Stimme habe und sie müsse Singstunden nehmen, könne aber noch ein halbes Jahr damit warten, bis sie noch fester im Klavier sei.

»Wundert mich gar nicht!« meinte Wanda. »Dein Vater hatte auch eine schöne Stimme. Später ist ihm die Lust am Singen vergangen, wie an so vielem anderen.«

»In der Schule bei Fräulein Zuckmann habe ich doch auch gesungen, Tante. Aber kein Mensch hat mir gesagt, daß meine Stimme der Ausbildung wert wäre.«

»Gott, wie du deinem Vater ähnlich bist, Thekla! Der verstand auch nie, etwas aus sich zu machen. Das hast du von ihm!«

Thekla bekam es oft von der Tante zu hören, sie sei viel zu weichherzig. So komme man heutzutage nicht durch die Welt. Das Leben werde sie noch arg in die Schule nehmen. Hart müsse man werden.

Wanda Lüdekind konnte sich, wenn sie auf dieses Thema kam, geradezu ereifern. Die Frauen begingen fast alle den Fehler, behauptete sie, daß sie die Welt durch die Brille ihrer Gefühle ansähen, sich vom Herzen statt vom Kopfe führen ließen. Dadurch allein bekämen die Männer das Übergewicht. Denn die Frauen seien unbedingt die klügeren, feinfühlenderen und besseren. Aber alle diese Vorzüge büßten sie wieder ein, indem sie ihr Gefühl befragten statt den Verstand. »Wir müssen nüchtern werden, und hart, ganz hart, wie von Eisen!« konnte Wanda am Schlusse eines solchen Vortrags ausrufen.

Thekla wußte hierzu nicht allzuviel zu sagen. Sie machte nur im stillen die Bemerkung, daß die Tante in ihrem Bestreben »hart« zu werden, noch nicht allzu weit gediehen zu sein schien.

112 Die meisten ihrer Handlungen entsprangen nämlich der reinsten Herzensgüte. Niemand konnte seine Dienstboten besser halten und gerechter behandeln als Wanda Lüdekind. Die Armen und Notleidenden aber bekamen ihre Barmherzigkeit erst recht zu spüren. Thekla staunte, in welchem Umfange die Tante ihr Leben der Mildthätigkeit widmete. Nicht etwa, daß sie wahllos mit vollen Händen von ihrem Reichtum weggeschenkt hätte; von Almosengeben hielt sie nicht viel. Aber sie gehörte mancher gemeinnützigen Anstalt an, stand in Verbindung mit allen wichtigeren Persönlichkeiten der Stadt, welche sich der Charitas widmeten, und führte eine weitläufige Korrespondenz mit auswärtigen Instituten. In diesen Teil von Wandas Leben bekam Thekla erst nach und nach Einblick, weil die Tante davon nicht viel Wesens machte.

Man konnte nicht gut soviel Energie täglich am Werke sehen, ohne einen Ansporn zu Ähnlichem zu spüren. Thekla bat die Tante, sie doch auf ihre Gänge in die Armenviertel mitzunehmen. Wanda that das, mit vorsichtiger Auswahl der Fälle. Sie wußte, daß die Nichte noch nicht reif sei, das Elend in jeder Gestalt zu sehen.

Es schien Thekla, als sehe sie jetzt erst, wozu sie auf der Welt sei. So schien das Leben wirklich des Lebens wert. Wenn sie zurück dachte an die langen Monate des vergangenen Winters, wo sie die Tage in Müßiggang zugebracht hatte, höchstens unterbrochen von schaler Romanlektüre und fadem Klatsch mit Frau Bartusch, dann begriff sie, was sie jetzt gewonnen hatte, in seinem vollen Werte. In Tante Wandas Gesellschaft kam man nie zur Langeweile. Sie hatte etwas an sich, das im anderen die Lebensenergie stärkte. Nicht immer war es bequem, mit ihr zusammen zu sein, denn sie beobachtete scharf, und war schnell mit einer Rüge zur Hand.

113 Aber Wanda ging auch für ihre Freunde durch dick und dünn, wenn es darauf ankam. Hatte sie einen Menschen gern, so konnte er schon große Fehler und Schwächen haben, sie hielt dennoch in Liebe an der Persönlichkeit fest.

Wanda Lüdekind war nicht gänzlich ohne geselligen Umgang. Die Leute, die sie bei sich sah, waren solche, denen man sonst nicht in Gesellschaft zu begegnen pflegte. Da war ein Geistlicher, das Haupt der freireligiösen Gemeinde. Wanda hielt im allgemeinen nicht viel von der Geistlichkeit. Zuviel Opportunismus und Abhängigkeit bemerkte sie in und um diesen Stand. In diesem Manne hier sah sie einen, der eine eigene Meinung zu haben wagte, auch im Religiösen, und der aufrecht und unabhängig auf dem stand, was er für wahr hielt. Obgleich sie der freireligiösen Gemeinde nicht angehörte, so waren seine Predigten doch die einzigen, die sie besuchte.

Ferner sah man bei ihr häufig einen Mann, den Thekla vom Elternhause her gut kannte: Doktor Beermann. Er war auch Tante Wandas Hausarzt und ihr Freund. Sie schätzten sich gegenseitig hoch, stritten sich aber oft. Wanda Lüdekind war eine schlechte Patientin und sehr unvorsichtig. Sie lachte den Arzt aus, wenn er ihr sagte, sie zehre vom Kapital ihrer Gesundheit, das sowieso kein allzu großes sei.

Am vertrautesten aber stand Wanda Lüdekind mit einem jungen Advokaten. Sie hatte Rechtsanwalt Reppiner kennen gelernt durch einen Prozeß, den er für sie geführt. Seitdem war er ihr Sachwalter und Berater in allen Geschäftsfragen. Es hatte sich damals um ein Wegeservitut gehandelt, das angeblich auf Wandas Grundstück ruhen sollte. Durch viel Scharfsinn war es Reppiner gelungen, die Unhaltbarkeit dieses Servituts, welches das 114 Grundstück stark entwertete, nachzuweisen, und seiner Klientin zum Siege zu verhelfen.

Wanda Lüdekind wußte den jungen Mann nicht bloß darum zu schätzen, weil er ein geschickter Advokat und tüchtiger Geschäftskenner war, sie hatte überhaupt, wie sie selbst sagte, für gescheite Menschen eine Schwäche. Vor allem aber empfand sie Mitleid für Reppiner. Er war von Natur ein feinfühlender Mensch, überaus empfindlich und leicht verstimmt. In Gesellschaft der meisten seines Volkes fühlte er sich nicht wohl, und unter den Christen, die ihn höchstens duldeten, konnte ihm auch nicht behaglich zu Mute werden. Der Sarkasmus, den Reppiner zur Schau trug, war ein Notbehelf, mit dem er sich über seine verzweifelte Lage, überall der Hund im Kegelschube zu sein, hinwegzusetzen versuchte.

Wanda verstand die Tragik solchen Daseins, ohne daß er sich ihr eröffnet hätte. Sie pflegte Reppiner in der Woche mindestens einmal einzuladen, aber immer allein. Überhaupt liebte sie es, ihre Gäste möglichst einzeln zu haben; sie behauptete, daß sie sich dann am natürlichsten gäben und am unbefangensten ihr Wesen zeigten.

Thekla hörte mit Staunen der Unterhaltung zu, wie sie bei solchen Gelegenheiten gepflogen wurde. Für manches, was sie anfangs nicht verstand, ging dem jungen Mädchen mit der Zeit das Verständnis auf. Zu Haus hatte sie dergleichen nie erlebt. Ihr Vater war ja auch ein kluger Mann von mancherlei Interessen gewesen, doch so offen, wie Tante Wanda im Kreise ihrer Freunde, hatte er nie gesprochen. Mit dem Geistlichen unterhielt sie sich über Religion und Philosophie, mit Doktor Beermann über Naturwissenschaft und Verwandtes, mit Reppiner schließlich pflegte sie zu politisieren. Da gab es wirklich kaum ein Thema, das nicht berührt wurde, und selten nur geschah es, daß 115 Wanda durch einen Wink oder eine kurze Bemerkung die Grenze bezeichnete, über die in Theklas Gegenwart nicht gegangen werden sollte.

Der Kreis von Tante Wandas Gästen erweiterte sich in dieser Zeit noch um einen. Gabriel Bartusch, der wieder mal auf Sommerserien zu Haus war, hatte Thekla seinen Besuch gemacht und war von Wanda aufgefordert worden, gelegentlich des Abends zu kommen. Gabriel ließ sich das natürlich nicht zweimal gesagt sein. Dem jungen Mädchen war etwas bange, wie die freie und selbstbewußte Art des ehemaligen Spielkameraden hier aufgenommen werden würde; aber siehe da: Gabriel Bartusch fand Gnade vor Wanda Lüdekinds Augen. Sehr bald meinte Thekla sogar, daß die Tante den Gast allzusehr für sich in Anspruch nehme. Wanda liebte an dem jungen Menschen das Stürmische, Rechthaberische, Unausgegohrene, sie fand, daß es sich wundervoll mit ihm streiten lasse. Gelegentlich, wenn sie sich einmal recht verbissen hatten, rief sie dann der Nichte, die stumm dabei saß zu: »Thekla, warum sprichst du denn nicht? Sage doch deine Ansicht!« und zu Gabriel gewendet: »Sie könnte nämlich sehr gut, wenn sie nur wollte. Denn im stillen hat sie ihre Ansicht über jede Sache.« Dann ging es wieder weiter zwischen den beiden.

Auch das Gebiet des Glaubens wurde bei solchen Gelegenheiten berührt. Gabriel machte kein Hehl daraus, daß er auf den Materialismus schwöre, und daß ihm aller Supranaturalismus »Blödsinn« sei.

»Thekla!« rief dann wohl die Tante. »Es schadet dir nichts, wenn du auch mal so was mit anhörst. Aber du versprichst mir, von dem Unsinn, den er da redet, kein Wort zu glauben!«

Thekla war anfangs entsetzt. Noch nie bisher hatte 116 ein Wort des Unglaubens ihr Ohr gestreift. Aber sie hatte von den Gottesleugnern gehört, und nun mußte sie es erleben, daß Gabriel Bartusch, ihr Freund, zu dieser Menschenklasse gehörte, die sie zu den Verworfensten zu zählen, gewöhnt war. Eigentlich wollte sie sehr traurig sein darüber, aber sie sah, daß Tante Wanda die Sache nicht so furchtbar ernst nahm. »In zehn Jahren wird er darüber ganz anders denken. Das ist seine Jugend, die sich so radikal gebärdet,« sagte Wanda zuversichtlich, und Thekla hoffte, daß sie recht behalten möge.

Derselbe Gabriel aber, der sich mit Wanda Lüdekind über die Existenz Gottes und andere Weltprobleme stritt, daß die Funken stoben, konnte doch auch wieder ganz sanft und elegisch, ja sentimental erscheinen. Wenn er mit Thekla allein war, schien der Freigeist in ihm gebändigt.

Er machte jetzt Thekla oft das Leben schwer. Gänzlich unaufgefordert erschien er in Augenblicken, wo sein Besuch vielleicht gar nicht am Platze war. Und er verlangte von dem Mädchen jene Vertraulichkeit als sein gutes Recht, die, als sie Kinder gewesen, begreiflich erschienen sein mochte. Das junge Mädchen konnte nicht mehr im Zweifel sein über seine Absichten. Nein, so hatte sie es niemals gemeint! Gute Kameraden wollten sie bleiben; aber das andere, was seine heißen Augen von ihr heischten, gab ihr ein Gefühl, als schlösse sich etwas zu in ihr. Er war ihr Freund, der beste wohl, den sie hatte; nichts mehr und nichts weniger. Er hätte diese Grenze selbst erkennen müssen. Die Tante war ja die Güte und Nachsicht in Person, aber sie konnte in ihrem Hause doch Rücksichten verlangen! Aber Rücksichtnahme war gerade das, wovon Gabriel nichts wissen wollte. Seine Stimmung war wechselnd wie Aprilwetter, einmal melancholisch düster, dann wieder erregt, immer aber wie es 117 Thekla schien, übertrieben. Man hätte ihm wirklich ernsthaft böse sein sollen! Aber Thekla wußte, daß er es nicht gut habe zu Haus, daß das Verhältnis zwischen ihm und seinem Vater von Tag zu Tag unleidlicher wurde; darum meinte sie, müsse man ihm manches zu Gute halten.

Es war ein eigenes Ding! Sie vermochte Gabriel, so gern sie ihn hatte, nicht ganz ernst zu nehmen. Lag es daran, daß man sich schon so lange kannte? – Er mochte eine noch so tragische Miene aufsetzen, er mochte noch so gewichtige Worte im Munde führen, für sie blieb er Gabriel Bartusch, ihr Jugendgespiele, mit dem sie sich geneckt, gebalgt, ja umarmt hatte. Überall blickte ihr aus seiner neuen Manneswürde der Knabe heraus. Er imponierte ihr nicht im mindesten. Sie fühlte sich ihm überlegen, trotz aller seiner Klugheit und der vielen Dinge, die er gelernt hatte. Niemals hätte sie sich vorzustellen vermocht, daß er ihr Mann werden könne. Ja dieser Gedanke: sie mit Gabriel verheiratet, hatte geradezu etwas Komisches für sie.

Eines Vormittags kam er auch wieder. Die Jungfer hatte ihm zwar am Eingange gesagt, das »gnädige Fräulein« – womit sie ihre Herrin meinte, (von Thekla sagte Kathinka nur: das »junge Fräulein«) – sei ausgegangen. Gabriel aber ging nun erst recht, da er Thekla allein wußte, in den kleinen Salon, wo er die Ersehnte auch wirklich traf. Sie las.

»Meine Tante ist aus zu Krankenbesuchen!« erklärte Thekla, nachdem sie ihm die Hand gereicht.

»Ist mir bereits vorn gesagt worden! Ich kam auch nicht Ihrer Tante wegen, sondern um Sie zu sehen. Oder ist das etwa unpassend?«

Thekla warf ihm als Antwort nur einen strafenden Blick zu.

118 Er meinte: »Sie werden ja jetzt so kolossal korrekt! Man weiß kaum noch: darf man Sie mit Ihrem Namen nennen, oder muß man ›gnädiges Fräulein‹ sagen?« –

»Für Sie bin ich: Thekla! Das wissen Sie ganz gut!«

Nach einer Pause, während der er mürrisch zu Boden geblickt hatte, fragte er plötzlich: »Warum lesen Sie nicht weiter?«

»Weil Sie hier sind, Gabriel!«

»O, wie höflich!«

»Gabriel!« rief sie, vor Unwillen errötend. »Was soll das? Dazu kommen Sie zu mir, um dann so zu sein! Das ist wirklich häßlich von Ihnen! Ich verstehe nicht, was seit einiger Zeit mit Ihnen ist! Sie haben sich so ganz verändert!«

»Wenn du wüßtest, wie mir zu Mute ist!« – – Und mit einem Male lag er zu ihren Füßen und bedeckte ihr die Hände mit Küssen. Thekla war völlig überrumpelt. Sie versuchte aufzuspringen.

»Gabriel – ich glaube – Sie sind nicht gescheit! Lassen Sie mich!«

»Nur einmal – nur ein einziges Mal . . . .«

Es war ihr gelungen, sich loszumachen. Sie flüchtete vor ihm hinter den großen, runden Tisch.

Er war aufgestanden. Sie betrachtete ihn gespannten Auges. Wenn er ihr nachkommen sollte, dann wollte sie die Thür zu erreichen suchen. Aber er schien sich eines Besseren besonnen zu haben. Wie ein düsterer Schatten flog es über seine Züge, er wandte ihr den Rücken, warf sich in einen Stuhl und bedeckte die Augen mit der Hand.

Thekla hatte sich ziemlich schnell von dem ersten Schrecken erholt. Es war ja nur Gabriel gewesen! Und doch, ihre Pulse flogen. Welchem Mädchen von siebzehn 119 sollte auch nicht das Herz klopfen, halb vor Angst, halb vor Wonne, wenn es einen Jüngling zu seinen Füßen sieht! –

Und nun saß er da, hielt die Augen bedeckt und stöhnte! Sie genoß das Aufregende der Situation. Aber je länger es währte, desto deutlicher empfand sie, daß sie etwas thun müsse. Tante Wanda konnte kommen, oder das Mädchen. Was würde man denken von ihr, hätte man sie beide so vorgefunden! –

Sie trat vorsichtig an ihn heran, und legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Gabriel!« Er antwortete nicht. »Gabriel! Hören Sie nicht?«

»Was wollen Sie?« Er sah sie noch immer nicht an.

»Sie müssen vernünftig sein!«

»Vernünftig – oh! Sie sind es ja für zweie!«

»Versprechen Sie mir, daß Sie das nie wieder thun wollen!«

»Was nicht thun?«

»Nun, das von vorhin – dort!« Sie wies nach der Stelle, wo er gekniet hatte.

»Köstlich!« rief er und lachte wild auf. »Wahrhaftig, Sie sind die Tugend in Person! Haben Sie keine Angst; ich werde Ihnen nichts anthun! Bleiben Sie ruhig hier bei Ihrer Tante, in Gottes Namen! Ich will Ihnen nicht mal sagen, was ich vorhatte. Sie könnten noch nachträglich in Ohnmacht fallen, sonst. Sie hätten nicht den Mut gehabt dazu. Nein, Sie nicht! Sie werden immer bleiben, was Sie sind.«

Mit diesen rätselhaften Worten ging er. Thekla wußte nicht recht, sollte sie weinen oder lachen. Was wollte er denn? Wozu hätte ihr der Mut gefehlt? Was hatte er vorgehabt mit ihr? – – – 120

Eine ganze Woche lang kam Gabriel nicht mehr in ihre Nähe. Er war zu tief gekränkt, und glaubte wieder einmal, sie zu hassen. Es war zum Verzweifeln mit dem Mädchen!

Sein Plan war kein geringerer gewesen, als mit ihr zu entfliehen. Er hatte gehört, daß es für Liebende in England leicht gemacht sei, sich trauen zu lassen. So viel Geld, um mit Thekla bis London zu kommen, hatte er sich erspart. Wenn einmal dort, hoffte er sich weiter durchzuhelfen. Deutschen Unterricht wollte er geben, sich einem Baubureau anbieten als Zeichner. Um die Mittel zur Existenz war ihm nicht bange; wenn es ihm nur gelang, das Mädchen für seinen Plan zu gewinnen.

Und bei dem ersten Anlaufe war er so kläglich gescheitert!

Nun wollte er sich Thekla ganz aus dem Kopfe schlagen. Sie war doch eben ein kleiner Geist!

Aber acht Tage nach seiner Niederlage saß er schon wieder bei den beiden Damen, debattierte mit Wanda über große Fragen und warf verstohlene Blicke nach Thekla, die ihm liebenswerter erschien denn je; doppelt verführerisch und verwirrend in der vorwurfsvollen Zurückhaltung, die sie seit jener Szene an den Tag zu legen für geboten fand, und aus der doch ihre Nachsicht deutlich genug hervorleuchtete.

Wanda Lüdekind sah, was hier vor sich ging. Sie sah es mit Augen, welche die Erfahrung geschärft hatte, fühlte es mit dem Instinkte eines Herzens, dem die Widersprüche und Unberechenbarkeiten der Liebe nichts Fremdes sind. Sie stand auf Gabriels Seite; denn dieses alte Mädchen liebte die starken Leidenschaften. Der Junge hier hatte sein ganzes Herz verloren, das war klar. Aber ebenso fest stand, daß er keine Gegenliebe finde.

121 Wie sich alle Verhältnisse wiederholten in der Welt! –

Aber man konnte nicht helfen, mit aller Erfahrung nicht, die man sich in bitterem Leid selbst erworben hatte. Das mußte durchgekämpft und erlitten werden; jeder für sich!

In keiner Angelegenheit des Lebens stand der Mensch so allein, so unter eigenster Verantwortung wie in der Liebe.

Wenn sie sich ihre Nichte Thekla betrachtete – und sie sah mit dem Auge eines Weibes, das ihrem eigenen Geschlechte bis auf den Grund blickte – so erkannte sie, daß bei diesem Kinde, welches doch schon Jungfrau war, noch alles zusammengefaltet lag, wie in einer Knospe, die noch nicht aufgebrochen ist. Nur nicht vorzeitig einzelne Blätter lösen! Von selbst mußte das werden. Die Blüte war eine von den spät kommenden. Sie würde sich erschließen, wenn ihre Zeit da war. 123

 


 


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