Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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V.

Gabriel Bartusch war nach mehr als einem Jahre in's Elternhaus zurückgekehrt, auf Ferien. Seit er damals im Frühling Abschied von Thekla genommen, waren mit ihm Veränderungen vor sich gegangen, die auch schon äußerlich in's Auge fielen.

In den Jahren angehender Manneszeit wachsen die jungen Leute schnell in's Holz. Alles ist in Entwickelung, 92 die Züge nehmen Charakter an, der sprießende Bart verleiht Männlichkeit, das Selbstbewußtsein erwacht, man fühlt, daß man wer ist. Und dieses fröhliche Wachsen müsse in alle Ewigkeit so fortgehen, wähnt man. Alles erscheint dem Ehrgeize da erreichbar. Man ist der Mittelpunkt der Schöpfung. Von den tausend Hindernissen, Stricken und Fesseln, die das Leben für jeden in Bereitschaft hat, ahnen wir da noch nichts; das wird man ja spielend überwinden und sich seinen Weg bahnen.

Auch Gabriel trat mit dieser Siegermiene des flügge gewordenen Helden zu Haus auf. Er fand, daß hier alles unendlich philisterhaft, eng, beschränkt und verkümmert sei. Und mit der Rücksichtslosigkeit der intoleranten Jugend sprach er diese Ansicht offen aus.

Das paßte nun freilich schlecht zu den Verhältnissen, wie er sie zu Haus vorfand. Zunächst geriet er mit dem eigenen Vater in Widerstreit. Der Alte sah zwar, daß er den Jungen nicht umsonst auf Reisen geschickt habe, es konnte ihm nicht entgehen, daß Gabriel seinen Horizont erweitert und sein Auge geschärft hatte, aber gerade das reizte auch wieder die väterliche Eifersucht. Der Laffe sollte sich nur ja nicht etwa einbilden, daß er ihm, seinem Vater imponiere! Irgend welche Anerkennung wollte Bartusch senior ihm auf keinen Fall merken lassen. Nach wie vor krittelte er an dem jungen Menschen herum, und was der von Aufnahmen, Skizzen und Grundrissen vorlegte, die Frucht seiner Reisen, wurde für jugendlich unfertig und dilettantenhaft erklärt. Vor allem aber bekam der junge Mensch zu hören, daß er pekuniär völlig vom Vater abhängig sei. Als ob Gabriel das nicht selbst gewußt und schmerzlich genug empfunden hätte!

Um so mehr Anklang fand der Sohn bei der Mutter. Sie nahm mit mütterlichem Stolz die Veränderung wahr, 93 die mit seiner Erscheinung vor sich gegangen, wie gewählt er sich jetzt kleidete und wie sicher er auftrat. Den Sinn für das Feine konnte er ja doch nur von ihr haben. Darin wollte sie den alten Tropfen Blutes wiedererkennen, der ihrem Sohn durch sie in den Adern floß. Und sie hatte damit nicht ganz unrecht: Gabriel Bartusch war ein Mensch von verfeinerten Bedürfnissen, von unruhigem Blute, dessen Nerven gegen die spießbürgerliche Atmosphäre des Vaterhauses beständig revoltierten.

Gabriel machte, bald nachdem er angekommen, bei den Lüdekinds Besuch. Er traf die Mutter an und Thekla.

Das junge Mädchen kam ihm mit unbefangener Herzlichkeit entgegen. Sie hatte bereits gehört, daß er da sei und sich auf seinen Besuch gefreut. Auch sie war angenehm durch die Vervollkommnung überrascht, die mit Gabriel vor sich gegangen. Man hatte einen Herrn vor sich.

Das Gespräch war naturgemäß auf seine Reise gekommen. Er erzählte von Städten, Kirchen und Profanbauwerken. Frau von Lüdekind, für die ein Gebiet der Kunst dem anderen glich, wie ein Ei dem anderen, sprang mit einem kühnen Satze vom Dom zu Speyer über zu Theklas Malerei. »Gieb mir einmal die Veilchen dort von der Wand mit den Maikätzchen und dem aufgeschnittenen Apfel, die du gemalt hast, mein Kind! Herr Bartusch wird sich als Künstler dafür interessieren.«

Für Thekla hätte die Mutter kaum einen ungelegneren Wunsch aussprechen können. Sie wußte, daß an ihren Sachen nicht viel war, und fürchtete Gabriels kritischen Blick. Zögernd kam sie dem mütterlichen Befehle nach.

Gabriel war höflich genug, mit ein paar nichtssagenden Worten über die »unverkennbaren Fortschritte«, von dem Blatte, das er in Wahrheit furchtbar unbedeutend und ohne jede persönliche Note fand, abzugehen. Er sprach 94 von Musik, erwähnend, daß er in Mailand einer Wagneraufführung beigewohnt habe, und verbreitete sich weiter darüber, wie sich Wagner, für den er begeistert war, jetzt doch den ganzen Erdball erobert habe.

Auch hier wieder ergriff Frau von Lüdekind die Gelegenheit, Thekla in ihren Talenten vorzuführen. Wozu ließ man denn dem Kinde für viel Geld Klavierstunden geben? –

Thekla sträubte sich zwar und erklärte, sie schäme sich vor jemandem, der das Beste gewöhnt sei, ihre Leistungen zu zeigen; aber die Mutter bestand so hartnäckig darauf, daß es ein Ausweichen nicht gab. Sie spielte ein paar von den »Liedern ohne Worte« herunter, so gut sie es eben vermochte, und Gabriel murmelte, als sie geendet, etwas von »leichtem Anschlag«, und das Instrument sei vorzüglich im Klang.

Es war dem jungen Mädchen wirklich lieb, daß er bald darauf ging. Sie hatte den verhaltenen Hohn in seinen Zügen wohl gemerkt. Daß die Mutter ihr auch so etwas anthun mußte, gerade vor ihm!

Gabriel fühlte sich von seinem Besuche nur wenig erbaut. Früher war ihm der Lüdekindsche Kreis als das Höchste erschienen an Vornehmheit und Eleganz, was er kannte. Wie war auch das jetzt verblaßt! An die Erfahrung schien man sich nachgerade gewöhnen zu müssen, daß einem, nachdem man einen Blick gethan in die Welt, daheim alles zusammenschrumpfte.

Aber eine hätte er doch gern ausnehmen mögen: Thekla! Von ihr das Bild hatte er überall bei sich getragen im Geiste. An sie hatte er gedacht, als er in einer oberitalienischen Fremdenpension in den Kreis eleganter Frauen aus aller Herren Länder geriet, die ihm mit hohler Schöngeisterei zu imponieren versuchten; da hatte er sich 95 durch den Gedanken an Theklas Schlichtheit zu retten gewußt. Und in Genf, als der junge Mensch der Schwäche seiner Grundsätze und der Gewalt seiner Sinne zum ersten Male den unausbleiblichen Zoll entrichtet, da hatte er in dem trostlosen Zustande, der solcher Erfahrung folgt, sich gesagt, daß er damit sein Ideal für immer entweiht habe.

Vielleicht, weil er sie in der Phantasie ausgeschmückt hatte mit allen höchsten Gaben, konnte Thekla diesem Bilde in Wirklichkeit nimmermehr entsprechen. Gabriel fühlte sich enttäuscht, nachdem er sie wiedergesehen. Nicht daß ihre Erscheinung verloren hatte! Im Gegenteil; seinem geschärfteren Blicke entging nicht, wie die Linien ihrer Gestalt sich verfeinert hatten und welchen Schmelz ihre Haut zu entwickeln begann.

Ganz etwas anderes war es, was ihn störte. Sie kam ihm unbedeutend vor. Das Stillleben mit dem aufgeschnittenen Apfel und die Lieder ohne Worte hätte er ihr noch verzeihen können; denn sie hatte wahrscheinlich stumpfsinnige Lehrer. Aber er fand, daß sie sich überhaupt nicht weiter entwickelt habe. Sie war genau das geblieben, was sie zuvor gewesen: das gute, wohlerzogene Mädchen, die das that, was die Mutter sie hieß. Es fehlte ihr – ja, was war es eigentlich, was ihr fehlte? Er sann lange nach dem rechten Ausdruck dafür. Dann meinte er, das Richtige getroffen zu haben, wenn er meinte, daß ihr »Persönlichkeit« fehle.

Er sah sie unter günstigeren Umständen wieder. Es gelang ihm, mit ihr zu sprechen in Augenblicken, wo die Anwesenheit der Mutter nicht auf ihr lastete. Ihre Anmut entzückte ihn, und er war verliebter in sie denn je.

Aber wenn er in nüchternen Augenblicken über sein Verhältnis zu ihr grübelte, dann störte ihn einmal die 96 Beobachtung, daß sie eigentlich gegen jedermann von der gleichen Zuvorkommenheit und Freundlichkeit war, und dann mußte er sich auch sagen, daß doch ein tiefer Gegensatz klaffe zwischen seiner und ihrer Weltanschauung.

In ihm war etwas Gährendes, etwas das sich auflehnen wollte gegen Sitte und Ordnung. Er war, wie die meisten geistig frühreifen Menschen in diesem Alter, radikal. Er that sich selbst etwas darauf zu gute, gottlos und anarchistisch zu sein.

Er vermutete richtig, daß Thekla nicht die Person sei, diese Seite seines Wesens zu verstehen, geschweige sie gelten zu lassen. Er versuchte es einmal, als sie unter vier Augen waren, das Gespräch auf das religiöse Gebiet zu spielen. Aber er sah sofort an ihrer Miene, daß sie über seine Freigeisterei erschrecke. Sie war wirklich ein Lämmchen, dem man nichts anderes zu bieten wagen durfte, als den gewohnten Grünklee frommer Gesinnung.

Wie würde das später werden? – Würde er es ertragen, mit einer Frau zusammenzuleben, die er nach allem was er sah, für geistig nicht auf der Höhe halten konnte? –

Aber vielleicht würde es ihm gelingen, sie mit der Zeit zu seinem Standpunkte emporzuziehen. Er empfand eine gewisse Genugthuung bei dem Gedanken, wie sehr er ihr überlegen sei. Und er dachte jetzt bereits ernsthaft darüber nach, wie er sie zu bilden und was er mit der Zeit aus ihr zu machen gedenke.

* * *

Arthur hatte, nachdem er sein Freiwilligenjahr glücklich abgedient, die Universität bezogen. Er dehnte die 97 Osterferien so lange es ging aus, um, wie er Thekla gestand, seine Kasse zu stärken. Das Studium sei doch viel teurer als man sich's vorstelle, seufzte er. Als aber seine Schwester ganz harmlos die Frage an ihn richtete, ob denn die Herren Professoren so viel Geld für ihre Vorlesungen bekämen, lachte er unbändig, ließ sich aber auf weitere Erklärungen des Sachverhalts nicht ein.

Er hatte im Laufe des ersten Semesters gewaltig an Körperumfang zugenommen. Er war ein junger Riese mit aufgeschwemmtem Fleisch, wie es übertriebener Biergenuß hervorbringt. Wie's schien, pflegte er auch mehr mit dem Gesichte als mit dem Rappiere zu parieren. Aber er war sehr stolz auf seine kaum verheilten Schmisse.

Arthur fand, daß Finanzrat Sänger auffällig oft bei ihnen sei. Er meinte, »dem alten verhungerten Kerl« scheine Mutters warmes Abendbrot zu gefallen. Weiter ging sein Verdacht nicht. Und Thekla scheute sich, ihrem Bruder gegenüber auszusprechen, was sie darüber dachte.

Daß Sänger an Frau von Lüdekinds Geburtstag, der in diese Zeit fiel, zu Tisch geladen wurde, schien selbstverständlich. Früh schon war ein Bouquet von ihm gekommen, mit einem Briefe, der seine kleine pedantische Handschrift zeigte. Die Witwe griff, als sie an den von Thekla aufgebauten Geburtstagstisch trat, danach zuerst. Sie lachte gezwungen, steckte den Brief dann zu sich und war offenbar noch lange mit seinem Inhalt beschäftigt. Zerstreut dankte sie den Kindern, schien aber für ihre Gaben nur wenig Interesse übrig zu haben.

Als der Finanzrat erschien, war er besonders festlich gekleidet. Arthur stieß Thekla an und raunte ihr zu: er glaube, der alte Narr habe sich die Locken brennen lassen.

Auch bei Tisch legte die Witwe eine gewisse hastige Unruhe an den Tag. Thekla bedauerte die Mutter. Was 98 spielte ihr nur so mit? Etwas von der Beklemmung, welche die Hausfrau beherrschte, teilte sich auch Thekla mit. Sie fühlte sich durchaus nicht festlich gestimmt, trotz der Blumen und des Geburtstagskuchens. Ihr war, als liege heute etwas Unheilvolles in der Luft. Arthur freilich merkte nichts. Er war zwar wenig davon erbaut, daß sich der Vormund neuerdings angewöhnt hatte, ihn mit »mein junger Freund« anzureden, aber der Verdruß darüber war doch nicht so groß, um seinem Behagen Abbruch zu thun darüber, daß es heute ein besonders reichliches und auserlesenes Mittagbrot gab, und daß Champagnergläser aufgestellt waren, zum erstenmale, seit der Vater nicht mehr lebte.

Sänger schien in besonders angeregter Laune, er kam aus dem bedeutungsvollen Lächeln nicht heraus, und sprach dem Weine tüchtig zu, so daß seine Wangen bald glühten. Auf »gute Kameradschaft« trank er mit seinem Freunde Arthur. »Auf daß die Freundschaft kein Loch bekomme!« rief er Thekla zu, und daß sie ihn immer »gut behandeln möge, auch wenn er mal alt sei«, erbat er sich von Agnes.

Beim Braten erhob sich Sänger zum Toaste. Er begann mit pastorenhaftem Tonfall und Gestus von dem Trauerfalle, der vor nunmehr zwei Jahren dieses Haus getroffen habe. Es sei Ehrenpflicht, auch an einem Tage wie dem heutigen, des teuren Verstorbenen zu gedenken. Er dürfte wohl annehmen – und dabei senkte er die Stimme – daß der selig Entschlafene vielleicht gerade in diesem Augenblicke herabschaue auf sie, und an ihrem Beisammensein unsichtbar teilnehme.

Thekla war ganz abgezogen durch das, was sie an ihrer Mutter wahrnahm. Frau von Lüdekind saß da wie von Blut übergossen und zitterte so stark, daß es die Tochter neben ihr deutlich fühlte.

99 Warum mußte der unselige Mensch die Mutter so quälen, und sie alle mit ihr? Sie wußten doch, was sie an dem Vater verloren hatten, auch ohne ihn!

»Aber das Leben ist nun mal so!« rief Sänger, plötzlich den Grabeston fallen lassend. Man könne nicht ewig trauern, auch der berechtigtste Schmerz kenne seine Grenzen, und das Glück wolle sein Recht haben. Wie man schon vor einem Jahre die Trauerkleider abgelegt habe, so solle der heutige Tag nun auch den Abschluß bilden des inneren Kummers; denn er sei ein Freudentag in doppeltem Sinne. Einmal weil heute der Geburtstag der Hausfrau und Mutter dieser Familie gefeiert werde, sodann aber auch – hier stockte er einen Augenblick und nickte dem Geburtstagskinde ermutigend zu – sodann aber auch halte er sich für verpflichtet, nunmehr zu erklären, was sie wohl schon ahnten. Keine bessere Gelegenheit könne er sich denken, als dieses Fest, das sie wie eine einzige Familie bereits vereine. Mit kurzen Worten denn: er wolle die Kinder zu Zeugen machen seines und ihrer Mutter Glück, denn sie seien Verlobte.

Damit schloß er und schaute sich mit siegesgewissem Lächeln im Kreise um. Agnes, die von früheren Geburtstagsreden her wußte, daß man bei solcher Gelegenheit tüchtig »Hoch« rufen müsse, ließ denn auch ihre helle Stimme erschallen und war sehr erstaunt, daß niemand einfiel. Thekla saß wie erstarrt und blickte auf die Mutter. Arthur gab sich keine Mühe, sein unmutiges Erstaunen zu verbergen.

Es waren peinliche Minuten. Frostig fiel die Frage Sängers in die allgemeine Verstimmung: ob die Kinder denn nicht mit dem Brautpaare anstoßen wollten.

Als niemand dazu Anstalten machte, ergriff er noch einmal das Glas und ging um dem Tisch. Er umarmte 100 und küßte Arthur, der nicht wußte, wie ihm geschah. Auch Thekla fühlte auf einmal seinen weinfeuchten Schnurrbart an ihrer Wange. Einzig von Agnes erhielt Sänger einen herzhaften Kuß zur Entgegnung. Das Kind fand den Gedanken zu spaßig, daß ihre Mama einen Bräutigam habe.

Die Erwachsenen waren froh, als dieses Mittagsmahl zu Ende ging. Auch Sänger hatte inzwischen gemerkt, daß Arthur und Thekla über die Aussicht, ihn zum Stiefvater zu bekommen, wenig erfreut schienen. Das befremdete ihn, denn er hatte wirklich geglaubt, die Kinder müßten hochbeglückt sein.

Thekla ging nicht mit in den Salon zum Kaffee, sie begab sich auf ihr Zimmer, wohin ihr Arthur sehr bald nachfolgte. Das Mädchen schluckte an Thränen. Arthur lief im Zimmer auf und ab und erging sich in lauten Verwünschungen. Sänger wäre der widerwärtigste Mensch von der Welt, und nun solle er ihn zum Stiefvater bekommen. Was das für eine schreckliche Blamage sei! Er getraue sich gar nicht mehr, vor seine Korpsbrüder zu treten, die würden ihn schön auslachen! Auch noch einen Bürgerlichen zu nehmen! Hatte denn die Mutter gar nicht bedacht, wie sie sich degradiere? –

Thekla war von solcher Sorge sehr weit entfernt. Ihr Kummer entsprang ganz anderen Empfindungen. Sie fühlte vor allem die Schmach, die man dem Toten anthat. Sie wußte, daß das, was ihre Mutter vorhatte, seiner nicht würdig war. Der Vater lag da draußen unter dem kalten Steine mit der goldenen Inschrift, und konnte nichts dazu sagen, nichts dagegen thun. Ihm geschah bitteres Unrecht.

Thekla hatte Arthur noch nie so aufgeregt gesehen. Er sprach davon, daß er in seiner Ehre gekränkt sei, und daß er Sänger fordern werde. Aber dem Ton, in welchem 101 er das vorbrachte, war anzuhören, daß er wohl selbst nicht an den Ernst solcher Drohung glaubte.

Übrigens entschlüpfte ihm in der Erregung ein Geständnis der Schwester gegenüber: er habe Schulden gemacht, schon in der Militärzeit, und könne sie jetzt von seinem Wechsel nicht bezahlen. Das Schlimme sei, die Mutter, auf die er gerechnet habe, werde in Zukunft wohl nichts thun, als was ihr geliebter Sänger gut heiße. Und der sei der »schofelste Knauser«, den es nur gebe. Da müsse er eben noch das ganze Jahr zu Ende warten, bis er in den vollen Besitz seines väterlichen Erbteils gelange. Solange würden die Gläubiger wohl noch stunden. Wenn er erst mündig sei, dann könne ihm kein Stiefvater mehr was reinreden.

Thekla ahnte, daß darin etwas Bedenkliches liege. Sie bat den Bruder, offen zu sein gegen die Mutter; sie selbst verstand zu wenig von diesen Dingen, um ihn wirklich beraten zu können.

Am Abende dieses ungewöhnlichen Tages kam die Mutter zu ihr. Es war lange Zeit her, seit Frau von Lüdekind ihre Tochter zuletzt im Schlafzimmer aufgesucht hatte. Thekla war schon halb entkleidet, und warf schnell einen Mantel über, als sie sah, daß sich die Mutter wohl zu einer längeren Aussprache häuslich bei ihr niederließ.

Das Kind wußte, wovon gesprochen werden sollte; zwischen ihnen gab es doch heute nur ein mögliches Thema. Und doch sprach Frau von Lüdekind von allem anderen eher, als von dem Außerordentlichen, das ihrer beider Seelen bewegte.

Als Thekla noch klein gewesen, da hatte sie wohl manchmal etwas verbergen müssen vor den Eltern, um der Strafe zu entgehen. Und selbst später – es war noch gar nicht so lange her – hatte sie nicht immer ein ganz 102 reines Gewissen gehabt in Gegenwart der Mutter. Und nun schien sich das in's Gegenteil verkehrt zu haben. Die Mutter schämte, fürchtete sich wohl gar vor ihr! –

Thekla war ja nicht ganz unvorbereitet gewesen auf das, was sich heute vollzogen hatte. Aber damals, als Lilly mit dreister Rede auf die Beziehungen zwischen der Witwe und dem Finanzrat anspielte, da hatte sie empört den Gedanken einer solchen Möglichkeit zurückgewiesen. Und immer, wenn seitdem ihr Verdacht nach dieser Richtung gelenkt wurde, hatte sie versucht dagegen anzukämpfen, wie gegen etwas, das ihrer Mutter nicht würdig sei. Um so bestürzender wirkte daher jetzt die Erkenntnis auf sie, daß Lilly richtig beobachtet hatte. Damals also schon, wo der Vater noch kein Jahr tot war – – Thekla wollte dem gar nicht weiter nachsinnen; man kam da auf zu häßliche Gedanken.

So saßen sich Mutter und Tochter gegenüber und keines sagte dem anderen offen, was es meinte. Bis die Witwe sich, ein Herz fassend, plötzlich erklärte, ohne Thekla dabei anzusehen: Der Vormund sei sehr betrübt gewesen, daß Thekla und Arthur, was er ihnen heute eröffnet, so wenig freundlich aufgenommen hätten.

Thekla erwiderte nichts darauf. Die Mutter fuhr ziemlich erregt fort: Der Finanzrat sei ein ausgezeichneter Mann. Der Verstorbene habe ihn auch sehr hoch geschätzt und sie thäten sehr unrecht daran, ihrem Vormund den schuldigen Respekt zu versagen. Sänger habe Besseres um sie verdient.

Dann verteidigte sie den Schritt, den sie vorhatte. Sie habe lange und reiflich überlegt, was sie thun solle. Es sei ja keine Kleinigkeit für sie in ihrem Alter. Aber sie fühle sich so schutzlos und verlassen in der Welt. Eine Witwe habe es schwer. Sie sei auch fest überzeugt, daß 103 der Verstorbene nichts dagegen gehabt haben würde. Und sie habe nicht anders gekonnt.

Thekla vernahm die Worte, aber sie überzeugten sie nicht im geringsten. Frau von Lüdekind mußte aus dem beharrlichen Schweigen des Kindes den Vorwurf wohl heraushören. »Mein Kind!« sagte sie mit weicherer Stimme als bisher, »du mußt mich nicht hart beurteilen. Es mag ja ungewöhnlich erscheinen, was wir vorhaben. Vielleicht wird es mir auch sehr verdacht werden von den Menschen. Aber ich glaube bestimmt, daß du mich verstehen wirst, Thekla, wenn du erst einmal wissen wirst, was Liebe ist.«

Damit küßte Frau von Lüdekind die Tochter und ging weinend aus dem Zimmer.

Die letzten Worte hatten Eindruck gemacht auf das Mädchen. Die Mutter sprach von »Liebe«. War es denkbar, daß sie den Mann liebte? –

Liebe! Sie hatte sich darunter etwas ganz anderes vorgestellt. Liebe war etwas unsagbar Hohes und Herrliches. Eine Ahnung davon glaubte sie gewonnen zu haben in jenen frühen Tagen, wenn ihr Vater ihr sanft über das Haar strich, und so freundlich mit ihr sprach, wie sonst kein Mensch auf der Welt sprechen konnte. Und in der Schule hatte sie Fräulein Zuckmann geliebt, wenn Liebe Bewunderung ist und der Wunsch, gut zu sein aus Dankbarkeit. Liebe war wohl auch das, was sie für Tante Wanda empfand, wenn es da auch manchmal gestört wurde durch das Beängstigende, schwer zu Verstehende an dem alten Fräulein. Liebe war vor allem das Gefühl der Demut vor Gott und der Hingebung gegen den Heiland, wie es der Konfirmationsunterricht in ihre Seele gepflanzt hatte.

Und dann gab es eine ganz andere Liebe, von der sie in Büchern gelesen hatte. Das war die Liebe irdischer 104 Art, die Weltlust, die zu jener göttlichen Liebe im Gegensatze stand. Sie empfand einen geheimen Schauer vor solchen Dämonen; aber doch hatte es etwas süß Lockendes, sich in Gedanken bis an den Vorhof dieses Geheimnisses zu wagen.

Von alledem hatte das Verhältnis zwischen ihrer Mutter und dem Vormunde nichts. Da war nichts Hohes dabei und nichts Liebliches. Und doch hatte die Mutter von »Liebe« gesprochen.

Sie sollte das später verstehen! – Wann würde das sein? – Ein Frösteln überlief plötzlich ihren jungen Leib. Sie hüllte sich fester in die Bettdecke ein.

 


 


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