Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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VI.

Mit Wanda Lüdekind ging es wieder etwas besser. Aber nun, wo sie transportfähig war, verlangte Doktor Beermann energisch Luftwechsel für ihre angegriffene Lunge. Das Außerordentliche geschah. Wanda fügte sich einmal dem Rate ihres Hausarztes und erklärte sich bereit, nach dem klimatischen Kurort in der Schweiz zu gehen, den er als geeignet für sie bezeichnet hatte.

Das alte Fräulein war sich, nachdem sie ein eingehendes Gespräch mit Doktor Beermann gehabt hatte, nun doch ein wenig klarer geworden über den Ernst ihres Zustandes. Bisher hatte sie die Ansicht verfochten, daß, wer nur recht energisch gesund sein wolle, auch nicht krank werden brauche. Und ihr Befinden war wirklich eine Art von Stützung dieser Paradoxe gewesen. Beermann hatte ihr einmal ganz offen heraus gesagt: Der ärztlichen Wissenschaft nach müsse sie eigentlich längst im Grabe liegen. Wandas lachende Antwort darauf war gewesen: sie halte so wenig von der Wissenschaft, daß sie nunmehr sicher erwarte, hornalt zu werden.

Thekla hatte sich angeboten, die Tante zu begleiten. Wanda lehnte das freundlich, aber bestimmt ab. Thekla war ihr zu jung. Wenn es wirklich, wie Doktor Beermann behauptete, etwas Ernsteres mit ihrem Befinden auf sich hatte, dann wollte sie dem Kinde einen so traurigen Eindruck ersparen.

Dafür nahm sie Reppiners Anerbieten, sie bis zu dem Luftkurort zu begleiten, an. Dort sollte er sie den Händen eines Arztes übergeben, mit dem Doktor Beermann in Verbindung stand. Außerdem ging auch noch Kathinka ihr 213 altes Mädchen, mit ihr. Tante Wanda reiste also, wie sie selbst fand: mit »fürstlichem Gefolge«.

Thekla war zur Abfahrt auf den Bahnhof gegangen, auch Doktor Beermann fand sich dort ein. Die einzig heitere bei diesem Abschiede war die Reisende selbst. Thekla weinte, Kathinka heulte nach Dienstbotenart ohne Maß und Halt, Reppiner hatte seine übliche Regenmiene aufgesetzt, heute nur noch um einige Grad trüber, und Beermann war bärbeißig und grob, ein sicheres Zeichen, daß er gerührt sei. Nur Wanda Lüdekind zeigte sich zu Scherzen aufgelegt und lachte sie alle aus wegen ihrer Leichenbittermienen.

Thekla fragte Doktor Beermann, als sie gemeinsam den Bahnhof verließen, ob er glaube, daß Wanda volle Herstellung ihrer Gesundheit finden werde. Die Frage kostete ihr einige Überwindung, denn sie hatte dem alten Hausarzt ihrer Familie gegenüber immer noch nicht jene Scheu ganz überwunden, die sein rauhes Wesen und seine ungewöhnliche Erscheinung ihr als Kind einzuflößen pflegten. Er runzelte die Stirn, ganz wie in alter Zeit und funkelte sie unter seinen Brillengläsern mit den großen, grauen Augen an. Dabei hatte sein Gesicht die Farbe eines kollernden Puterhahnes angenommen. Das sei eine ganz kindische Frage, platzte er los. Ob sie denn glaube, ein Doktor sei allwissend, wie der liebe Gott! – Da hatte sie's! Nun war er böse, und sie so gescheit wie zuvor.

Für Thekla galt es zunächst, sich zu Haus wieder zurecht zu finden. Jetzt, wo Wanda Lüdekind abgereist war, hatte sie nicht mehr die Entschuldigung, bei der Tante notwendig zu sein, wenn sie oft ganze Tage den ihren fern bliebe.

Arthur befand sich wieder mal auf Ferien im Elternhause. Er mußte nun an's Arbeiten denken, denn die erste 214 Staatsprüfung rückte näher. Ein Freund der Gelehrsamkeit war er nie gewesen.

Wie gern hätte Thekla sich an den Bruder angeschlossen. Bruder und Schwester waren doch von Natur zur Freundschaft bestimmt! Aber er schien nicht das Bedürfnis zu haben, sich irgend jemandem mitzuteilen. Bei Tisch war er ein beinahe stummer Gast. Daß er keine große Lust hatte, sich mit Sänger zu unterhalten, konnte nicht verwundern, aber er hatte auch den Damen so gut wie nichts zu sagen. Höchstens Agnes, die ihn mit seiner Körperfülle aufzuziehen liebte, brachte ihn gelegentlich aus der Ruhe heraus zu verdrossener Abwehr solcher Angriffe.

Thekla bedauerte es, daß sie so wenig von diesem Bruder hatte. Sie wußte doch, was für ein guter, im Grunde tüchtiger Mensch er sei. Warum umgab er sich mit einer solchen Kruste von Zurückhaltung? War es das Mißvergnügen über die unbehaglichen Zustände in der Familie, was ihn so bedrückte?

Ob er etwa liebte? – Thekla fragte sich das im geheimen, wenn sie sein merkwürdig gedrücktes Wesen beobachtete, seine Scheu vor aller Geselligkeit, seine schlecht verhehlte Melancholie. Früher hatte er ja sein Herz nur allzuleicht verloren, man brauchte nur an Ella Bartusch denken! Wem mochte seine Neigung jetzt gelten? Vielleicht liebte er unglücklich! –

Von dem Augenblicke an, wo sich Theklas diese Vermutung bemächtigt hatte, betrachtete sie den Bruder mit verdoppeltem Interesse, fühlte für ihn mehr als schwesterliche Sympathie.

Eines Tages, als Thekla zu Besorgungen in einer der belebtesten Straßen ging, fiel ihr Blick von ungefähr auf ein Paar, das in einiger Entfernung vor ihr herging. Dieser breite Rücken mit den mächtigen Schultern konnte 215 niemandem anderes angehören als Arthur, und die zierliche Gestalt neben ihm, war keine andere als Ella. Sie waren in ihr Gespräch vertieft und ahnten wohl kaum, daß sie beobachtet würden. Sie konnten einander vielleicht zufällig begegnet sein, und Arthur hatte sie aus alter Freundschaft angesprochen. Was aber Thekla stutzen machte, war, Arthur so lebhaft zu sehen; er sprach, gestikulierte und lachte. Das war ja ein ganz anderer Mensch, den man da vor sich hatte!

Thekla dachte daran, Arthur und Ella einzuholen – was leicht gewesen wäre, da sie langsam gingen. Dann unterließ sie es. Sie hatte eine Ahnung, als dürfe sie die beiden da nicht stören. Sie überließ also Arthur und Ella einander, aber es gab ihr im stillen viel zu denken.

War es nicht merkwürdig, daß Ella, die als Lehrerin doppelt vorsichtig hätte sein sollen, sich an der Seite eines jungen Herrn auf der Straße sehen ließ. Von Arthur war es ja eher begreiflich. Vielleicht wußte er nicht mal, wie leicht er seine Jugendfreundin auf diese Weise in schlechten Ruf bringen konnte. Sie beschloß, ihn darauf aufmerksam zu machen, um Ellas willen.

Arthur zeigte sich, sobald sie nur das erste Wort geäußert hatte, auf's höchste erregt; in einer geradezu feindlichen Art, wie sie ihn gar nicht kannte. Er erklärte, daß diese Angelegenheit niemanden etwas angehe, zum wenigsten seine junge Schwester. Er wisse, was er zu thun und was er zu lassen habe.

Seine Heftigkeit konnte Thekla nur in der Ansicht bestärken, daß hier etwas versteckt werden solle. Sie mußte wissen, was diese beiden mit einander hatten. Es war mehr als gewöhnliche Neugier, was sie trieb, dem auf den Grund zu kommen.

Sie beschloß daher, mit Ella zu sprechen. In der 216 Wohnung wollte sie die Freundin nicht aufsuchen, denn dort würde man unfehlbar mit Frau Bartusch zusammenkommen, und das gerade wollte Thekla vermeiden. Eine solche Sache konnte man nur Mädel zu Mädel besprechen.

Es gelang ihr, Ella abzufangen, als sie in der Mittagspause die Anstalt verließ. Thekla forderte sie auf, mit auf ihr Zimmer zu kommen, sie habe mit ihr zu sprechen. Ella war sofort bereit dazu.

Die beiden waren seit längerer Zeit nicht zusammengewesen. Die Verschiedenheit ihrer Lage und ihres Verkehrs hatte zwischen den Jugendgespielen schließlich doch eine Art von Scheidewand aufgerichtet. Aber das war nach einigen Worten schon überwunden. Thekla fand die andre kaum verändert. Das war noch dieselbe zuthunliche, anschmiegende, freundliche Ella, mit ihrer kätzchenhaften Niedlichkeit und ihren schönen, verträumten Augen. Wie aus dem Ei geschält sah sie aus; selbst die Bücher, die sie trug, standen ihr gut.

Thekla begann, ohne viele Umschweife, einfach zu fragen, was Ella eigentlich mit Arthur habe. Ella legte außer einem leichten Erröten kein Zeichen größerer Bestürzung an den Tag. Sie freue sich, erwiderte sie, daß sie endlich mal mit jemandem darüber sprechen könne, denn die Heimlichkeit sei ihr selbst peinlich. Einmal müsse es ja doch an den Tag kommen: sie und Arthur seien verlobt.

Thekla fiel ein Stein vom Herzen, als Ella ihr das in aller Ruhe mitteilte. Im geheimen hatte sie Schlimmeres befürchtet. Ja, wenn das so stand, dann gab es ja gar keinen ersichtlichen Grund, warum Arthur und Ella einander in Zukunft nicht ganz angehören sollten.

Ella erzählte nun unaufgefordert mit glückstrahlender Miene, wie alles gekommen sei. Niemals waren die Beziehungen gänzlich abgebrochen gewesen zwischen ihr und 217 Arthur. Er hatte ihr geschrieben und sie ihm, und in den Ferien hatte man sich Rendezvous gegeben. Wann sie sich formell verlobt hätten, wußte Ella nicht anzugeben; das war ja auch gleichgiltig. Aber natürlich konnte Arthur, so lange er noch studierte, nicht als Bräutigam auftreten. Daher die Heimlichkeit. Ihre Ringe trugen sie auch nicht, wie andere Verlobte, am Finger, sondern: sie eingenäht auf der Brust und er in der grünseidenen Börse, die sie ihm einstmals zum Geburtstag angefertigt hatte.

Das klang alles so einfach und selbstverständlich, wie es Ella erzählte, als hätte es gar nicht anders sein können. Es machte tiefen Eindruck auf Thekla. Sie bewunderte die Freundin aufrichtig. Wenn sie zurückdachte: Ella war ein unbegabtes, verschüchtertes Kind gewesen, unter anderen Mädeln hatte sie nie eine Rolle gespielt. Und wie war sie dabei zielbewußt und sicher ihres Weges gegangen, ohne Aufsehen in ihrer stillen Art. Nachgiebig und schwach, wie sie schien, hatte sie sich in ihrer Liebe durch nichts irre machen lassen. Was war es, was ihr diesen Mut gab? Was machte sie, die kleine unbedeutende Ella, bedeutend? Ihre Liebe. Früh hatte ihr Herz gesprochen. Nun hatte ihr Leben einen Inhalt, alles in ihr streckte sich nach dem einen Ziele: den Mann zu besitzen, den sie liebte. Mit dem ganzen lebendigen Herzen gab sie sich hin. So war die Liebe, die allein ihres Namens wert war.

Ja, wer das hatte, wer das konnte! –

* * *

Thekla stellte sich von Anfang an rückhaltlos auf Seite der beiden Liebenden. Wenn es ihre eigene 218 Angelegenheit gewesen wäre, sie hätte sie nicht eifriger betreiben können, als sie jetzt um Ellas Glück sorgte.

Seitdem Arthur von seiner Braut erfahren hatte, daß Thekla von ihrem Plane wisse und wie freundlich sie sich dazu gestellt habe, zog auch er der Schwester gegenüber andere Saiten auf. Er sah nun in ihr eine wertvolle Bundesgenossin. Als Mann erkannte er in viel deutlicherer Weise die mannigfachen Schwierigkeiten, die sich dem Heiratsplane in den Weg stellten, als die beiden unerfahrenen Mädchen. Da war erstens Ellas Stand. Von den Verwandten und Freunden würde es ihm jedenfalls stark verdacht werden, daß er, ein Herr von Lüdekind und Sohn seines Vaters, eine simple Lehrerin heimführen wollte. Aber schließlich diesen Leuten den Mund zu stopfen, würde leicht sein. Ein ernsthafteres Hindernis bildete die Vermögensfrage. Ella hatte nichts, und es war fraglich, ob ihre Eltern in der Lage sein würden, ihr auch nur die Ausstattung zu beschaffen. Arthur, der vom Vater her ein kleines Vermögen besaß, hatte davon während des Dienstjahres und der ersten Semester schon ein gut Teil verthan. Dazu war das Examen noch nicht gemacht, und selbst wenn diese Staffel erklommen sein würde, mußte man mit einer Reihe von Jahren ohne Gehalt rechnen.

Thekla begriff jetzt, warum der Bruder nicht in rosiger Stimmung sein konnte, und verzieh ihm gern seine Schroffheit von neulich. Sie mußte ihm auch darin recht geben, daß er sein Verhältnis zu Ella vorläufig in Geheimnis hüllte. Die beiden konnten nichts thun, als warten und im stillen ihrem Ziele zustreben.

Die nächste Folge dieses Erlebnisses war, daß die Freundschaft zwischen Thekla und Ella neu auflebte. Es that Thekla jetzt von Herzen leid, daß sie die 219 Jugendgespielin vernachlässigt hatte. Aber es war ganz von selbst so gekommen. Für Thekla war Ella nun die Braut, ein besonders beglücktes, vor allen anderen ausgezeichnetes Wesen. Man küßte und umarmte sich viel. In dieser Beziehung mußte Thekla versuchen, seiner Braut Arthur zu ersetzen, der nun wieder auf Universität gezogen war.

Wenn Ella zu Thekla kam, was oft geschah, unterhielten sich die Mädchen begreiflicherweise immer über das nämliche Thema. Daß Ella die Briefe ihres Verlobten vorlas, verstand sich von selbst. Gelegentlich benutzte Ella auch diese Besuche, um sich auszuweinen. In ihrem Berufe hatte sie viel Unerquickliches zu ertragen und zu Haus ging es ihr auch nicht immer zum besten.

Die Verhältnisse in der Familie Bartusch waren nach wie vor mißliche. Der Vater tyrannisch und schroff, die Mutter mißvergnügt und verbittert. Dazu die Nöte mit Gabriel! Er hatte das Studium an der Hochschule aufgegeben, Knall und Fall. Die seinen waren ganz ohne Nachricht, wo er sich aufhalte. Sie glaubten, daß er nach Rußland gegangen sei, weil das früher schon sein Plan gewesen war. Der Vater erlaubte nicht, daß Gabriels Name fortan in seiner Gegenwart genannt werde.

Es hätte nahe gelegen für Thekla, die Freundin, deren großes Geheimnis sie ja nun kannte, dafür auch in ihre Herzensangelegenheiten einzuweihen. Aber ihr Geständnis wäre zu traurig ausgefallen. Und soweit es Gabriel betraf, hatte sie wohl nicht einmal das Recht zum Ausplaudern.

Im stillen war sie voll Sorge um Gabriel. Unwillkürlich brachte sie sein jähes Abreisen ohne Angabe des Reisezieles in Zusammenhang mit ihrem Briefwechsel. Sie hätte ihm diesen Brief doch nicht schreiben sollen! Eine Absage war ja notwendig gewesen, aber hätte sich 220 nicht eine andere Form finden lassen? – Vielleicht hatte er sich ihre Antwort zu Herzen genommen. Wer weiß, was für Unbesonnenheiten er in gekränkter Laune begangen haben mochte! –

Wenn sie nur gewußt hätte, wo er sich jetzt aufhalte! Wie gern würde sie ihm geschrieben haben, ihm irgend etwas Liebes zu sagen. Es war ihr sehr unbehaglich zu Mute, daß er so lange schwieg; wie eine schwere Verantwortung lastete es auf ihr. So oft sie Ella sah, fragte Thekla sie, ob noch keine Nachricht von ihrem Bruder da sei.

Da brachte Ella eines Tages freudestrahlend die Kunde, Gabriel habe einen langen Brief an die Mutter geschrieben. Er sei in Kiew, befinde sich wohl und hätte Thätigkeit gefunden. Ein Großindustrieller, Deutscher von Geburt, habe ihn angestellt bei seinen großartigen, technischen Unternehmungen. Arbeit gäbe es in Fülle, er verdiene Geld und fühle sich in seinem Elemente. Nach Haus zurückzukehren, verspüre er nicht die geringste Lust.

Wenige Tage, nachdem Thekla diese beruhigende Nachricht erhalten hatte, empfing sie selbst einen Brief von Gabriels Hand.

»Gnädiges Fräulein! Ich bin Ihnen, so viel ich weiß, noch einen Brief schuldig. Als ich vor etwa einem Jahre Ihre Antwort erhielt, stand ich wie vernichtet; das Leben schien mir sinnlos geworden. So war damals meine Stimmung.

Heute weiß ich, daß das, was ich ersehnt, was durch Jahre den Inhalt ausgemacht hat, meiner Träume und Hoffnungen, eine Illusion gewesen ist, eine echte und rechte Jugendillusion.

Ihnen, gnädiges Fräulein, werde ich schwerlich damit etwas Neues sagen. Sie haben das früher 221 erkannt als ich. Und wenn ich an manches gemeinsam Erlebte zurückdenke, dann will es mir erscheinen, als seien Sie immer die kühlere und überlegtere gewesen. Ich habe Ihnen dankbar zu sein dafür. Das, was ich erreicht habe, was ich bin und kann, verdanke ich eigentlich Ihnen. Es war ein ganz bestimmter Wunsch, ein Ziel, das mich in solcher Eile vorwärts getrieben hat auf meiner Bahn. Sie wissen, welchen Sporn ich hatte. Ist es nicht sonderbar, daß nun, wo ich die Selbständigkeit erreicht, ich das ursprüngliche Ziel fallen lasse! – So geht es im Leben.

Warum ich Ihnen das schreibe! Mein Stolz nötigt mich dazu. Jetzt, wo ich etwas bin, ein Mann und mein eigener Herr, blicke ich zurück auf meine Jugend, und wenn ich da das Fazit ziehe von allem, dann sehe ich neben vielen anderen Demütigungen auch eine, die mir am heißesten auf dem Bewußtsein brennt: wie ein Bettler habe ich vor Ihnen gestanden. Gekniet habe ich und gebettelt. Das sollte ein Mann niemals thun. Denn wir sind zum Siegen bestimmt von Natur; das habe ich nunmehr erkennen gelernt! – Sie sehen, gnädiges Fräulein, ich habe mich sehr verändert, seit ich das letzte Mal an Sie schrieb. Ich halte es für richtig, daß Sie das erfahren sollten.

Und dann habe ich auch noch eine Bitte – mündlich sie vorzubringen würde mir kaum möglich sein, da wir uns wohl schwerlich jemals wiedersehen werden – sie betrifft meine Briefe an Sie. Wenn Sie noch etwas übrig haben für einen Jugendgespielen, so verbrennen Sie, bitte, alles, was Sie etwa an Erinnerungen besitzen von meiner Hand. Diese Dinge, mir einst so wertvoll, sind jetzt sinnlos geworden. Ihnen werden sie sowieso niemals viel bedeutet haben.

222 Leben Sie wohl! Es wünscht Ihnen aufrichtig alles Gute für die Zukunft

Ihr

Gabriel Bartusch.«

Thekla stand vor diesem Schreiben auf's wunderlichste berührt. Eigentlich hätte sie sich wohl darüber freuen sollen. Nun war sie ja entlastet! Gabriel gab sie frei, sprach sie jeder Verantwortung los und ledig. Er warf ihr nichts vor, im Gegenteil, er sagte ihr Dank.

Und doch, und doch! – – War es nötig, das in dieser Weise zu thun, in dieser bitteren Weise? – Hatte sie das um ihn verdient?

»Jugendillusion« nannte er seine Gefühle für sie! Gut, sie wollte ihm erlauben, daß er das jetzt so bezeichnete. Aber hätte, wenn die Illusion abgewelkt war, nicht Freundschaft zwischen ihnen erwachsen können? – War es wohlgethan, so alles mit groben Händen auf einmal auszuraufen und ihr vor die Füße zu werfen?

Sein »Stolz« nötigte ihn dazu, schrieb er. Eine »Demütigung« war ihm das, was er empfunden hatte. O, was hatte er für Begriffe von der Liebe! Wahrhafte Liebe fand sich nicht gedemütigt, selbst wenn sie nicht erwidert wurde. Davon hätte sie ihm manches zu sagen gehabt.

Er wollte, daß sie seine Briefe verbrenne! Sie mußte diesem Verlangen wohl Folge geben? Nun suchte sie all die Zettel und Blätter und Bogen zusammen; es war ein ganzes Päckchen. Auch das Skizzenbuch mit dem Gedicht trug sie herbei. Noch einmal las sie die kindliche Widmung darin durch:

»Tief verschwiegen trag ich's nun,
Schmerz und höchste Lust.
Bis der Tod sein Veto spricht,
Schlägt für dich die Brust.«

223 So hatte der Schlußvers gelautet.

Oben auf legte sie seinen letzten Brief. Dann hielt sie das Zündholz an, und sah zu, wie die Flamme eines nach dem anderen der Blätter ergriff. Erst sengte und leckte das Feuer langsam, fast widerwillig daran; bis es plötzlich das ganze kleine Packet erfaßte und im Wirbel emporriß. Bald war nur noch ein Häufchen dunkler Asche übrig.

Thekla sah der Zerstörung mit Thränen zu. Es war ihr zu Mute, als begrübe sie ein Stück ihrer Jugend.

 


 


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