Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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V.

In der ganzen Verwandtschaft herrschte Freude. Im Laufe ein und derselben Woche war Agnes von einem Knaben und Ella von einem Mädchen entbunden worden. Beide Mütter hatten ihr Stündlein tapfer überstanden, und die jungen Erdenbürger erfreuten sich ausgezeichneten Wohlbefindens. Alles, was man billiger Weise in diesem Alter von ihnen erwarten konnte, leisteten sie in befriedigender Weise.

Thekla war viel bei den jungen Müttern. Sie liebte beide, den kleinen Neffen, wie die junge Nichte; aber der Junge stand ihrem Herzen im Grunde doch näher. Es war eben ein Junge und ihre Schwester hatte ihn geboren! Aber Ella durfte davon um Gotteswillen nichts merken, sie neigte sowieso zur Eifersucht. Niedlich und süß war ja auch ihr kleines Mädelchen. Aber dieser Junge! –

Thekla hätte nie gedacht, daß man zu einem so winzigen Dinge in solch ein Verhältnis treten könne. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag in der Wochenstube geblieben. Seeheim meinte scherzend, durch »Tante Thekla« hätte man sich die Kinderfrau ersparen können.

Das »Tante«-sein war eine ganz neue Erfahrung für Thekla. Überhaupt hatte sie noch nie mit so kleinen Kindern zu thun gehabt. Aber mit jener, den Frauen einmal angeborenen Gabe für diese Dinge erlernte sie alles, 304 was zur Wartung des Säuglings gehört, im Handumdrehen, daß sie den Wöchnerinnen bald zur unentbehrlichen Stütze wurde.

Beide, Agnes wie Ella, sonst so verschieden, zeigten hier Gemeinsames: sie waren eigenwillig und launisch während der Wochen. Zunächst mußten ihre Männer darunter leiden. Aber auch von ihren eigenen Müttern wollten sie nicht viel wissen. Großmütter seien unpraktisch und verzögen nur die Enkel, behaupteten diese jungen Frauen. Frau Bartusch sowohl, wie Frau Sänger wurden nur zeitweise geduldet, während Tante Thekla ein immer gern gesehener Gast war. Es verstand sich von selbst, daß sie zu beiden Kindern als Pate gebeten wurde.

So aufrichtig Thekla den beiden auch das Mutterglück gönnte, einen herben Beigeschmack hatte dieses Erlebnis doch für sie. Agnes, ihre jüngere Schwester: Mutter! Agnes, die sie halb und halb aufgezogen hatte. Und Ella, ihre Jugendgespielin, in gleicher Weise gesegnet! Was für Gedanken konnten einen da beschleichen! –

Zwar das, was ihre Mutter ihr manchmal prophezeite: sie werde sitzen bleiben, hatte sie noch niemals ernsthaft geschreckt. Man konnte auch als alte Jungfer Weib sein bis in die Fingerspitzen. Verheiratet oder unverheiratet, für das innerste Wesen der Persönlichkeit blieb das ohne Unterschied! Und etwa danach, Rang und Stellung einer Frau einzunehmen, hatte sie's auch nicht gelüstet bisher. Nein, unbefriedigt, verbittert war sie nicht, davon durfte sie sich freisprechen.

Aber wenn sie eines dieser kleinen nackten Wesen im Bade erblickte, in seiner Unschuld und Hilfsbedürftigkeit, oder gar, wenn es ihr gestattet wurde, das Dingelchen in den Arm zu nehmen und in den Schlaf zu wiegen, dann kam Sehnsucht nach Unnennbarem über sie. Es mußte doch etwas 305 Eigenes sein, sich sagen zu können: das ist dein Kind! Unbeschreibliches Glück!

Wenn Thekla nach solchem Tage abends nach Haus ging und in ihrer Häuslichkeit stundenlang für sich war, überkam sie ein Gefühl großer Vereinsamung und Leere. War nicht alles schal und zwecklos, wenn man das nicht hatte, dieses Höchste! Die Freude an dem, was sie besaß, war ihr vergällt. Dann kam schwere Melancholie herangeschlichen. In solcher Stimmung war es am besten, man ließ niemanden zu sich. Gesichter waren unerträglich. Kein Mensch sollte davon etwas wissen!

Sie wußte es ja ganz genau, was sie alle von ihr wünschten und erwarteten! Ihre Mutter spielte darauf an: »Thekla, du bist dreiundzwanzig Jahre. Es wird nun Zeit!« Deutlicher noch sprach die alte Kathinka: »Gnädiges Fräulein, an Ihrer Stelle heiratete ich mir en Mann! Unsereens, ja das is was Andres! Unsereens kann nich, weil's Geld fehlt. Aber schließlich da wird och mal en Oge zugedrückt in jungen Jahren, ich meene bei unsereenem. Aber bei feinen Damen geht das nich. Drum spreche ich: Sie müssen sich eenen heiraten.«

Kathinka war eine gewöhnliche Person, und ihre Auffassung gemein. Aber so wie sie, dachten im Grunde viele. Daß die Frauen nicht stolzer waren!

Überall, wohin Thekla blickte, warfen sich die Frauen weg. Hedwig in ihrer nächsten Nähe, dieses saubere, flinke und kluge Mädchen hatte sich an einen Menschen gehangen, dessen windige Art leider mehr und mehr zu Tage kam. Was mußte sie bei ihren Armenbesuchen nicht erleben an weiblicher Schwäche und Thorheit dem Manne gegenüber. Und benahm sich so eine wie Lilly denn sehr viel anders? – War der ihre Jagd nach dem Manne nicht ein wenig raffinierter bloß, im übrigen genau 306 dasselbe? – Thekla fing jetzt an, Tante Wanda Recht zu geben, wenn sie über die Würdelosigkeit der Frauen, ihre Halbheit und Unselbständigkeit geklagt hatte.

Ja, wenn man die Geister der Entschlafenen hätte citieren können! Die Nichte hatte mancherlei auf dem Herzen, was sie Wanda Lüdekind hätte vorlegen mögen.

* * *

Man hatte für einen Tag im Hochsommer einen gemeinsamen Ausflug auf's Land verabredet. Das Ziel bildete ein beliebter Ausflugsort nahe dem Walde. Ein geräumiger Stellwagen war gemietet worden, der das Ehepaar Sänger, Thekla, die beiden jungen Paare mit ihren kürzlich getauften Kindern fortbringen sollte. Die richtige »Familienfuhre«, wie die Herren es bezeichneten.

Die Damen hatten vollauf mit den Babys zu thun. Kinderpersonen waren diesmal nicht mitgenommen worden, weil man sich den »Spaß« machen wollte, die Kleinen einmal ganz für sich zu haben. – Den Männern erschien der Spaß allerdings fraglich. – Wenn das eine glücklich aufgehört hatte mit Weinen, begann das andere zu schreien. Da nicht weniger als vier erwachsene Frauen um zwei Kinder beschäftigt waren, gab es ein fortwährendes Beschwichtigen, Hin- und Herreichen, Umbetten, Wechseln der Windeln sogar. Endlich beruhigten sich die Schreihälse und schliefen ein. Die Herren aber saßen in ihrer Ecke, zufrieden erst, als sie die Erlaubnis erhalten hatten, die Cigarren in Brand zu stecken.

Es konnte nicht besonders auffallen, daß Ella still war; sie gehörte ja nun mal nicht zu den Redseligen. 307 Die Verwandten wußten zudem, daß die Familie Bartusch wieder Verdruß hatte mit Gabriel. Was es eigentlich sei, ob sich Vater und Sohn von neuem überworfen hätten, ob Gabriel etwa im Berufe Unglück gehabt habe, sagten sie nicht. Nur soviel erfuhren die Nächststehenden: Gabriel war im Lande, er schien Südrußland aufgegeben zu haben. Er suche nach Beschäftigung in der Nähe, hieß es.

Thekla wunderte sich um so mehr über diese Nachricht, als ihr nur zu gut in Erinnerung war, was Gabriel ihr vor einem Jahre selbst gesagt. Wie wegwerfend hatte er damals von der Heimat gesprochen! Und nun war er doch wieder hier. Merkwürdigerweise wohnte er aber nicht bei den Eltern. Ja, es schien überhaupt kein Verkehr zwischen ihm und den Seinen stattzufinden. Nicht einmal zur Taufe von Ellas kleinem Mädchen war er erschienen. Thekla hatte es bisher nicht gewagt, Ella unter vier Augen nach der Ursache dieser befremdenden Erscheinung zu fragen, von einer dunklen Ahnung erfüllt, daß sie nichts Erfreuliches erfahren möchte.

Es war von jeher Sängers besondere Gabe gewesen, wenn es in seiner Umgebung irgendwo etwas Unangenehmes, Heikles, Schmerzliches gab, über das jeder Taktvolle gern sich ausschwieg, einen solchen wunden Punkt erst recht fühlbar zu machen. Er hatte wohl gemerkt, daß man neuerdings in der Familie Bartusch es vermied, Gabriels Namen zu nennen. Das reizte seine Neugier. Er fragte Ella: warum sich denn ihr Bruder gar nicht blicken lasse? Neulich habe er ihn in der Stadt gesehen. Herr Bartusch sei da mit einer Dame gegangen, einer jungen Dame. Ob Ella ihm sagen könne, wer das gewesen?

Ella errötete und stammelte Unverständliches. Das 308 peinliche Schweigen, welches entstand, belehrte den Finanzrat noch nicht. Er machte »Aha!« und zwinkerte den Herren verständnisvoll zu. Seeheim wußte das Gespräch auf ein anderes Gebiet zu leiten.

An Ort und Stelle angekommen, sonderten sich die Herren bald ab, um ungestört durch Kindergeschrei, wovon sie auf der Fahrt zur Genüge genossen hatten, ihre eigenen Wege zu gehen.

Die Frauen breiteten sich inzwischen auf einer Wiese nahe dem ländlichen Gasthause aus. Im Schatten einiger alter Obstbäume ließ man sich mit den Babys nieder. Die jungen Mütter stillten; das beste Mittel, die Kleinen zur Ruhe zu bringen. Vorher hatte man sich das der Herren wegen nicht getraut. Man fühlte sich unendlich frei und behaglich. Es war ein herrlicher Tag, der Himmel wolkenlos. Auf der Wiese, die auch als Bleichplan benutzt wurde, lag Wäsche gebreitet, über die ein leichter Wind strich, eine Wolke von feuchter Würze mit sich führend.

Auf der Landstraße, die hinter der Weißdornhecke lief, kamen jetzt ein paar Radfahrer vorüber, Herr und Dame. Es war etwas in dem Gesichte der Frau, was Thekla schärfer hinblicken machte. Ella, die neben ihr saß, stieß einen Ruf der Bestürzung aus. Alle sahen verwundert aus; was hatte sie? Ella blickte dem Paare nach, das hinter der Hecke verschwand. Ihr Gesicht hatte sich verfärbt.

Frau Sänger und Agnes drangen in Ella, zu sagen, wer das gewesen sei. Mit halblauter Stimme antwortete Ella nur: »Gabriel!«

»Ist er verlobt, oder gar heimlich verheiratet?« rief Agnes. »Ihr stellt euch ja alle so furchtbar geheimnisvoll an! 's ist wohl was Unpassendes dabei? Jetzt, wo die 309 Männer glücklich fort sind, kannst du mal offen sagen, was eigentlich los ist, Ella!«

Ella schwieg. Als ihr Agnes aber noch weiter zusetzte, mit dem Bemerken, sie seien doch keine kleinen Kinder, berichtete sie, einen besorgten Blick auf Thekla werfend: Gabriel lebe mit einer Person zusammen, die ihm aus Rußland nachgereist sei. In welchem Verhältnis sie zu einander stünden, wisse man nicht genau; ihr Vater nenne es: »wilde Ehe!«

Agnes war geneigt, das sehr interessant zu finden, Frau Sänger hingegen entrüstete sich. Sie bedauerte »die armen Eltern«, in einem Tone, dem man deutlich die Schadenfreude anhörte. Thekla sagte nichts.

Plötzlich hörte man Schritte. Neben ihnen in dem Gärtchen des Wirtshauses, nur durch einen niedrigen Holzzaun von der Wiese, auf der sie sich ausgebreitet hatten geschieden, erschien eine Dame in Radfahrertracht.

»Nun wird's brenzlich!« rief Agnes. Ella war aufgestanden und schien nicht übel Lust zu haben, wegzulaufen. Frau Sänger aber klagte, daß die Herren sie in solcher Situation im Stiche gelassen hätten. »Wir müssen thun, als sähen wir nichts! Thekla, daß du nicht hinguckst, sonst haben wir das Frauenzimmer gleich auf dem Halse! Und du, Agnes, lachst nicht! Ella, wenn ihr solche Geschichten in der Familie habt, so ist das schlimm genug, wir wollen jedenfalls nicht damit in Berührung kommen. Wenn doch mein Mann bloß hier wäre!« –

Trotz des mütterlichen Verbotes blickte Thekla gespannten Auges auf die Fremde. Die schien sich nach einem Platz zum Ausruhen umzuschauen. Ihre Figur, nicht besonders groß, war von seltenem Ebenmaß. In der kleinen zierlichen Hand hielt sie eine schwuppige Gerte. 310 Auf dem kurzgehaltenen dunklen Lockenhaar saß keck der bunte Tamoshanter. Das helle Blusenhemd wurde in der Taille von einem Ledergürtel zusammengehalten. Ein wohlgestalteter Knabe, hätte man gesagt. Thekla konnte den Blick nicht von ihr lassen.

Nun bemerkte die Fremde die Gesellschaft auf der Wiese und trat dicht an den Zaun heran, über den sie sich lehnte. »Unverschämtheit!« rief Frau Sänger und setzte sich, mit dem Rücken gegen sie.

Thekla konnte nun die Züge genau sehen. Welch merkwürdiges Gesicht! Voll Kühnheit, Rasse und voll Eigensinn. Die Nase kurz, eine krause Stirn, das Auge kühl, ja verächtlich blickend, und dazu ein Kindermund mit blühenden Lippen zwischen vollen Wangen.

Nichts von der Aufregung ahnend, die sie erregte, blickte die Fremde auf die Gruppe von Frauen und Kindern unter den Obstbäumen. Sie lächelte träumerisch; ganz Weib für einen Augenblick. Dann wieder einem mutwilligen Knaben gleich, schlug sie mit der Gerte nach den Köpfen von Schierlingsstauden, die am Zaun entlang wuchsen. Ein befriedigtes Lächeln flog um den kleinen Mund, wenn ein Hieb saß. Thekla mußte an das denken, was Gabriel über Frauen zu ihr gesagt hatte vorm Jahr, als sie nebeneinandergesessen. Sie begriff es, daß diese Frau seine Leidenschaft hatte entzünden müssen. Wie sie jetzt leuchtenden Auges mit halbgeteilten Lippen aufhorchte, als erlausche sie in der Ferne einen bekannten Ton.

»Gabriel, hier bin ich! Komm doch!« Die Stimme klang schmiegsam und wohllautend; in der Aussprache verriet sich die Ausländerin nur wenig.

Ein Mann kam aus dem Hintergrunde des Gartens langsam nach vorn, er trat bis nahe an die Gefährtin heran. Dann blieb er mit einem jähen Rucke stehen; 311 sein Blick war auf die Gruppe unter den Bäumen gefallen.

Gabriels Miene verdüsterte sich, nahm jenen feindlich verbissenen Ausdruck an, den Thekla so gut kannte. Er that noch einen Schritt, faßte das Mädchen am Handgelenk, raunte ihr etwas zu, riß sie weg. Sie folgte ihm, halb gezogen. Für einen Augenblick wandte sie den Oberkörper und sah noch einmal zurück. Ihr Gesichtsausdruck prägte sich Thekla tief ein.

Dann hatte er sie schon wieder erfaßt und zwang sie, ihm zu folgen. Bald darauf hörte man ein Klingeln und ein paar vornübergebeugte Gestalten sausten im Staube der Landstraße davon.

Thekla hatte an diesem Tage noch viel zu leiden, Natürlich erzählte ihre Mutter das Erlebte brühwarm den Herren, als diese von ihrem Spaziergange zurückkehrten. Sänger, dessen Spezialität alles war, was in das moralische Gebiet schlug, erging sich dann sattsam über die Verwerflichkeit solcher Verhältnisse im allgemeinen, und bedauerte Ella und Arthur und seine Frau, sich selbst, kurz sie alle im besonderen, daß sie in ihrer nächsten Nähe einen solchen Fall von »Dekadence« erleben müßten. So daß Ella, die schon lange mit den Thränen gekämpft hatte, schließlich zu weinen begann, Arthur einen roten Kopf bekam, und selbst Seeheim, der der Sache am fernsten stand, eine verdrossene Miene annahm. Welche Folter Thekla auszustehen hatte, ahnte niemand.

*               *

Einige Wochen nach diesem Erlebnis fragte Reppiner bei einem seiner Abendbesuche: 312 »Sie sind doch, soviel ich weiß, durch Ihren Bruder mit der Familie Bartusch verwandt, oder doch um die Ecke rum verschwägert – nicht?«

Thekla bejahte.

»Und wenn ich nicht irre, waren Sie auch mit einem jungen Herrn dieses Namens bekannt? Ich kann mich entsinnen, ihn sogar hier bei Tante Wanda gesehen zu haben.« –

Thekla meinte: weshalb er sie danach frage.

»Halten Sie viel von dem Betreffenden?« gab Reppiner zur Antwort. Thekla sah ihn erstaunt an. »Es steht nämlich heute etwas in den Blättern von ihm. Aber erfreulich ist es nicht, das sage ich Ihnen gleich.«

Ihr Busen hob sich. Mit stockendem Atem fragte sie: was denn passiert sei? – Reppiner blickte sie aus mißtrauischen Augen forschend an. Er zog ein Zeitungsblatt aus der Brusttasche.

»Zu hören bekommen würden Sie's ja sowieso! Deshalb gebe ich's Ihnen lieber gleich. Da, unter Lokales!«

Sie las: »Ein beklagenswertes Verbrechen ist gestern in später Stunde verübt worden, das umsomehr peinliches Aufsehen zu erregen geeignet ist, als der Thäter den besseren Ständen angehört und ein Mann von Bildung ist. Ein Herr G. B., Sohn einer hiesigen angesehenen Familie, hatte vor einigen Monaten in einer Vorstadt-Villa Quartier bezogen. Dort wohnte er mit einer jungen Dame zusammen, mit der er aber durch kein legitimes Band verbunden war. Aus irgend einem bisher noch nicht aufgeklärten Grunde sind die beiden in Zwist geraten – man vermutet Eifersucht von Seiten des jungen Mannes. – Herr B. feuerte einige Revolverschüsse auf das Fräulein ab, von denen einer traf und die Beklagenswerte tödlich verletzte. Hausbewohner eilten auf die Schüsse herbei 313 und versuchten den B. zu entwaffnen. Es gelang ihm jedoch, die Waffe gegen sich selbst zu richten und einen Schuß abzufeuern, der nur die Stirn streifte. B. befindet sich außer Lebensgefahr. Das Fräulein ist im Laufe der Nacht bereits seiner Verletzung erlegen. B. ist verhaftet, verweigert aber vorläufig jede Auskunft über die Motive seiner That.« –

Thekla schlug die Hände vor die Augen. Sie sah im Geiste das junge Weib vor sich, dessen Züge ihr einen so tiefen Eindruck gemacht hatten, sie sah ihren letzten rätselhaften Blick. War es zu fassen? Dahin war es mit Gabriel gekommen! – –

»Herr Bartusch selbst ist ja außer Lebensgefahr,« sagte Reppiner spöttisch. »Es scheint leichter zu sein, auf andere zu zielen, als auf sich selbst!«

»Ein armes, unschuldiges Wesen zu töten!« rief Thekla.

»Ja, es ist die That eines Verrückten!« meinte Reppiner.

In Theklas Gemüt regte sich noch keine Spur von Mitleid für den Thäter. Sie sah nur die That, die ihr das Blut erstarren machte.

»Ein sehr excentrischer Herr muß es sein!«

Es reizte ihn, mehr aus Thekla herauszubekommen. Vor allem hätte er gerne gewußt, ob es des Mädchens oder Gabriels Geschick sei, was ihr so nahe ging.

»Hat er schon früher ähnliche Anwandlungen gezeigt?« fragte er, genau ihre Züge beobachtend. »Sie haben ihn doch gut gekannt. Solche Anlagen pflegen sich früh zu zeigen.«

»Ich weiß nichts, ich weiß gar nichts! Quälen Sie mich nicht, Reppiner!« rief Thekla außer sich. »Sie sehen doch, daß ich Ihnen darüber nichts sagen kann.«

314 Er stand auf und griff mit einer Miene, die deutlich seine Kränkung zeigte, nach dem Hute.

»Kommen Sie bitte morgen wieder, Reppiner,« bat Thekla in versöhnlicherem Tone. »Verzeihen Sie mir! Ich muß mich erst fassen!«

Bald nachdem der Advokat gegangen, machte sich Thekla zu Ella auf den Weg. Sie fühlte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, den dieses entsetzliche Geschehnis auch etwas anging.

Sie fand nur Arthur zu Haus. Ella war, sobald sie das Unglück erfahren hatte, zu ihren Eltern geeilt. Arthur befand sich in begreiflicher Erregung, doch beschränkten sich seine Klagen darauf, daß er einen solchen Schwager besitze! Er sah in erster Linie das an dem Falle, was für ihn selbst unangenehm war.

Bei Arthur hielt es Thekla nicht lange aus. Einen Augenblick dachte sie daran, ob sie Bartuschs aufsuchen solle, die unglücklichen Eltern. Aber dann sagte sie sich, daß ihr Besuch leicht mißverstanden werden könne. Nein, sie hatte bei Gabriels Eltern nichts zu suchen, selbst in diesem Augenblicke nichts! Sie ging also wieder nach Haus.

Das erste Entsetzen, das sie hart und feindlich gestimmt hatte gegen Gabriel, war nun einer weicheren Stimmung gewichen. Wie furchtbar traurig war doch seine That! Er hatte sich mit Schuld bedeckt, die nie wieder gut zu machen war. Wie konnte er, diese That auf dem Gewissen, je wieder glücklich werden? Sein Leben war zerstört.

Während Thekla ruhelos in ihrem kleinen Salon auf und abschritt, suchte sie sich noch einmal Gabriels ganze Persönlichkeit zu vergegenwärtigen, wie sie ihn von Jugend auf gekannt. War er ein Mensch gewesen, dem man hätte 315 Brutalität zutrauen können? Sie konnte sich manches verwegenen Streiches von ihm entsinnen, aber niemals hatte er eine That begangen, die ihr roh oder gemein hätte erscheinen müssen. Und wenn sie sich den ganzen Menschen vorstellte, den Mann, wie er sich vor ihren Augen entwickelt hatte: hochgebildet, feinfühlig, für das Ästhetische empfänglich, eine Künstlernatur, nervös und heißblütig ja! Aber doch nicht wild, grausam, gewaltthätig! Nur wenn in seiner Ehre gekränkt, hatte er nicht vergessen können, und sein Haß war dann ein verzehrendes Feuer gewesen.

War es etwa die That eines Eifersüchtigen? Thekla rief sich noch einmal die Züge des Mädchens in's Gedächtnis zurück. Dieses feine Gesichtchen, den lieblichen Kindermund. Es war schwer an ein Verschulden von ihrer Seite zu glauben. Und selbst, wenn sie ihn auf's tiefste gekränkt hätte, blieb es nicht trotzdem die Handlung eines Barbaren, eine wehrlose Frau zu töten! –

Was mußte sich in dem Innern eines Mannes abgespielt haben, ehe er zu solchem Handeln kam! Erfolg, Ruf, seine ganze Existenz zu vernichten! War es ein Fortgerissenwerden in sinnloser Leidenschaft, die nicht hört und sieht, was sie thut? – So war Gabriel nicht veranlagt. Bei aller Heißblütigkeit hatte er sich doch immer erstaunlich in der Hand gehabt.

Immer dunkler wurde das Rätsel seiner That für Thekla, je länger sie darüber nachsann. Sie hätte sich wohl die Gedanken daran aus dem Kopfe schlagen sollen! Was nutzte es denn, wenn sie sich grämte? Geschehen war geschehen! Licht in das Dunkel würde wohl erst die Verhandlung bringen vor Gericht.

Aber es lebte in dem Mädchen eine dumpfe Ahnung, daß zwischen ihr und Gabriels That eine gewisse 316 Verbindung bestehe. Darum war sie so im Innersten erschrocken, als sie von dem Geschehnis erfahren hatte. Etwas wie Schuldbewußtsein, wie Mitwissen, bildete den verborgensten Untergrund ihrer Bangigkeit.

Gabriels That war die That eines Verzweifelten, das stand für Thekla fest. Eine tiefgehende Wandlung an ihrem Jugendgespielen war ihr im vorigen Jahre aufgefallen. Trotz seines absprechenden Wesens, seiner Schroffheit, ja seiner Feindschaft gegen sie, ja vielmehr gerade deshalb, hatte sie ihn doch vollkommen durchschauen können. Er war einer, der eine innere Wunde zu verbergen suchte, einer, der zu stolz war zu zeigen, wie unglücklich er im Grunde sich fühlt. Sein ganzes Wesen glich einem Gefäße, das einen Sprung hat. Ein großer Schmerz, eine schwere Enttäuschung hatte sein Gemüt verbittert und ihm das Dasein zum Ekel gemacht.

Wußte Thekla etwa nicht, welches Erlebnis dies gewesen? –

Sie wollte den Fall einmal ganz zu Ende denken, sich nicht scheuen vor dem Peinlichsten. War sie selbst etwa Schuld an Gabriels Verbitterung? An seiner Verzweiflung und damit an seiner That? –

Wenn sie ihn damals erhört hätte, wenn sie eingewilligt hätte, die Seine zu werden, wäre es für ihn die Rettung gewesen? – Würde es ihr, jung und unerfahren, wie sie beide gewesen, gelungen sein, seinen Charakter von Schlacken zu reinigen, ihn zu läutern? Würde sie einen besseren Mann aus ihm gemacht haben?

So hatte sie wohl also ihre Pflicht versäumt an ihm? Vielleicht waren sie von Anfang an für einander bestimmt gewesen, sie, Thekla Lüdekind und er, Gabriel Bartusch? – Sie hatte die ihr vom Schicksal zugedachte Aufgabe verkannt. Darum war wohl ihr Leben jetzt so 317 schal und zwecklos, weil sie dieser Pflicht aus dem Wege gegangen war? Furchtbar schwer fiel die Möglichkeit auf Theklas Gewissen.

Aber sie hatte ihn ja doch nicht geliebt! War das nicht ihre Entschuldigung? Konnte es Pflicht geben, wo keine Liebe war?

Aber auch dieser Gedanke entschuldigte sie nicht vor sich selbst. Hatte sie Gabriel wirklich niemals nahe gestanden, zu keiner Zeit ihres Lebens, wenn nicht in Liebe, so doch in einer Freundschaft, die der Liebe sehr nahe kam? War der Schmerz, den sie jetzt um seinetwillen empfand, denkbar, ohne daß Liebe vorausgegangen? Wer wußte denn überhaupt zu sagen, wo einem Menschen gegenüber die Liebe anfängt? Vielleicht hätte die Freundschaft sich mit der Zeit dazu ausgewachsen. Vielleicht war sie, ohne es zu wissen, an der großen Liebe vorbeigegangen, hatte die höchste Bestimmung ihres Lebens versäumt.

Es war ein dunkles Labyrinth voll qualvoller Fragen und Selbstvorwürfe, in dem sie sich zu verirren drohte. Und niemand war, der ihr den Weg in's Freie zurück hätte zeigen können!

* * *

Am nächsten Morgen ließ sich Reppiner zeitiger als gewöhnlich bei Thekla melden. Er wolle sich nach ihrem Befinden erkundigen. Aber die Art, wie er die Frage vorbrachte, ließ vermuten, daß sie wohl nicht der alleinige Grund sei seines Erscheinens.

Bald fing er denn auch von dem »Falle Bartusch« 318 an. Seit gestern abend sei etwas mehr Licht in die Sache gekommen. Damit zog er einen Packen Zeitungspapier aus der Tasche. Einige Blätter leitartikelten sogar über die »aufsehenerregende Affaire«.

Thekla warf einen flüchtigen Blick in eins der Blätter. Dort war der Fall unter der Aufschrift »Liebschaft mit tragischem Ausgang« behandelt. Aber die ersten Sätze gleich flößten ihr solchen Abscheu ein, daß sie Reppiner das Blatt zurückgab und die anderen keines Blickes würdigte.

Der Advokat steckte die Blätter wieder zu sich. Es sei das beste, wenn sie sich nicht weiter um die traurige Sache kümmere, meinte er. Sie sehe bereits ganz angegriffen aus. Ob es ihr nicht gut gehe? Thekla beachtete seine Frage nicht, sie habe eine Bitte an ihn, sagte sie: ob es nicht möglich sei, daß er die Verteidigung von Gabriel Bartusch übernehme? –

Reppiner sprang auf. »Thekla, was denken Sie von mir!«

Thekla meinte: er habe ihr selbst erzählt, daß er schon manchen Verbrecher mit Glück verteidigt hätte, und überhaupt, er genieße doch Renommee als Verteidiger.

»Ja, aber dieser Fall! – Nein, das kann ich nicht!«

Warum es nicht gehen solle, wollte sie wissen. Gerade dieser Fall müsse ihn doch locken, seine Kunst zu zeigen, habe sie geglaubt.

»Nein, es geht nicht, Thekla! Und ich kann Ihnen nicht mal den Grund sagen, warum ich diesen Mann und gerade diesen Mann nicht verteidigen will.«

»Wenn ich Sie darum bitte, Reppiner, als einen Dienst, den ich Ihnen niemals vergessen würde!« –

»Ich kann nicht! Machen Sie es mir doch nicht so schwer! Es ist eine Vorschrift für uns, daß wir die Verteidigung nicht annehmen, wenn wir persönlich befangen 319 sind. Und ich bin diesem Menschen gegenüber nicht unbefangen, aus Gründen – die meine eigene Angelegenheit sind.«

Thekla drang hierauf nicht weiter in ihn. Sie ahnte, was er meine. Beide schwiegen eine lange Zeit.

»Seine eigene Verwundung ist unbedenklich,« sagte Reppiner dann. »Er befindet sich in Untersuchungshaft. Ich habe mich heute nach allem erkundigt.«

Wieder eine lange Pause, dann fragte Thekla: »Was wird seine Strafe sein?«

»Das hängt von vielen unberechenbaren Dingen ab. Ich vermute, ja, ich glaube beinahe sicher, daß er wegen Totschlags angeklagt werden wird. Vielleicht billigt man ihm sogar mildernde Umstände zu, denn er scheint in Erregung gehandelt zu haben. Eifersucht ist im Spiele. Unter einigen Jahren Gefängnis wird es aber schwerlich abgehen. Viel kommt natürlich auch auf die Zusammensetzung der Geschworenenbank an und auf sein eigenes Verhalten bei der Verhandlung. Kurz, da sind allerhand Imponderabilien! Vorläufig verweigert er jede Auskunft. Das ist unklug von ihm, denn es macht den Eindruck der Verstocktheit. Man wird den Vorgang durch Zeugenaussagen doch schließlich feststellen. Die Wirtin ist bereits verhört. Sie giebt an, die beiden hätten sich nicht selten gestritten, das Mädchen ist oft in Thränen gesehen worden. Er scheint sie mit Eifersucht gequält zu haben. An dem Mädchen ist nichts weiter aufgefallen, als daß sie in der letzten Zeit viel Briefe empfangen und auch geschrieben hat. Wie's scheint, hat sie von ihm fliehen wollen. Es ist auch ein angefangener Brief von ihr aufgefunden worden, an einen Freund in Zürich, in welchem sie diesen bittet, ihr Reisegeld zu schicken. Ob wegen dieses Briefes der Zwist ausgebrochen ist, bleibt undurchsichtig. 320 Die Wirtin will übrigens schon früher gehört haben, daß er seine Geliebte bedroht hat. Wenn die Person das unter dem Eide aufrecht erhält, so wirkt's natürlich erschwerend. Es würde das Zuchthaus bedeuten für ihn; ja, dann kann Mord in Frage kommen.«

Thekla wehrte ihm, weiterzusprechen. Sie nahm das Taschentuch vor's Gesicht, um nichts zu sehen und zu hören. Reppiner entfernte sich mit leisen Schritten.

Es gingen Wochen in's Land. Die Untersuchung nahm ihren Gang. Thekla wurde über den Stand der Sache von Reppiner auf dem Laufenden erhalten. Auch durch Ella erfuhr sie einiges. Die Seinen durften ihn sehen. Wenn sie ihn nur selten aufsuchten, so geschah es, weil Gabriel nichts von ihrer Gesellschaft wissen wollte und sich ihre Besuche verbat. Nach allem, was man hörte, befand er sich in rätselhafter Gemütsverfassung. Auf Ellas Frage, ob er keine Reue verspüre über seine That, hatte er höhnisch geantwortet: ob sie den Pastor spielen wolle bei ihm? – Die Schwester zweifelte an seinem Verstande.

Der langsame Gang, den die Sache, da Gabriel Bartusch bei hartnäckigem Schweigen verharrte, nahm, bedeutete eine Folter für die wenigen, die trotz allem was geschehen, noch Sympathien für ihn hegten. Thekla hatte es schwer. Wie tief diese Angelegenheit sie berühre, durfte sie niemandem zeigen. Am offensten konnte sie noch gegen Reppiner sein, der nun doch einmal einen Blick gethan hatte in ihre Verfassung.

Wie er im Innersten zu der Sache stehe, ließ Reppiner nicht erkennen. Für ihn war es scheinbar nur der »Fall Bartusch«, der sein Advokaten-Interesse mehr und mehr in Anspruch nahm. Über jede günstige Aussicht, die für den Angeklagten auftauchte, berichtete er, ebenso wie er keine ungünstige unterdrückte.

321 So nahte der Verhandlungstag heran. Reppiner erklärte, es komme viel auf den persönlichen Eindruck an, den der Angeklagte machen werde. Durch solche Äußerlichkeiten lasse sich der Laienrichter noch am ersten bestechen. Für eine günstige Zusammensetzung der Geschworenenbank werde schon der Verteidiger sorgen. Als Kollege stellte er dem von Bartusch gewählten Advokaten das Zeugnis größter Schlagfertigkeit und Gewandtheit aus. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft sei zufälligerweise aber auch einer der schneidigsten seines Standes. Kurz, die Sache scheine sich zu einem interessanten Turnier zwischen Anklagebehörde und Verteidigung zu entwickeln. Im großen und ganzen aber ständen die Chancen nicht ungünstig für den Angeklagten, da die Hauptbelastungszeugin, eben jene Quartierwirtin, sich bereits bei der Vorverhandlung in arge Widersprüche verwickelt habe. Hier werde die Verteidigung jedenfalls mit Erfolg einsetzen.

Was interessierten Thekla im Grunde diese juristischen Spitzfindigkeiten! – Sie hoffte auf den redlichen Sinn der Richter, daß sie sich von Gerechtigkeit würden leiten lassen. Gabriels Unschuld sollte zu Tage kommen. Sie konnte den Glauben an ihn nicht fallen lassen. Es mußte etwas geben, das ihn entlastete. Sicherlich schwieg er nur darum jetzt so hartnäckig, weil er von seiner Unschuld durchdrungen war. Er würde in der Verhandlung auftreten und alle Vorwürfe zu nichte machen, mit ein paar Worten.

Alle um ihn her hatten ihn aufgegeben. Man interessierte sich nur noch dafür, wie hoch seine Strafe bemessen werden würde. Selbst die Seinen sprachen jetzt oft in wegwerfenden Ausdrücken von ihm. Sie sahen vor allem die Schande, die er über die Familie gebracht hatte.

Bei Thekla sprach allein das Mitleid. Sie sah nicht die That, nur den unglücklichen Thäter. Niemals 322 hatte Gabriel ihrem Herzen so nahe gestanden wie jetzt, wo er von allen verlassen war, wo alle ein Recht zu haben glaubten, den Gefallenen zu verachten. Sie wußte, daß sie kein Recht habe, über den Jugendfreund den Stab zu brechen. Man zweifelte an seiner Reue. Wie schlecht kannten ihn die Menschen, wenn sie glaubten, Gabriel werde jemals ein Gefühl blicken lassen, das in seinen Augen Schwäche bedeutete. Sie allein kannte ihn in seinem Stolze. Die Richter mußten doch einsehen, daß sie es hier nicht mit einem gewöhnlichen Verbrecher zu thun hatten. O, sie hätte unter diesen Richtern sein mögen, ihnen zu erklären, wer dieser Gabriel Bartusch sei! Wozu überhaupt noch eine Strafe für ihn? War er nicht gestraft genug durch seine That?

Sie erwähnte Reppiner gegenüber einmal etwas dergleichen. Der wurde sehr ärgerlich und meinte: das seien weibliche Argumentationen. Sie solle sich angewöhnen, etwas mehr mit dem Kopfe zu denken, statt ihr Herz immer mit der Vernunft durchgehen zu lassen. Frauen hätten weder Logik noch Objektivität. Es kam Thekla vor, als sei Reppiner selbst in dem Falle Bartusch sehr weit von der Objektivität entfernt.

Am Verhandlungstage befand sich Thekla in großer Unruhe. Reppiner kam im Laufe des Vormittags, direkt aus der Verhandlung. Er war in großer Hast und teilte mit: Die Geschworenenbank sei die denkbar günstigste, der Angeklagte bis jetzt über Erwarten ruhig. Er müsse offenbar von seinem Verteidiger ausgezeichnet instruiert sein. Nun komme alles auf die Zeugenaussagen an. Damit eilte Reppiner wieder fort.

Thekla fühlte sich durch die guten Nachrichten ermutigt. Ihr Glaube würde schon nicht zu Schanden werden! Sie war im stande, sich um häusliche Dinge zu kümmern.

323 Aber schon im zeitigen Nachmittag wurde ihre Hoffnung erschüttert. Ella trat auf. Sie hatte eben bei ihrer Mutter ein Billet gelesen, welches Vater Bartusch, der der Verhandlung beiwohnte, soeben vom Saale aus an die Seinen gerichtet hatte. Er schrieb: »Gabriel, vom Staatsanwalt gedrängt, fängt an, Geduld zu verlieren. Ich fürchte, die Aussichten verschlechtern sich.«

Ella war begierig, so bald wie möglich neues zu erfahren und eilte darum wieder nach Haus. Kurz nach ihrem Weggange kam Reppiner. Auf seinem Gesicht war das Schlimmste zu lesen: »Er hat sich alles selber verdorben! Schließlich kam es soweit, daß er sich geradezu brüstete. Er sei in seinem guten Rechte gewesen, erklärte er, seine Ehre habe er verteidigt. Der Verteidiger gab sich alle Mühe, den schlechten Eindruck zu verwischen. Aber der Staatsanwalt hatte leichtes Spiel. Fünf Jahre Gefängnis! Unter diesen Umständen noch eine verhältnismäßig milde Strafe.«

Fünf Jahre Gefängnis! Das war ja so gut wie zum Tode verurteilt. Was würde aus ihm werden in den fünf Jahren! Gabriel so ehrgeizig, so empfindlich! Er würde das nicht überleben.

Es kam ihr so trostlos vor, so unsagbar wehmütig. Es war der Verfall schönster Hoffnungen, die sinnloseste Vernichtung.

Dann löste sich die Spannung, in der sie sich während der letzten Stunden befunden hatte, in einem heftigen Weinanfall aus.

Reppiner hatte heute schon viel Verdruß gehabt. Daß ein Mensch sich aus purem Mutwillen dem Staatsanwalt auslieferte, mußte ja auch einen Advokaten verdrießen. Und Theklas Teilnahme für den Verurteilten hatte vollends einen bitteren Geschmack für ihn. Eifersüchtig zu 324 sein auf einen, der eben zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden war, erschien eigentlich widersinnig. Und doch, als Reppiner Thekla in Thränen sah, packte ihn der Dämon der Eifersucht. Selbst ihre Vergangenheit wollte er keinem andern gönnen.

Was sollte er nun thun? Dem Mädchen zureden, sie trösten? Oder an ihrer Trauer sich beteiligen? Sympathieen für einen Mann zu heucheln, dem Thekla zugethan gewesen, war er nicht im stande. Noch weniger wollte er in den Verdacht kommen, zu triumphieren.

Und so wählte er denn das beste Mittel dessen, der sich überflüssig fühlt: er ging.

 


 


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