Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

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II.

So kam der Termin der Doppelhochzeit heran. Sie sollte durch einen Polterabend eingeleitet werden. Dieser Beschluß war aber erst nach langem Hin und Her zu stande gekommen. Die Bartuschs waren gegen den Polterabend aus dem einfachen Grunde, weil sie niemanden wußten, den sie dazu hätten einladen können. Agnes aber bestand auf ihrem Polterabend. Eine ihrer Freundinnen 257 hatte einen gehabt; und was die gehabt, konnte sie auch verlangen. Man kam daher auf den Ausweg, daß Frau Sänger das Fest geben sollte, die Bartuschs wollte man feierlichst dazu einladen. Das eigentliche Hochzeitsdiner nach der Trauung, zu dem die Sängerschen Räume sowieso nicht ausgereicht hätten, sollte dann von den beiden Familien gemeinsam in einem Hotel gegeben werden.

Bei der Entscheidung solcher Fragen wurde auch Thekla um Rat gefragt. Es war neuerdings Mode geworden, sie als die Stifterin von Arthurs und Ellas Bund anzusehen und ihr für dieses Paar gewissermaßen alle Verantwortung zuzuschieben. Wenn die Bartuschs etwas thaten, was nach Ansicht der Sängers nicht richtig war, so wurde ihr das Haus im Tone der Entrüstung vorgehalten. Und wieder Frau Bartusch ließ ihre schlechte Laune über den angeblichen Hochmut der Familie Sänger-Lüdekind am liebsten an Thekla aus. Das Brautpaar selbst aber machte sie erst recht zur Vertrauten seiner mannigfachen Sorgen und Nöte. Und wenn es sich noch um Großes dabei gehandelt hätte! Aber es waren nur Nadelstiche, mit denen zwei Familien, deren Kinder mit einander glücklich werden wollten, sich das Leben unangenehm zu machen für notwendig fanden.

Thekla sah daher dem Hochzeitstage ihrer Geschwister nicht mit leichtem Herzen entgegen. Es war vorauszusehen, daß es eine wirklich harmonische Feier unter solchen Umständen nicht geben könne.

Und je näher der Termin heranrückte, desto schwerer fiel dem Mädchen noch eine andere Sache auf's Herz: würde Gabriel Bartusch kommen? Und wenn er kam, wie würde er sich aufführen? Sie fing an, eine lächerliche Angst vor dieser Begegnung zu hegen.

Weder Liebe hatte sie für ihn, noch Haß. Sie empfand 258 ihm gegenüber ein Gefühl, das kein anderer Mensch auf der Welt ihr einflößte: Beunruhigung.

Viel hätte Thekla darum gegeben, erfahren zu können, wie jetzt wohl seine Gesinnung ihr gegenüber sei. Verharrte er noch auf dem Standpunkte seines letzten Briefes, in welchem er sie mit verstecktem Hohne aller Verpflichtungen los und ledig gesprochen? – Aber seit diesem letzten Lebenszeichen waren nun auch schon wieder über zwei Jahre vergangen. Wie oft mochte ein unruhig unzufriedener Geist wie er, in solchem Zeitraume seine Ansicht geändert haben? Daß er zu seinen früheren Gefühlen für sie zurückgekehrt sein könne, nahm sie nicht an, und wünschte sie auch nicht.

Und doch war etwas in ihr, was eine Annäherung, oder besser gesagt: einen Ausgleich, herbeisehnte. Es deuchte ihr immer, wenn sie an Gabriel dachte, als sei das letzte Wort zwischen ihnen noch nicht gesprochen worden. So konnte man doch nicht auseinander gehen! Menschen, die in der innigsten Freundschaft zu einander gestanden als Kinder, mußten doch als Erwachsene einen Weg finden, den sie beschreiten durften, einander in Treue zugethan zu bleiben. Konnte nicht ein Verhältnis gedacht werden, das etwas Höheres noch darstellte, als das Ehegelöbnis. Auch Thekla lockte der alte von so vielen geträumte Traum: daß Jüngling und Mädchen, die nicht von derselben Mutter geboren sind, einander trotzdem Bruder und Schwester sein können.

In der Verbindung ihres Bruders mit Ella sah sie die Brücke dazu. Wie eine Art von Versöhnung kam es ihr vor, daß eine Bartusch einen Lüdekind heiratete. Und darum ertrug sie die mannigfachen Plackereien, welche sie fortgesetzt mit diesem Paare hatte, willig, ja mit einer gewissen Freudigkeit. Frau Bartusch konnte sehr weit 259 gehen in Launenhaftigkeit und Unart gegen sie, Thekla vergaß doch nie, daß sie in ihr Gabriels Mutter vor sich habe. Ihr Gewissen sagte es ihr nicht in klaren Worten, aber doch einem feinfühlenden Herzen verständlich genug, daß sie dem Sohne dieser Familie wehe gethan habe.

Über die äußeren Vorgänge seines Lebens war Thekla jetzt ziemlich genau unterrichtet. Ella erzählte oft von ihm. Er hielt sich noch immer in Südrußland auf. Dort hatte er sich selbstständig gemacht und schien einer der gesuchtesten Bauunternehmer seiner Gegend zu sein. Ella sprach mit Stolz von den großartigen Anlagen, die er auszuführen habe.

Mit dem Vater schien sich eine Aussöhnung anbahnen zu wollen. Bei dem Alten mochte nun doch Sehnsucht nach dem einzigen Sohne die Oberhand gewinnen über den Groll, daß er nicht auf dem von ihm vorgezeichneten Wege geblieben war. Dabei wirkte selbstverständlich der Erfolg mit, den sich Gabriel ganz unerwarteter Weise in der Fremde erobert hatte. Einem verlorenen Sohne, der, die Taschen voller Geld, zurückkehrt, werden in den meisten Fällen die väterlichen Hallen offenstehen.

Eine Woche etwa vor der Hochzeit brachte Ella mit glücksstrahlender Miene die Nachricht: Gabriel habe geschrieben, er sei unterwegs, um an dem Familienfeste teilzunehmen.

Nun sie diese Gewißheit hatte, war Thekla ruhiger. Der Begegnung mit Gabriel war nun doch einmal nicht aus dem Wege zu gehen. Besser, es geschah bald! Die Feier eines Hochzeitsfestes würde dem Zusammensein vielleicht noch am ersten eine gewisse Harmlosigkeit geben.

Es war im Familienrate beschlossen worden, daß Gabriel Theklas Brautführer sein sollte. Sie sträubte sich nicht dagegen. Es blieb ihr ja gar keine andere 260 Möglichkeit. Sie war das einzige Mädchen, er der einzige ledige junge Mann aus der nächsten Verwandtschaft der Brautpaare. Die übrigen Brautführer und Brautjungfern waren den Freunden und Freundinnen entnommen worden.

Thekla ließ sich nichts merken, was sie bei der Aussicht empfand, zum ersten Male, wo sie als Brautjungfer auftrat, gerade Gabriel zum Partner zu haben. Wunderlich doch, wie launisch das Leben sein Spiel trieb!

Einige Tage vor der Hochzeit kam Gabriel an. Er machte seinen Besuch bei Sängers und traf dort mit einer Anzahl Seeheimscher Verwandten zusammen, ebenfalls Hochzeitsgäste, die von auswärts zur Stadt gekommen waren. Thekla ging, so ruhig und unbefangen es ihr vor so vielen Augen überhaupt möglich war, auf Gabriel zu, ihm die Hand entgegenstreckend. Er übersah das wohl bei seiner Verbeugung. Ihre Hände berührten sich nicht.

Sie war verwirrt; denn in seinen Augen, als sie befremdet die verschmähte Hand zurückzog, hatte sie es wie wilden Triumph aufblitzen sehen. Die kurze Begegnung hatte genügt, sie wieder ganz in's Bild zu setzen, und den kurzen Traum, ihn jemals versöhnen zu können, in sich zusammenfallen zu lassen.

Während der zehn Minuten, die er blieb, nahm ihn Frau Sänger in Anspruch, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn nach seinen »Reisen« in Rußland zu fragen. Den Seeheims gegenüber sollte nämlich ein Mäntelchen über die Thatsache gehängt werden, daß der zukünftige Schwager von Arthur weiter nichts als Architekt sei. Sängers hätten ihn am liebsten zum Orientreisenden gemacht; denn das war doch etwas mehr!

Als Gabriel seinen Cylinder in die Hand genommen hatte zum Gehen, trat er noch einen Augenblick zu Thekla und teilte ihr in kühlster Form mit: seine Eltern fühlten 261 sich zu alt, an dem Polterabend teilzunehmen, und er wolle ihnen Gesellschaft leisten. Zur Trauung aber werde er die Ehre haben, sie zu führen, sagte er mit einer steifen Verbeugung. Er fügte nur noch hinzu, daß er zur angegebenen Zeit mit dem Wagen da sein werde; dann ging er.

Thekla war über sein Verhalten tief bestürzt. Sie schlief die nächste Nacht nicht. Also zwischen ihr und Gabriel sollte in Zukunft Feindschaft bestehen! Denn das hatte sein Wesen, zu dem sie den Schlüssel schnell wiedergefunden hatte, gesagt. Sie hätte nach einer Richtung hin ja zufrieden sein können. Er setzte schließlich nur sie in's Recht, indem er sie kränkte. Aber es schmerzte sie doch, den Mann so wenig großmütig und vornehm handeln zu sehen, den sie einstmals ihren Freund genannt hatte. Wie's schien, hatte sie zu hoch von ihm gedacht, zu viel von ihm erwartet. Eine Abweisung zu verzeihen, war ein Mann wohl nicht fähig! –

Wenigstens Gabriel war dessen nicht fähig. Wie hatte sie das auch nur für einen Augenblick hoffen können. Er mit seiner krankhaften Empfindlichkeit! Gabriel, dessen Charakter ein echter Abkömmling war der väterlichen Schroffheit und des mütterlichen Hochmuts! Ja er war stolz und verschlossen. Nur einer Einzigen hatte er bisher gezeigt, daß er auch andere Seiten besitze, und diese eine war sie, Thekla. Eben das mußte einem Menschen wie ihm die größte Demütigung bedeuten, sich von der weichen Seite gezeigt zu haben. Hatte sie ihn denn nicht einmal sogar zu ihren Füßen gesehen! – Vielleicht war das der letzte Antrieb seiner Rücksichtslosigkeit! Vielleicht wollte er versuchen, auf diese Weise den Eindruck der Schwäche bei ihr zu verwischen!

Sie sann lange und angestrengt in der Nachtstille über ihn nach, suchte ganz auf den Grund seines Wesens zu kommen. An manches Jugenderlebnis dachte sie. Seine 262 Eifersucht, sein frühreifer Ehrgeiz, standen deutlich vor ihr. Schon an dem Knaben war es eine ausgesprochene Eigenschaft gewesen, daß er nicht hatte vergessen können, wenn ihm jemand seiner Ansicht nach zu nahe getreten war. Niemals wollte er eine Kränkung ungerächt lassen. Thekla entsann sich ganz deutlich eines Falles, wo er ihr selbst noch glühend vom Triumph erzählt hatte, daß er einen Knaben, der ihn niedergeworfen im Ringkampf, später im Flußbade überfallen habe um ihn, überlegener Schwimmer der er war, unterzutauchen, bis jener nahe am Ertrinken gewesen. Seine Erzählung hatte sie damals erschreckt; heute erfüllte sie der Gedanke an die konsequente Entwickelung, die sein Charakter genommen, mit Schaudern.

Warum mochte er wohl die weite Reise von Südrußland hierher unternommen haben? Um die Hochzeit seiner Schwester feiern zu helfen? Er hatte es ja heute nur zu deutlich gezeigt, was er von dem Werte solcher Feier hielt. Wäre es denkbar, daß er nur darum hier war, um seinen Verdruß an ihr, an Thekla, zu kühlen, mit einem Worte, um sich zu rächen? –

Ihr Unbehagen wuchs. Sie sagte sich, daß sie auf der Hut sein müsse. Zuviel schon hatte sie in diesem Handel sich Unvorsichtigkeit zu schulden kommen lassen. Auf keinen Fall durfte es jetzt zu einer Auseinandersetzung kommen zwischen ihr und Gabriel. Sie mußte es versuchen, ihn, den Unberechenbaren, in Schranken zu halten. Sie war das Arthur und Ella schuldig und der ganzen Hochzeitsgesellschaft. Da würde sie müssen Vorsicht üben und politisch verfahren, sie, der alles diplomatische Talent versagt war! – Mit Bangigkeit sah sie dem entgegen, was die nächsten Tage bringen würden.

* * *

263 Der Polterabend übertraf Theklas Erwartungen durch seinen angenehmen Verlauf. Es war günstig für die Harmlosigkeit und Intimität des Festes, daß von der Familie Bartusch niemand erschien. Die Gesellschaft bestand hauptsächlich aus Verwandten und Regimentskameraden des Leutnants von Seeheim, Freunden Arthurs, untermischt mit Freundinnen von Agnes und Ella. Eine Menge Beziehungen wurden schnell zwischen Leuten angeknüpft, die einander bis dahin völlig fremd gewesen waren, und die sich vielleicht nur darum so leicht und liebenswürdig gaben, weil jeder wußte, daß es ja nur für diese eine Gelegenheit sei.

Die Leutnants führten ein Stück auf, das bisherige Leben des Heiratskandidaten darstellend, welches anspruchslos verfaßt und frisch dargestellt, gleich die richtige, muntere Polterabend-Stimmung schuf. Die Seeheimschen Brüder, Schwestern, Vettern und Cousinen: Landjunkerfamilien, die sich selten von ihren Sitzen bewegten, hatten die ausgesprochene Absicht, da sie nun einmal erschienen waren, sich auf Egons Hochzeit gründlich zu amüsieren. Sie zeigten sich ein äußerst dankbares Publikum für alles, was vorgeführt wurde. Schließlich ward auf Bitten der jungen Leute auch noch getanzt, obgleich die Räume der Sängerschen Wohnung dazu eigentlich zu klein waren.

Der Wirt fiel nicht unangenehm auf. Die Seeheims hatten sofort die richtige Stellung zu ihm genommen, indem sie ihn nicht ganz ernst nahmen; ja, ihn in ihrem Drange nach Belustigung als eine Art Extranummer des Programms auffaßten. Sänger befand sich übrigens in bester Laune. Er hatte vor einigen Tagen die längst ersehnte Rangerhöhung erfahren, durfte fortan ein »Ober« vor seinen bisherigen Titel setzen. Die Hochzeit seiner »Kinder«, wie er Agnes und Arthur nannte, fiel daher 264 äußerst günstig für das Begehen dieser Auszeichnung. Einige Übelwollende behaupteten, er sei am Schlusse des Festes nicht ganz nüchtern gewesen; bösere Zungen erwiderten, daß er bei klarem Bewußtsein auch nicht besser sei.

Die eigentliche Königin des Festes war Agnes, die ihren Wunsch, einen lustigen Polterabend zu haben, nach jeder Richtung hin erfüllt sah. Das Brautpaar: Arthur-Ella trat etwas zurück vor dem anderen. Sie standen unter dem Eindrucke, daß von Ellas nächster Familie niemand gekommen war. Aber Ella in einem duftigen Mousselinkleide von zartester Lachsfarbe, die zu ihrem Teint ausgezeichnet stand, war wirklich schön. Sie stach in dieser Beziehung die etwas derbere Agnes sogar aus.

Am nächsten Morgen wurde mit Gabriels Visitenkarte ein kostbares Bouquet für Fräulein von Lüdekind abgegeben. Thekla hatte keine Freude an den Blumen. Er that eben das, was jeder andere an seiner Stelle auch gethan haben würde. Aber von ihm kommend, empfand sie die konventionelle Gabe fast wie Verhöhnung.

Zur vorgeschriebenen Zeit fuhren die Wagen vor. Nachdem die übrige Hochzeitsgesellschaft aufgefahren, kamen die beiden Brautpaare, ihnen folgten die Brautjungfern mit ihren Führern. Die Fahrt zur Kirche war nur kurz, zum Glück für Thekla. Es kam ihr wie eine Strafe vor, mit Gabriel das zweisitzige Coupé teilen zu müssen. Die einzigen Worte, die zwischen ihnen fielen, betrafen die Blumen, für die sie ihm doch danken mußte.

Thekla würde sich unter gewöhnlichen Umständen wie ein Kind gefreut haben an einem solchen Feste. Aber heute lag ein Alp auf ihr. Sie mußte an sich halten, nicht zu weinen. Für sie war es ein trauriger Tag, trotz der festlich gestimmten Gesellschaft mit ihren glänzenden Toiletten und Uniformen, trotz der beiden Bräute, die im 265 Schleier sich ausnahmen rein und lieblich, wie weiße Lilien.

Leider hielt der Geistliche eine viel zu lange Rede, wohl in der Annahme, daß man bei einer Doppelhochzeit auch das Doppelte der landesüblichen Ansprache von ihm erwarte. Er war mit den Verhältnissen der beteiligten Familien nicht sehr vertraut. Es passierte ihm daher, daß er ein wenig durcheinanderwarf, Dinge von Arthur berichtete, die Egon erlebt hatte und Agnes Eigenschaften andichtete, die besser auf Ella gepaßt hätten. Es war dies peinlich. Die Seeheimsche Verwandtschaft, deren Bedürfnis nach Amüsement noch keineswegs gedeckt war, belustigte diese Vermischung der Brautpaare höchlichst. Sie sahen die heilige Handlung als eine willkommene Fortsetzung des Polterabends an.

Aber auch die wohlgemeinte Doppelrede des Geistlichen hatte ein Ende, und bald darauf saß man beim Hochzeitsdiner. Die Kapelle von Seeheims Regiment gab die Tafelmusik.

Neue Qualen waren hier für Thekla aufgespart. Sänger hielt eine Ansprache, die an Taktlosigkeit selbst das überbot, was er bei seiner eigenen Hochzeit gesagt hatte. Von Seiten der Seeheims antwortete der Senior der Familie, in derber, aber wenigstens nicht witzloser Weise. Vater Bartusch sprach kurz und wenig erfreulich. Er stellte eigentlich nur fest, daß der heutige Tag ihm ein Kind raube. Dann kam die ganze Reihe der üblichen Hochzeitstoaste. Unter anderem bekam man den Geistlichen noch einigemale zu hören, dem wohl Sängers Ruhm, bisher die unglücklichste Rede gehalten zu haben, keine Ruhe ließ.

Thekla, die zwischen einem Regimentskameraden Seeheims und Gabriel Bartusch saß, wurde erst von dem Offizier gut unterhalten, bis dieser sich in ein Gespräch 266 mit der eigenen Dame verwickelte. Gabriel spielte die Rolle des stummen Gastes. Er hatte sich niemandem von der Gesellschaft, die ihm nur zum geringen Teile bekannt war, vorstellen lassen. Teilnahmslos, als gehe ihn die ganze Sache nichts an, blickte er drein. Nur, als sein Vater gesprochen, stand er auf und stieß mit den Seinen an. Frau Bartusch war erschienen, sie trug die Nase sehr hoch, um anzuzeigen, daß sie nicht gewillt sei, sich imponieren zu lassen.

Gabriel fiel schon dadurch auf, daß er im schwarzen Frack und gänzlich ohne Ordenskette war, doch konnte man nicht sagen, daß er gegen irgend einen der Anwesenden ungünstig abgestochen hätte. Die jungen Mädchen, in deren Augen er im Nimbus des »Orientreisenden« stand, waren geneigt, ihn »interessant und apart« zu finden, in seiner hochmütig unzufriedenen Zurückhaltung.

Thekla war befremdet über die Wandlung, die mit seiner Erscheinung vor sich gegangen war, in den drei Jahren, wo man sich nicht gesehen hatte. Er begann das Haar stark zu verlieren, zeigte Furchen und Falten, sah um zehn Jahre gealtert aus. Fast machte er ihr einen verlebten Eindruck. Daß seine Gesundheit nicht die festeste sei, wußte sie, und daß er unvernünftig lebe, war bei seinem Temperament anzunehmen. Früher würde sie offen nach seinem Befinden geforscht, ihm zugeredet haben, sich zu schonen. Aber heute konnte das als Aufdringlichkeit angesehen werden, deren sie sich ihm gegenüber zu allerletzt schuldig machen wollte.

Schließlich mußte sie doch wohl oder übel ein Gespräch mit ihm suchen. Man war nun einmal in Gesellschaft und durfte nicht Neugier und Befremden erregen, die durch fortgesetztes Schweigen eines Paares herausgefordert werden mußten.

267 Thekla hatte ihren Vorsatz, ihm gegenüber auf ihrer Hut zu sein, deshalb nicht vergessen. Sie sann auf ein Thema, das weder für sie noch für ihn etwas Peinliches enthalte, und glaubte in seinen russischen Erlebnissen ein neutrales Gebiet entdeckt zu haben. Gabriel ließ das anfangs an sich heran kommen, gab nur kurze und gleichsam widerwillige Antworten. Ja, die Landschaft sei schön und langweilig, jenachdem! – Vieles habe er anders gefunden als zu Haus, aber im allgemeinen sei die Welt doch auch dort rund. – Thekla kannte seinen Sarkasmus, und wußte, wie ihm zu begegnen sei. Herzlichkeit hatte ihn noch immer entwaffnet. Auch heute versuchte sie es damit. Indem sie ihm frank in die Augen blickte, sagte sie: es würde sie freuen, wenn er ihr ein Bild geben wolle von seiner Thätigkeit, wie es ihm ergangen sei, was seine Pläne seien für die Zukunft.

Es mochte ihn mit Genugthuung erfüllen, gerade ihr seine Erfolge darzuthun. Sie sollte es wissen, daß er nicht mehr der existenzlose, junge Mensch war, der arme Schlucker, der damals auf der Straße von ihr Abschied genommen hatte. Er erwärmte sich. War es ihr Anblick, wie sie mit großen Augen, die manche Erinnerung in ihm herauflockten, an seinen Lippen hing? Seine frostige Starrheit schmolz an ihrer Teilnahme dahin.

Er war im besten Zuge, als ihn zu Theklas Kummer ein Toast unterbrach. Ein Kollege von Sänger, ihm ähnlich an Pedanterie, hielt eine endlose Rede auf die Damen, in der viel Salbung, aber wenig Geist zu finden war.

Nachdem das Aufstehen und Anklingen der Gläser vorüber war, meinte Gabriel: »Was für eine naßkalte, steifleinene Gefühlsäußerung! Überhaupt unsere vielgepriesene Verehrung der Frauen! Mich überläuft allemal eine Gänsehaut, wenn einer meiner Landsleute von Frauen 268 oder gar auf die Frauen spricht. Was nutzt uns der Champagner, wenn wir keine Glut in den Adern haben! Ich komme aus Gegenden, wo eine gewisse Wildheit herrscht. Der korrekte Europäer nennt es ›Halbbarbarei‹. Dort hat die Civilisation noch nicht die primitive Kraft und Schönheit des Menschen ganz zu überzuckern vermocht. Dort giebt es, wie in der Landschaft so auch im Leben, eigenartige und tiefe Farben. Wirkliche Leidenschaften, echtes, rotes, warmes Blut fließt in den Adern. Menschen von herrlicher Unabhänglichkeit. Ja, dort giebt es sogar vorurteilsfreie Frauen, die den Mut haben, ihrem Herzen zu folgen.«

Er ließ eine Pause eintreten, und blickte Thekla keck an, die Wirkung seiner Worte zu erspähen. Sie hielt den Blick aus. Was er von den Frauen sagte, verfehlte seinen Eindruck nicht. Sofort hatte ihr der Instinkt, – wie ihn so schnell und sicher doch nur Frauen haben – gesagt, daß hier eine ihres Geschlechtes im Spiele sein müsse.

Sie erwiderte nur:

»Vorhin sagten Sie, Herr Bartusch, Sie hätten es dort nicht sehr anders gefunden als zu Haus!«

»Dann haben Sie mich mißverstanden! Leben und Gesellschaft sind sehr verschieden von allem, was wir in Deutschland kennen. Ich möchte lachen, wenn ich mich hier umsehe! Lauter Gänseblümchen! Diese unbedeutenden Gesichter, diese zahmen Bewegungen! Furchtbar korrekt, decent und moralisch! Und dabei so selbstgerecht und spröde! Alles hübsch im Mittelmaß, der Zuschnitt, die Gespräche – alles!«

Sie hätte ihm antworten mögen, daß diese Frauen, die er so pries, es doch nicht verstanden zu haben schienen, ihm Feingefühl, oder auch nur Höflichkeit anzuerziehen. Aber sie hütete sich wohl, etwas Ähnliches auszusprechen, 269 ihrem Vorsatze getreu, jede Auseinandersetzung mit ihm zu vermeiden. Die Wendung, die er dem Gespräche gegeben hatte, behagte ihr nicht, und seine Miene beunruhigte sie. Das war wieder der ganze Gabriel Bartusch! Wie die feinen Nasenflügel vibrierten und die tiefliegenden Augen leidenschaftlich blitzten. Und diese Verachtung, die ihm bei jedem Worte um die Lippen zuckte!

»Früher hätte mir ein solches Fest wahrscheinlich gewaltig imponiert,« sagte er. »Wie man sich ja überhaupt als Knabe von so vielem übertölpeln läßt. Man nahm alles viel zu ernst damals. Inzwischen hat man hinter die Coulissen seiner eigenen Ideale geblickt. Da erkennt man erst, wie klein und eng und philisterhaft die Welt ist, vor der man staunend gestanden hat. Man schärft eben sein Auge in der Fremde. Jedenfalls danke ich Gott, daß ich meine Freiheit habe, und nicht genötigt bin, in dieser Enge mehr als einige Tage zu atmen.«

Thekla nahm die Herausforderung nicht an. Sie schwieg, ließ ihn nur durch einen Blick ihre Mißbilligung erkennen. Sie hatte doch noch nicht alle Gewalt über ihn verloren; denn er schluckte, was er etwa noch auf der Zunge hatte, herab.

Nach einiger Zeit sagte er in ganz verändertem Tone: »Ich habe mich sehr gewundert, als ich die Nachricht von Ellas Verlobung erhielt.«

»Und Sie freuten sich, hoffe ich doch!«

Er überlegte.

»Nein!« erklärte er dann. »Das müßte ich lügen! Die Sache kam mir gemacht vor. Und ich kann mich bis zum heutigen Tage nicht darein finden.«

»Das verstehe ich nicht!« rief Thekla lebhaft. »Gerade Sie mußten doch wissen, wie alles gekommen ist. 270 Denken Sie doch nur daran, wie diese beiden einander immer zugethan gewesen sind.«

Kaum hatte sie das gesagt, so bereute sie es auch schon. Sie sah, wie sich seine Brauen zusammenzogen.

»Jugendneigungen haben keinen Bestand,« erwiderte er halblaut. »Fräulein von Lüdekind!«

Thekla erzitterte, atmete schneller; verlor aber die Fassung nicht gänzlich. Nach kurzer Pause hatte sie so viel Ruhe, um sagen zu können:

»Ich bin sehr glücklich über die Heirat. Ich glaube, daß sie gut ist. Arthur hat ehrenhaft gehandelt. Sie lieben einander.«

»Von Ella glaube ich es! Ja, von ihr weiß ich es!« rief Gabriel. »Sie ist ja meine Schwester; und wenn in vielem ungleich geartet, so sind wir uns doch in dem einen sehr ähnlich, daß wir heiß und unmittelbar empfinden. Wie Ihr Bruder fühlt, das freilich entzieht sich meiner Beurteilung.«

»Er liebt Ihre Schwester von ganzem Herzen. Das kann ich Ihnen versichern!« stieß Thekla mit wahrer Kraftanstrengung hervor.

»Wirklich! Thut er das?« erwiderte Gabriel bedachtsam höhnisch. »Sehen Sie einmal an! Das hätte ich einem Mitgliede Ihrer Familie gar nicht zugetraut, einen solchen Aufwand von Gefühl!«

Thekla war bleich geworden. Sie sah ihn nicht an. Während des Restes der Mahlzeit, die nun ihrem Ende zueilte, sprachen sie kein Wort zu einander. Auf Gabriels Zügen lag es wie Befriedigung. Thekla mußte daran denken, wie er damals an dem Schulkameraden seine Rache zu nehmen verstanden hatte.

Sowie man sich erhoben und das allgemeine Verbeugen und Händeschütteln vorbei war, verschwand Gabriel. 271 Thekla atmete auf, als sie ihn nicht mehr unter den Gästen sah.

 


 


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