Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II.

Das Begräbnis war seit Monaten vorüber. Schon stand auf dem Grabe eine Marmorplatte mit goldener Inschrift, welche besagte, daß hier in Gott ruhe: Eberhardt Friedrich von Lüdekind, und darunter der Spruch: »Selig sind die Toten, die im Herrn sterben«. Epheu war angepflanzt, eine Trauerweide erhob sich zu Häupten über der Ruhestätte. Trotz der rauhen Spätherbstwinde pilgerte die Witwe täglich zum Grabe.

Thekla brauchte einige Zeit, ehe sie sich an all das Neue und Wunderliche gewöhnte, das der Tod ihres Vaters im Gefolge hatte: die Witwentracht in der fortan ihre Mutter einherging, die schwarzen Kleider, die ihr selbst angemessen worden waren. Und die Kondolenzbesuche, die man empfing. Da waren immer und immer wieder dieselben mit kläglich bekümmerter Miene vorgebrachten Fragen nach den letzten Augenblicken des Verstorbenen, fast die nämlichen Ausdrücke der Teilnahme und der Tröstung, die von der Witwe mit kaum merklichen Änderungen beantwortet wurden.

Der Alltag fing an seine Rechte geltend zu machen. Im ersten Schmerze hatte Frau von Lüdekind bestimmt, in den Räumen, die der Verstorbene bewohnte hatte, solle für alle Zukunft alles so bleiben, wie er es verlassen; als ob er jeden Augenblick eintreten und seinen Platz wieder einnehmen könne. Aber diesem gutgemeinten Vorsatze zum Trotze wurde doch sehr bald an diesem und jenem gerüttelt. Manche Einrichtung, die das Familienoberhaupt getroffen, konnte weil jetzt nicht mehr passend, fürderhin nicht beibehalten werden.

So geht es: die Erde hat sich kaum über einem 30 geschlossen, so beginnt auch schon die nüchterne Notwendigkeit des Weiterlebens Stich um Stich aufzutrennen, was jener Wehrlose da unten geschaffen hat. Man will noch das Andenken des Verstorbenen ehren, will das Bewußtsein des Schmerzes um ihn nicht absterben lassen, aber das fortschreitende Leben duldet 's nicht. Das Bild dessen, der unersetzlich geschienen, rückt weiter und weiter, bis es nur noch ein blutleerer Schatten ist, der über die Lebendigen keine Gewalt mehr hat.

Und schnell, grausam schnell geht dieser Prozeß vor sich in der Seele des jungen Menschen. Während der ersten Tage, nachdem man den Major von Lüdekind zu Grabe getragen, hielt bei seinen Kindern eine gedämpfte Stimmung an, weil sie die Erwachsenen ernst und trauernd sahen. Dann wagte sich allmählich ein lautes Wort, dann ein Lachen vor, und bald tollte die kleine Agnes im Hause umher wie früher, Arthur ließ auch nur noch durch den schwarzen Flor um Ärmel und Hut erkennen, daß er den Vater verloren. Einzig Thekla legte mehr Zurückhaltung an den Tag; wie ein Schatten aus jener Todesnacht, die nicht ohne Spur an dem jungen Gemüte vorübergegangen war, lag es über ihr.

Gabriels Skizzenbuch lag in der hintersten Ecke ihres Kommodenfaches wohlverborgen. Sie hatte es nie wieder aufgeschlagen. Sie dachte nicht einmal gern daran. Es schien ihr unheimlich; zu eng hing es mit jenem schrecklichen Erlebnisse zusammen, als daß sie es ohne Grauen hätte betrachten können.

Wenn man einander begegnete – was bei Hausgenossen oft genug geschah – dann ging sie nicht wie ehemals auf Gabriel zu und reichte ihm die Hand, sie eilte vielmehr so schnell sie konnte von ihm weg. Der empfindliche Knabe merkte diesen Wandel in ihrem Benehmen 31 schnell genug. Anfangs grüßte er sie wenigstens noch, dann stellte er auch das ein.

Thekla und Gabriel kannten einander nicht mehr. Gabriel nannte ihr Verhalten: »Verrat«. Aus seinem Kummer um sie versuchte er, sich in Verachtung zu retten. Sie war eben doch zu jung und unreif für ihn. Seine Kameraden schwärmten meist für Damen, die älter waren. Was konnte man auch von einer erwarten, die in die Konfirmationsstunde ging!

Und doch war es ihm nicht recht geheuer zu Mute bei seiner Verachtung. Sie war eben doch einzig in ihrer Art, wenn auch noch ein Backfisch. Außerdem sah sie in dem halblangen, tiefschwarzen Kleide, das sie jetzt trug, viel erwachsener aus: wie eine richtige junge Dame.

Er nahm sich hundertmal vor, sich nicht um sie zu kümmern, aber der Anblick ihrer knospenden Gestalt, der für seine keimende Jünglingssinnlichkeit alles Begehrenswerte in sich schloß, warf sofort all die düsteren Pläne über den Haufen. In ihrer Nähe sein, dem Klange ihrer Stimme lauschen, ihr in die Augen blicken, mehr wollte er nicht, jetzt. Später ja später! Er hatte seine Pläne im Geiste fertig. –

Eine weitere schwere Beleidigung für Gabriel bedeutete es, als er eines Tages auf der Straße Thekla mit ihrer Freundin Lilly von Ziegrist begegnete. Lilly war ihm sowieso verhaßt, denn er wußte, daß sie als Hofmarschallstochter die Nase rümpfte über seine Familie. Und nun mußte er es erleben, daß diese kleine anmaßende Person über seinen Aufzug, der allerdings im Augenblicke nicht besonders glänzend war, – er hatte die Schulsachen an – eine schnippische Bemerkung fallen ließ. So etwas konnte ihn furchtbar wurmen. Wenn er nur Theklas Gesicht dabei hätte sehen können. Ob sie gelacht hatte? –

32 Auch Thekla hatte Kummer. Vor allem ihr Bruder Arthur und seine Freunde schufen ihr Verdruß. Sie wußte ja, daß die Jungens allerhand verbotene Sachen trieben. Früher hatte sie sich nichts dabei gedacht, ja hatte ihnen gelegentlich geholfen. Aber, daß Arthur so wenig Gefühl zeigte, vier Wochen nach des Vaters Tode bereits ein festliches Gelage zu geben, das verdachte sie ihm. Und sie sagte es ihm auch, aber es machte keinen Eindruck auf den verhärteten Sünder.

Von diesen geheimen Zusammenkünften der Abiturienten durfte die Mutter natürlich nichts wissen. Man trank Bier und rauchte, und übte sich vorzeitig im studentischen Komment. Die einzige die darum wußte, war Thekla. Sie schlief auf demselben Flur nicht weit von Arthurs Zimmer, wo diese Zusammenkünfte abgehalten wurden. Sie hatte den Lärm aus erster Hand. Jeder Salamander, der gerieben wurde, machte sie aus dem Schlaf auffahren. Sie ängstigte sich für diese Jungen, vor allem für Arthur; sie sah über ihnen die drohende Strafe hängen. Und das Bewußtsein, Mitwisserin solchen Unrechts zu sein, bedrückte sie.

Ein anderer griff hier ein. Gabriels Vater, der Besitzer des Hauses, hatte von dem nächtlichen Treiben der Gymnasiasten Wind bekommen. Er beschwerte sich über die Ruhestörung bei Frau von Lüdekind.

Die Witwe neigte im allgemeinen dazu, alles was Arthur that, gut und schön zu finden, aber das hier war doch zu viel. Sie schalt den Jungen tüchtig aus; auch Thekla bekam ihr Teil. Es war ja ganz klar, daß sie mit im Geheimnis gewesen sei, und Thekla dachte nicht an's Ableugnen. Arthur hatte nur eine Sorge, nämlich die: der Vormund könne etwas erfahren.

Major von Lüdekind hatte in seinem Testament einen seiner Bekannten, den Finanzrat Sänger, zum Vormund 33 seiner Kinder eingesetzt. Sänger stand im mittleren Lebensalter und war viel im Lüdekindschen Hause aus und ein gegangen. Der Major pflegte scherzweise, ohne an die Möglichkeit eines nahen Todes zu denken, von dem Finanzrat zu sagen, er habe ja als Junggeselle Zeit und müsse für sein Ledigbleiben gestraft werden. In allerhand juristischen Fragen hatte Sänger der Familie geholfen, der Verstorbene war ihm dafür dankbar gewesen, da er als ehemaliger Offizier von den Dingen nicht allzu viel verstand. Vor der Geschäftskenntnis seines Freundes Sänger hegte er die größte Achtung.

Arthurs Wunsch, daß der Vormund nichts von seiner Ausschreitung erfahre, war begreiflich, und es gelang ihm, die Mutter zu überreden, daß sie dieses Mal noch schweige.

Auch eine andere Person war, die nichts von Arthurs Streichen erfahren durfte: Tante Wanda. Hier war es Frau von Lüdekind selbst, welche darauf hielt, daß das Geheimnis gewahrt werde. Denn die Mutter wußte nur zu gut, daß Arthur nicht gut bei der Tante angeschrieben stehe. Wanda hatte ja immer behauptet, daß der Junge verzogen werde. Frau von Lüdekind hegte eine gewisse Angst vor dem scharfen Auge und dem schonungslosen Urteil des alten Fräuleins. »Daß nur Tante Wanda das nicht erfährt!« war eine ihrer stehenden Wendungen.

Man durfte es mit Tante Wanda nicht verderben, sie war ja reich, und wem sie mal ihr vieles Geld hinterlassen würde, war noch ganz ungewiß. Man mußte sich manches von ihr gefallen lassen, im Hinblick auf die Zukunft.

Auch Thekla wußte nicht recht, woran sie mit der Tante sei. Es war eine eigene Sache; seit dem Begräbnisse ihres Vetters kam Wanda Lüdekind, die früher der häufigste Gast gewesen, ja eine Art von »Schutzgeist des Hauses«, wie der Major sie getauft, nur noch ganz selten 34 zu ihren Verwandten. Und wenn man sich in schwarzen Trauerkleidern im Salon der Mutter auf den steifen Lehnstühlen gegenübersaß, dann vermochte Thekla kaum in diesen strengen und verschlossenen Zügen ihre geliebte Tante Wanda wiederzufinden, die Freundin ihres guten Vaters, die auch gegen sie immer so gütig gewesen war.

Was war mit der Tante? Warum hatte sie manchmal so etwas Abweisendes, ja geradezu Höhnisches? Besonders wenn sie mit der Mutter sprach, kam das heraus. Die beiden waren fast immer entgegengesetzter Ansicht, selbst in den kleinsten Dingen. So fand es Wanda Lüdekind geschmacklos, daß man die Kranzschleifen vom Begräbnis gesammelt, und damit die große Photographie des Verstorbenen umgeben habe. »Der richtige Tapezierergedanke!« rief Wanda Lüdekind, als sie dessen gewahr wurde.

»Gefällt es dir nicht?« fragte die Witwe. »Ich fand es ein so sinniges Andenken.«

»Aufdringlich ist es, weiter nichts,« erwiderte das alte Fräulein, »und sieht Eberhardt so wenig ähnlich wie möglich.«

Frau von Lüdekind war durch diese Äußerung gekränkt. Als Wanda gegangen, sagte sie: »So ist sie! Immer hat sie behaupten wollen, daß sie ihn besser verstünde, als irgend ein anderer Mensch.« –

Für Thekla hatte solcher Meinungszwist der Erwachsenen etwas Verwirrendes. Man konnte geradezu irre werden an Tante Wanda. Daß sie so unfreundlich sprechen konnte! Und doch fühlte sie sich mächtig hingezogen in ihrem Herzen zu dem alten Fräulein, wie zu dem Menschen aus der Welt, den sie am höchsten hätte verehren und bewundern mögen. Warum mußte das so sein? –

Es war ein Glück für Thekla, daß sie etwas hatte in dieser Zeit, das sie über Vieles tröstete. Das junge 35 Mädchen besuchte seit dem Oktober den Konfirmationsunterricht. Jetzt, wo der jähe Tod ihres Vaters sie besonders ernst gestimmt hatte, war ihr Gemüt gleichsam vorbereitet für die geistliche Aussaat. Der Pastor, in dessen Händen der Konfirmationsunterricht lag, war ein älterer Mann. Er hatte wohl schon manches Tausend junger Menschen für die Aufnahme in den Bund der erwachsenen Christen vorbereitet. Er fand sehr schnell heraus, welche seiner Schüler in einem wirklichen Gemütsverhältnis zu dem Lehrstoff standen. Thekla von Lüdekind wurde bald sein Liebling unter den drei Dutzend Mädchen, die zu seinen Füßen saßen. Er pflegte solche Fragen, für deren Beantwortung mehr als gutes Gedächtnis und Durchschnittsverständnis gehörte, für diese bevorzugte Schülerin aufzuheben.

Mit Thekla gemeinsam besuchte den Konfirmationsunterricht Lilly von Ziegrist. Die beiden standen ungefähr in gleichem Alter. Ihre Freundschaft war mehr bedingt durch Ähnlichkeit der äußeren Lebenslage und gemeinsame Erlebnisse, als durch tiefere Neigung. Herr von Ziegrist, früher ebenfalls Offizier, hatte den Militärdienst quittiert, um Hofmarschall zu werden. Lillys Eltern wohnten nicht weit von der Familie des Majors von Lüdekind. Sie waren unbemittelt und doch durch ihre Stellung gezwungen, etwas vorzustellen. Wenn sie auskommen wollten, mußten sie mit allerhand Ersparnissen und Erleichterungen von anderer Seite rechnen. So benutzten sie, die selbst in einem engen hohen Stadthause wohnten, mit Vorliebe den Garten der ihnen befreundeten Lüdekinds. Und wiederum Frau von Lüdekind sah es nicht ungern, daß ihre Tochter mit einem jungen Mädchen umging, dessen Eltern engste Fühlung zum Hofe hatten.

Lilly war in vielem das gerade Gegenteil von Thekla. Die beiden waren auch nicht jederzeit Freundinnen gewesen. 36 Sie hatten ehemals als Rivalinnen gegolten; ja die Klasse hatte sich um ihretwillen in zwei feindliche Heerlager gespalten, die sich nach der Haarfarbe der beiden führenden Mädchen die »Blonden« und die »Brünetten« nannten. Aber das war in ganz früher Zeit gewesen, wo man sich noch gepufft, an den Haaren gerauft, ja gelegentlich gekratzt hatte. Jetzt konnte so etwas nicht mehr vorkommen; jetzt wurden solche Kämpfe höchstens mit der Zunge ausgefochten.

Theklas und Lillys Freundschaft war ungefähr ein Jahr alt. Die Wandlung war so gekommen:

Der französische Unterricht wurde von einem Monsieur Lepellier erteilt, einem Herrn mit kahlem Kopfe und schwarzem Henriquatre, dessen Färbung nicht immer gleichmäßig erschien. In der Klasse war es Mode, für Monsieur Lepellier zu schwärmen. Seine Lebensgeschichte wurde von einer Mädchengeneration der anderen übermittelt. Danach wäre er sehr unglücklich verheiratet gewesen. Madame Lepellier, die nach einer Lesart tot nach einer anderen nur von ihm geschieden war, wurden die ärgsten Dinge nachgesagt. Lepellier hatte aus Kummer über sie in einer Nacht alles Haar verloren. Er sollte sogar einen Selbstmordversuch gemacht haben, wurde behauptet.

Mochte nun der Franzose ahnen, welcher Sagenkreis sich um seine Person gewoben hatte, oder nicht, jedenfalls ließ er sich die Huldigungen dieser werdenden Damen gern gefallen. Er war sehr launisch und blasiert; konnte, wenn er wollte, den Unterricht anregend gestalten, an manchen Tagen jedoch spielte er sich auf den Leidenden, stützte den Kopf in die Hand, machte ein gelangweiltes Gesicht und ließ alles gehen, wie es gehen wollte. Die Klasse aber fand ihn, wenn er »melancholisch« war, natürlich am interessantesten.

37 Unter den Mitschülerinnen war die Ansicht verbreitet, daß Lepellier für Thekla von Lüdekind schwärme. Es war eines von jenen vagen Gerüchten, wie es nirgends leichter entsteht als in der Phantasie übermütiger Backfische.

Thekla hatte die Angewohnheit, wenn sie etwas gefragt wurde, was sie nicht zu beantworten vermochte, in Verwirrung die Hände gegeneinander zu reiben. Der Franzose hatte ihr bei einer solchen Gelegenheit einmal zugerufen: »Mais, mademoiselle, ne tordez donc pas ainsi vos jolies petites mains!« – Von diesem Augenblicke an stand es fest, daß Lepellier für Thekla etwas empfinde. Man fand das äußerst interessant, und manche von den jungen Dingern beneidete im stillen die Klassenerste um diesen Vorzug.

Eines Tages fand sich ein Brief in Theklas Schulpult vor, von unbekannter Hand auf Französisch geschrieben. Der Schreiber, der sich mit L. unterzeichnet hatte, bat sie, ob sie ihn nicht durch ihre kleine, reizende Hand für's Leben glücklich machen wolle.

Thekla lachte herzlich über den drolligen Brief, an dessen Echtheit sie natürlich keinen Augenblick glaubte. Sie dachte sich nichts dabei, ihn auch von anderen lesen zu lassen. Darüber, wer den Brief geschrieben, konnte kaum Zweifel sein; so beherrschte das Französisch in der ganzen Klasse nur eine: Lilly von Ziegrist.

Dieses Ereignis wäre, wie manche andere Klassengeschichte der Vergessenheit anheimgefallen, wenn nicht die Schwestern Kalkmeyer sich gemüßigt gefunden hätten, zu Haus davon zu erzählen. Der Vater des Schwesternpaares, Oberschulrat Kalkmeyer, war mit der Schulinspektion betraut. Daher schien es nicht unbegreiflich, wenn Fräulein Zuckmann, die Vorsteherin, ein offenes Ohr hatte für etwaige Klagen dieses Herrn.

38 Eines Tages wurde die Klasse zurückbehalten. Fräulein Zuckmann und die nächstälteste Lehrerin stellten eine Untersuchung an über den französischen Brief. Vor allem wurde Thekla Lüdekind in's Gebet genommen. Nun stand Thekla ausgezeichnet mit der Vorsteherin, von ihrer Unschuld war man von vornherein überzeugt, aber man fahndete auf die Schreiberin des Billetdoux.

Wenn Fräulein Zuckmann geglaubt hatte, von Thekla alles zu erfahren, dann hatte sie sich in dem Charakter ihres Lieblings getäuscht. Das Mädchen war verletzt, daß man das, was doch nur Scherz gewesen, in dieser Weise zu einem Skandal aufbauschte. Sie verweigerte jede Auskunft. Zum Staunen der Vorsteherin legte das sonst so willige und sanfte Kind geradezu Trotz an den Tag. Die anderen Mädchen sagten auch nichts, bis auf die Kalkmeyers, welche die Rolle der Angeber weiter spielten. Thekla wurde schließlich der Befehl erteilt, den Brief nachmittags mit in die Schule zu bringen; wahrscheinlich sollten Handschriftenvergleichungen dran vorgenommen werden.

Auf dem Heimwege schloß sich Lilly an Thekla an, was sie bisher noch niemals gethan. Nur eng befreundete Mädchen gingen auf dem Wege von und zur Schule zusammen. Thekla sah, durch Lillys blasses Gesicht und unruhige Augen bestätigt, daß sie die Verfasserin des Briefes sei. Lilly fragte, ob Thekla nicht sagen könne, daß sie den Brief verlegt habe. Thekla erwiderte: sie werde den Brief verbrennen und sagen, daß sie ihn verbrannt habe, das sei viel einfacher. Lilly atmete erleichtert auf; das sei ein gescheiter Gedanke, meinte sie.

Am Nachmittag erschien Fräulein Zuckmann abermals in der Klasse, und erklärte kurz: Thekla von Lüdekind sei hiermit als Klassenerste abgesetzt, da sie sich Ungehorsam 39 habe zu Schulden kommen lassen; sie werde fortan als Letzte sitzen. Auf die Sache mit dem Briefe ging sie nicht weiter ein, wahrscheinlich war die Vorsteherin selbst im stillen froh, daß er aus der Welt geschafft war.

Thekla aber, die schweigend ihren Platz der Nachbarin, Marie Kalkmeyer, einräumte, hatte die Bewunderung aller, am meisten die ihrer alten Lehrerin, Fräulein Zuckmann, für sich gewonnen. Nach vier Wochen nahm sie übrigens ihren Posten als Klassenerste bereits wieder ein, da es sich herausgestellt hatte, daß Marie Kalkmeyer nicht im stande war, die Klasse nur einigermaßen zusammenzuhalten.

Eine bleibende Folge dieses Ereignisses aber war die Freundschaft zwischen Lilly und Thekla. Sie gingen fortan zusammen aus der Schule, soweit sie gemeinsamen Weg hatten und auch in der Freiviertelstunde steckten sie bei einander. So hatte sich die anfängliche Rivalität in Kameradschaft verwandelt.

Lilly war ihrer Freundin in mehr als einer Beziehung überlegen. In Toilettenfragen galt sie in der Klasse als anerkannt erste Autorität. Lilly wußte genau, welche Farben gut zu Blond standen und welche zu Braun. Sie verstand es bereits, sich und andere hoch zu frisieren, obgleich das verpönt war; die Mädchen sollten Zöpfe tragen. Sie legte Wert auf den Sitz ihrer Handschuhe, Strümpfe und Schuhe. Sie übte scharfe Kritik an der Art, wie sich viele andere Mädchen anzogen. Ja, sie gab Urteile ab über körperliche Mängel und Vorzüge. So erfuhr Thekla, daß sie schönes Haar und guten Teint habe, aber daß ihre Füße eine Kleinigkeit zu groß seien, und für ihre Taille noch viel geschehen müsse. Lilly war es auch, welche erklärte, als Thekla zum ersten Male nach dem Tode ihres Vaters in Trauer in der Klasse erschien, daß zu blondem Haar Schwarz doch am besten stehe; und es schien fast, als beneide Lilly 40 die Freundin, daß sie durch den Todesfall zu neuen Sachen gekommen war, in denen sie wie eine Erwachsene aussah.

Auch in anderer Beziehung noch zeigte sich Lilly für ein Mädchen im Konfirmationsalter erstaunlich unterrichtet. Sie kannte jeden Kavallerieoffizier der Garnison, wenigstens dem Namen nach. Sie wußte über manche Vorfälle in der Hofgesellschaft so gut Bescheid, daß sie den Neid eines skandallüsternen Reporters erregt haben würde. Gern erzählte sie davon mit Wichtigkeit. Manche thaten ihr den Gefallen, sie um solcher intimen Kenntnis einer höheren Welt zu beneiden, andere spielten die Gleichgültigen gegen das hochmütige Gebaren der Hofmarschallstochter. So die Kalkmeyers, über deren Häßlichkeit und schlechtsitzende Kleider Lillys scharfes Mundwerk nicht zur Ruhe kam. Sie konnten wieder mit der genauen Kenntnis aller höheren Kirchen- und Schulbehörden prunken, zu denen ihr Vater, der Oberschulrat, in enger Fühlung stand.

Lilly hatte auch sehr ausgesprochene Ansichten darüber, mit wem man umgehen könne und mit wem nicht. So zum Beispiel mißbilligte sie den Umgang der Lüdekinds mit ihren Hausgenossen den Bartuschs durchaus. Ein Mensch, der auf der Namenstafel im Hausflur angeschlagen hatte: »J. Bartusch, Geometer und vereidigter Markscheider« war nicht salonfähig, und seine Kinder auch nicht.

Dazu kam, daß Ella Bartusch eine Schule besuchte, die von Fräulein Zuckmanns Schülerinnen als »gemein« betrachtet wurde. Die Mädels dort waren meist Töchter von Subalternbeamten und Kleinkaufleuten, sie trugen keine Handschuhe, und es hieß, daß sie es sich von den Lehrern gefallen ließen, einfach mit Familiennamen aufgerufen zu werden. Grund genug, solche Mädchen tief zu verachten.

Lilly nörgelte darum unausgesetzt an Thekla herum, sie solle doch die Freundschaft mit Ella Bartusch aufgeben. 41 Ein Mädchen, das einmal Kinderlehrerin werden solle, sei nichts für sie. Aber Thekla ließ sich das zu einem Ohre hinein und zum anderen hinausgehen. Sie hatte ja Lilly gern, weil sie so lustig war, aber eigentlich stand ihr die sanfte Ella mit ihren schönen, dunklen Augen doch näher. Einmal kamen Ella Bartusch und Lilly von Ziegrist zufälligerweise in Theklas Zimmer zusammen. Lilly rümpfte die Nase und wollte kein Wort mit Ella sprechen. Ella war darüber ganz verwirrt und entfernte sich sehr bald. Aber Thekla nahm Partei für sie. Lillys Benehmen hatte sie diesmal gekränkt. Es war Thekla von Kindheit auf eigentümlich, nicht zu ertragen, daß Menschen, die sie liebte, ungerecht behandelt würden. Sie sagte Lilly ihre Ansicht deutlich, drohte ihr sogar mit Aufkündigung der Freundschaft. Lilly die durch das Auftreten der sonst so nachgiebigen Thekla völlig überrumpelt war, lenkte ein und versprach, um nur Theklas Zorn zu beschwichtigen, in Zukunft Ella Bartusch besser zu behandeln.

* * *

Der Turnunterricht wurde von einem älteren, wohlbeleibten Fräulein erteilt, das durch seine Schwerfälligkeit eigentlich für dieses Fach nicht gerade geeignet erschien. Aber Fräulein Zuckmann konnte es nicht über's Herz bringen, der altgedienten Person den Laufpaß zu geben.

Die Mädchen liebten die Turnstunden. Es war die Gelegenheit, wo am meisten Unsinn getrieben wurde. Fräulein Zengst aber, so hieß die Dicke, mußte, da sie sich ihrer Mängel wohl bewußt war, über Vieles ein Auge zudrücken, und war froh, wenn die jungen Damen wenigstens dann, wenn die Vorsteherin zum Inspizieren kam, Disziplin heuchelten. Die Erscheinung der Zengst, in einem 42 Turnanzug, der ihr vor Jahren einmal gepaßt haben mochte, ihre Kurzatmigkeit, ihr Eifer, sich die Unbeweglichkeit nicht anmerken zu lassen, alles das gab unerschöpflichen Stoff zu verstecktem und offenem Schabernack. Dazu der lächerlich knabenhafte Anblick, den die meisten Mädchen im Turnkostüm boten, die Neckereien, die es bereits beim Anziehen in der Garderobe gab, vermehrten die intime Komik dieser Stunde. Alle Geister des Übermutes und des Ulkes waren da in diesen vierzehn- und fünfzehnjährigen geweckt, als hätten sie mit den langen Kleidern auch sofort alle Damenwürde, die sie sonst so eifrig anstrebten, abgelegt.

Es war üblich, wenn man sich für die nächste Stunde nach dem Turnunterricht schlecht vorbereitet wußte, zu Fräulein Zengst zu gehen und zu bitten, daß man sich in die Garderobe begeben dürfe. Es fiel daher nicht weiter auf, als Thekla eines Tages mitten in der Turnstunde der Lehrerin erklärte, sie wolle sich zurückziehen, da sie sich nicht wohl fühle. Man nahm stillschweigend an, daß sie noch Geschichtszahlen lernen wolle.

Aber Thekla war es wirklich nicht gut zu Mute. Schon seit einigen Tagen fühlte sie eine bleierne Schwere in den Gliedern. Heute war sie mit Kopfschmerz erwacht. Aber sie hatte ihren Ehrgeiz als Klassenerste. Sie fand es lächerlich, wie einige Mädchen das in Angewohnheit hatten, wegen jeder Kleinigkeit wegzubleiben und sich womöglich durch ärztliches Attest entschuldigen zu lassen.

In der Garderobe traf sie Lilly, die dort mit einem Buche in der Hand auf und abschritt. »Willst du Reformation repetieren?« fragte Lilly. Thekla erwiderte, daß sie die Reformation könne, und ließ sich auf einen Stuhl nieder. Ein eigentümliches Gefühl ergriff sie, wie Schwindel. Stiche gingen ihr vom Rücken nach den Hüften. Was war mit ihr? Sie hätte doch zu Haus bleiben sollen! –

43 Lilly schlug das Buch zu und meinte: Geschichte sei zu langweilig. Thekla möge ihr, falls sie drankomme, vorsagen. Darauf machte sie sich daran, die Kleider der Mitschülerinnen, die hier an Haken herumhingen, einer genaueren Musterung zu unterziehen. Plötzlich brach Lilly in lautes Gelächter aus. »Siehmal hier, Thekla!« rief sie und hielt eine Taille hoch. »Das ist Marie Kalkmeyer! Längst habe ich mir's gedacht, daß es nicht echt ist bei ihr. Nun ist es raus! Marie Kalkmeyer, die heilige Marie!«

In ihrer Aufregung über diese wichtige Entdeckung hatte Lilly gar nicht darauf geachtet, was mit Thekla vor sich ging. Die saß da blaß mit verängsteten Augen und stöhnte.

»Was hast du denn?« rief Lilly endlich.

»Nichts!« flüsterte Thekla. »Rufe um Gotteswillen niemanden! Ich weiß nicht, was mit mir ist – seit ein paar Tagen« . . . . . .

Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Schlaff sanken die Hände an den Seiten herab.

Lilly eilte in die Turnhalle und rief: Thekla sei in Ohnmacht gefallen. Alles stürzte in die Garderobe, die sofort überfüllt war. Ein Mädchen riet, ihr die Kleider zu öffnen, eine andere wollte den Arzt holen, eine dritte rief nach Riechsalz und Eau de Cologne. Von all den guten Ratschlägen wurde keiner ausgeführt. Man hatte den Kopf verloren, einige Mädchen mit schwachen Nerven begannen zu weinen.

Inzwischen hatte Thekla die Augen wieder aufgeschlagen und blickte erstaunt um sich. Ein Mädchen, das immer eine Schwärmerei für Thekla Lüdekind gehabt, ein armes, wenig begabtes Ding, die sich mit ihrer Liebe der Klassenersten gegenüber niemals herausgewagt hatte, kniete vor ihr 44 nieder und rief schwärmerisch: »Sie lebt! Unsere Thekla lebt!«

Thekla richtete sich ein wenig auf. »Ich möchte nach Haus!« sagte sie. Man wollte sie führen und stützen. Aber dann kam eine besonders Erleuchtete auf den naheliegenden Gedanken, daß Thekla in ihren Turnkleidern doch unmöglich auf die Straße könne. Viele geschäftige Hände waren sofort bereit, ihr beim Umziehen zu helfen, man brachte ihre Kleider herzu, wollte ihr beim Auskleiden behülflich sein.

Aber Thekla bat mit flehender Miene, man möge sie allein lassen. Alle sollten hinausgehen. Man war befremdet, die näheren Freundinnen sogar beleidigt. Was hatte sie denn, so zimperlich zu thun? – Da sie aber darauf bestand, allein zu sein, ging man endlich in die Turnhalle zurück.

Einige Mädchen standen in einer Ecke beisammen und tuschelten. Marie Kalkmeyer meinte: hier sei etwas nicht, wie es sein sollte. Sie habe Thekla Lüdekind niemals getraut. Das mit dem Briefe damals sei sehr bedenklich gewesen, und nun wieder diese Geschichte! Es werde noch ein Ende mit Schrecken nehmen mit ihr. Das Mädchen, welches vorhin vor Thekla niedergekniet war, fing die letzten Worte auf. Sie war eine kleine, sommersprossige Person mit rotem Haar, für gewöhnlich eines der am wenigsten geachteten Mädchen in der Klasse; weil sie stets unordentlich angezogen ging und ihre Fingernägel abkaute, was als ein Zeichen von Gemeinheit galt. Aufgestachelt durch das eben Erlebte wagte es dieses sonst unterdrückte Wesen, sich gegen eine Große, wie Marie Kalkmeyer, aufzulehnen. Was? So sprach man von Thekla Lüdekind, von diesem Engel! Und damit fuhr die kleine Person wie eine Katze auf die lange Marie los und fuchtelte ihr vor dem 45 Gesichte herum, jeden Augenblick bereit, mit den Nägeln, die ihr nur angeblich fehlten, ihre Rede zu unterstützen.

Alles hatte sich um die beiden Streitenden versammelt. Man war in furchtbarer Erregung. So etwas hatte es ja seit Jahren nicht gegeben. Das war ein Rückfall in ganz frühe Zeiten. Schreckliche Beschuldigungen wurden laut. Lilly von Ziegrist hatte sich nun auch noch eingemischt und berichtete triumphierend die Entdeckung, welche sie soeben in der Garderobe an Maries Taille gemacht. Nun brach ein Höhnen los und Schmähen. Einige Mädchen führten einen wilden Reigen auf, wie Indianer, die um ein Opfer tanzen. Wo kamen bei diesen jungen Dingern nur auf einmal all die Ausdrücke her, die niemand bei ihnen gesucht hätte. Es war, als seien sie plötzlich von allen Geistern des Anstandes und der guten Sitte verlassen.

Marie Kalkmeyer stand an eine eiserne Säule gelehnt, wie an einem Schandpfahle, totenbleich, außer stande, sich zu verteidigen. Mit gefalteten Händen blickte sie zum Himmel empor, ein bekanntes Bild aus der Zeit der Christenverfolgung kopierend. Ihre Schwester Helene, neben ihr, weinte und schluchzte hysterisch. Fräulein Zengst lief keuchend umher und ersuchte die »Damen«, doch »zu Verstand zu kommen«. Alles umsonst! Die tosende See war nicht zu beschwichtigen.

In diesem Augenblicke, wo die Not am höchsten war, erschien »gottgesandt«, wie sich Marie Kalkmeyer später auszudrücken pflegte, Fräulein Zuckmann in der Turnhalle. Man merkte die Vorsteherin erst, als sie mitten drin war in dem Schwarm. Plötzlich standen alle wie gelähmt. Die Zengst rief ein schwaches »Antreten!« das überhört wurde. Mit schreckensbleichen Mienen hingen die Kinder an den Blicken der Schulgewaltigen. Was würde sie thun? – Sie that gar nicht viel, sagte nur ein paar Worte 46 halblaut zu der Lehrerin und fragte dann nach der Klassenersten. Es war eine von Fräulein Zuckmanns Eigentümlichkeiten, für Unordnungen, die vorkamen, zunächst immer die Erste der betreffenden Klasse verantwortlich zu machen. Darum pflegte sie auch zu diesem Posten nicht die Mädchen auszusuchen, die am besten lernten, sondern solche, deren Charakter sie am höchsten stellte.

»Wo ist Thekla von Lüdekind?« fragte Fräulein Zuckmann. Man erklärte ihr, daß Thekla sich in der Garderobe befinde, weil sie nicht ganz wohl sei.

Zehn Minuten später lag Thekla im Zimmer der Vorsteherin auf dem Sofa. Fräulein Zuckmann saß bei ihrer Lieblingsschülerin und hielt ihr die Hand. Es war für das junge Mädchen wie ein Traum: eben noch Schmerz, Scham und Verwirrung über einen unheimlichen Vorgang, dessen Sinn sie nicht verstand, und nun befand sie sich in dem Raume, den man nur mit Scheu betrat, zugedeckt von Fräulein Zuckmanns eigenen Händen mit der seidenweichen oft von Ferne bewunderten türkischen Decke, und neben ihr saß sie, die für das Mädchen der Inbegriff war höchster Würde.

Die wenigen Worte, welche ihr von der Vorsteherin gesagt worden waren, hatten Thekla beruhigt. Es war also nicht etwas, dessen man sich zu schämen brauchte, was ihr geschehen war, nichts, wovor man sich fürchten mußte; etwas ganz Natürliches vielmehr, etwas Gutes sogar. Nicht alles, was die verehrte Lehrerin ihr sagte, während sie fortfuhr, ihr Hand und Haar zu streicheln, wurde Thekla vollkommen klar. Fräulein Zuckmann meinte ja auch, daß sie späterhin alles das besser verstehen werde. Aber das Kind fühlte sich gestärkt und geheilt, als sei ihr von mütterlicher Hand lindernder Balsam gereicht worden.

Dr. Beermann, der alte Hausarzt der Familie 47 Lüdekind, bestimmte, daß Thekla in den nächsten Wochen die Schule nicht besuchen dürfe. Thekla war sehr niedergeschlagen; sie liebte ihre Schule. Außerdem kam doch nun die Oster-Abgangsprüfung heran, wo Fräulein Zuckmann Ehre mit ihr einlegen wollte. Nicht einmal zu Haus nacharbeiten durfte sie; ganz still sollte sie sich verhalten. Wenn Dr. Beermann etwas bestimmte, so stand es fest wie das Evangelium. Also galt es, sich fügen.

Ihre Mitschülerinnen zeigten große Teilnahme. Es hatte sich die Mode eingebürgert, Thekla Lüdekind zu besuchen und ihr Blumen mitzubringen. Im Grunde ärgerte sich Thekla über diese Besuche. Diese Mädels waren ja aufdringlich! Allerhand wollten sie von ihr wissen, betrachteten sie mit großen, neugierigen Augen wie jemanden, der sich in einem ganz außergewöhnlichen Zustande befindet. Aber was wollte man machen? Verleugnen lassen, ging doch nicht!

Viel mehr als zu ihren Klassengenossinnen fühlte sich Thekla in dieser Zeit zu Ella Bartusch hingezogen. Die war nicht so neugierig und so kindisch. Obgleich nicht besonders begabt, machte Ella in ihrem verständigen und ruhigen Wesen schon ganz einen frauenhaften Eindruck. Thekla ahnte es, daß sie in Ella eine Gefährtin habe. Ein paar Worte klärten sie schnell darüber auf. Von da ab fühlten sich die beiden Mädchen wie ein paar Schwestern.

Thekla eilte daher in ihrer unfreiwilligen Ferienzeit oftmals die Treppe hinauf zu den Bartuschs, sorgfältig Bedacht darauf nehmend, die Stunden zu wählen, wo Gabriel nicht zu Haus war. Sie hätte sich fürchten können vor ihm. Kaum begriff sie es jetzt noch, wie sie sich mit dem Jungen hatte auf so intimen Fuß stellen können, ehemals. Hatte sie es ihm nicht sogar einmal gestattet, sie beim Pfänderspiel zu küssen. Und nun gar das Skizzenbuch mit 48 dem Gedichte! Errötend nur vermochte sie daran zu denken, was er sich alles hatte herausnehmen dürfen gegen sie.

Es erschien ihr überhaupt vieles, was sie früher gethan und gedacht hatte, jetzt in ganz anderem Lichte. Als ob sich etwas in ihrem Verhältnis zu allen Dingen verschoben hätte, als ob ihr ein neuer Sinn aufgegangen sei.

Ihre Mutter hatte zu ihr gesagt: sie sei nun kein Kind mehr. – Wenn sie kein Kind mehr sein sollte, was war sie denn? Eine Dame, wie es Lillys Ideal war? Oder ein Backfisch, wie sie ihr Bruder nannte?

Schwer war es, sich in alledem zurecht zu finden. Und nun gar jetzt, wo die Schule keine Abziehung bot, wo man soviel Zeit hatte zum Nachdenken.

Es kamen ihr oft ganz wunderliche Gedanken. Aber sprechen konnte man darüber mit niemandem, mit der Mutter nicht, mit Lilly nicht, mit Ella am ersten noch.

* * *

Arthur hatte, unbekümmert des Versprechens, das er der Mutter gegeben, seine nächtlichen Schwärmereien wieder aufgenommen. Er war in den Besitz eines Hausschlüssels gelangt, und ging des Abends aus, während die Mutter glaubte, er sitze oben in seinem Zimmer über den Büchern.

Auch die nächtlichen Zusammenkünfte mit Freunden fanden wieder statt. Nach den gemachten schlechten Erfahrungen aber feierte man diese Gelage nicht mehr in Arthurs Zimmer, welches gerade unter dem Schlafzimmer des Hauswirts lag, man zog es vielmehr vor, in einem leerstehenden Fremdenzimmer zusammenzukommen, wo man sich unbewachter glaubte.

49 Die Sache wurde mit dem Ernst und Eifer der Geheimbündelei betrieben. Man schmuggelte Bier, Cigarren und Eßwaren ein. In einer Art Zigeunersprache wurde Buch geführt über diese Konventikel. Immerhin mußten verschiedene Personen in's Geheimnis gezogen werden: der Hausmann, der es wohl merkte, wenn in später Stunde die jungen Leute vorsichtig aus dem Hause entlassen wurden. Ferner das Stubenmädchen, die am nächsten Morgen die Aschenreste, Cigarrenstummel und manche anderen Zeugen des nächtlichen Gelages zu beseitigen hatte. Aber Arthur verstand es, mit freundlichen Worten und gelegentlichen kleinen Geldgeschenken, sich diese Leute soweit gefügig zu machen, daß sie reinen Mund hielten.

Schwieriger war es mit Thekla. Ihr Zimmer war neben dem Fremdenzimmer gelegen, wo ihr Bruder die Freunde bewirtete. Obgleich man das Singen und Salamanderreiben als allzu verräterisch aufgegeben hatte, war doch noch mancher Laut zu vernehmen, und durch Schlüsselloch und Thürklinke drang der Tabaksqualm zu ihr ein und machte sie husten.

Thekla hatte den Bruder schon einigemale gebeten, vernünftig zu sein und zu bedenken, was für ihn auf dem Spiele stehe. Es mußte ja doch herauskommen; und was dann? Arthur kannte seine Schwester richtig, wenn er darauf baute, daß sie ihn nicht verraten werde; dazu war sie ein viel zu guter Kamerad. Darüber, daß sie nebenan halbe Nächte nicht schlafen konnte, setzte er sich in der leichten Laune junger Leute hinweg, die auf ein Vergnügen erpicht sind.

Eines Abends, als Thekla gerade beim Auskleiden war, bekam Arthur wiedermal Besuch. Bald sprangen die Pfropfen und die Gläser klirrten. Thekla beeilte sich, in's Bett zu kommen. Sie zog die Decke über die Ohren, 50 denn sie mochte nichts von alledem hören. Schlafen wollte sie, ohne sich um die ungezogenen Jungens nebenan zu kümmern.

Aber das war leichter geplant als ausgeführt. Ein oder der andere Laut drang doch zu ihr, selbst durch die doppelte Scheidewand der Thür und der Bettdecke. Sie waren heute ausgelassener denn je. Die Unvorsichtigen! Herr Bartusch würde sie sicher hören. Dann fiel ihr mit einemmale ein, daß Ella gestern erzählt habe, ihr Vater sei verreist. Daher also die Unverfrorenheit, weil sie sich vor ihm sicher wußten.

Und nun auf einmal hörte Thekla aus dem Chor der Stimmen nebenan eine ihr wohlbekannte heraus. Nicht Arthurs; nein, ihr Ohr täuschte sie nicht. Das war kein anderer als: Gabriel.

Wie kam er hierher? Was suchte er unter diesen Gymnasiasten? Sicher hatte ihn Arthur verführt. Das Herz pochte ihr unwillkürlich, als sie bedachte, daß er ihr so nahe sei. Er war einer der lautesten und wildesten da nebenan. Sie kannte ihn garnicht so.

Thekla begann sich nun auch um Gabriels willen zu ängstigen. Wußte sie doch, wie streng Herr Bartusch mit dem Sohne sei. Noch garnicht so lange her war es, daß er den Jungen körperlich zu züchtigen pflegte. Major von Lüdekind hatte sich oft genug über diese harte Erziehungsmethode aufgehalten, und in seiner Gutmütigkeit die Kinder, so gut er konnte, in Schutz genommen.

Was dachte sich Gabriel? Er, der sonst so genau überlegte, was er sagte und was er that! Warum bramarbasierte er heute so? dieser Übermut kam ihm sicher nicht vom Herzen. Sollte er etwa gar sie, Thekla, damit ärgern wollen? –

Während sie sich beunruhigt durch diesen Verdacht im 51 Bett hin und her wand, klingelte es plötzlich stark an der Vorsaalthür. Der Lärm im Nebenzimmer verstummte sofort. Thekla setzte sich vor Schreck im Bett auf und lauschte. Wer konnte das sein? Wer durfte um diese Zeit Einlaß begehren?

Das Klingeln wiederholte sich, verstärkt durch ein Klopfen, wie mit einem wuchtigen Stocke. Gleichzeitig ein Rütteln am Thürschloß. Das war nicht ihre Mutter, an die Thekla im ersten Augenblicke gedacht hatte.

Im Nebenzimmer beriet man flüsternd. Dem jungen Mädchen stockte das Herz bei dem Gedanken, daß es der Hauswirt sein könne. Sie sah Furchtbares herankommen.

Jetzt schurrte es an der Thür neben Theklas Bett. Zugleich ließ sich Arthurs Stimme vernehmen.: »Thekla – hörst du – Thekla! –«

»Was soll ich?« fragte sie.

»Mach auf! Du mußt aufmachen! Wir sind geklappt. Gabriels Alter ist draußen. Wir dachten, er wäre verreist. Wenn er Gabriel findet, schlägt er ihn tot. Bei dir wird er ihn nicht suchen.«

Gleichzeitig donnerte es von neuem an der Vorsaalthür. Ein Überlegen gab es da nicht mehr. Thekla wußte nur noch das eine: hier mußte sie helfen!

Mit bloßen Füßen sprang sie ans dem Bette, öffnete. Jemand zwängte sich durch die Thür, die nur zu einem schmalen Spalt geöffnet war. Wer es sei, wollte sie gar nicht sehen; sofort war sie wieder ins Bett zurückgeeilt, und hatte sich in den Kissen vergraben. Aber an einem lauten stoßweißen Atmen merkte sie, daß ein Mensch nicht weit von ihr im Zimmer sei.

Alles Weitere ist für sie wie ein Traum. Im Nebenzimmer bleibt's totenstill. Der Lärm an der Vorsaalthür geht fort. Ganz deutlich vernimmt man jetzt eine erregte 52 Männerstimme. »Aufmachen!« – Arthur scheint sich in den Vorsaal begeben zu haben. Es wird geöffnet. Schritte. Es ist wirklich der Hauswirt. Er stellt ein Verhör an; man antwortete ihm nur nachlässig, er ereiferte sich.

Jetzt huscht ein Schatten über das Bett des jungen Mädchens. Eine Stimme, die sie genau kennt, flüstert nahe ihrem Ohre: »Thekla! Liebe Thekla! Du bist mein guter Engel!«

Dann greift sich jemand an der Wand entlang, vorsichtig, der Thür nach dem Vorsaal zu. Ein Spalt öffnet sich, schließt sich wieder. Er ist hinaus, in Sicherheit; Gabriel ist gerettet! Thekla ist es zu Mute, als müsse sie ein Gebet sprechen, ein Dankgebet zu Gott, für ihn und für sich.

Nebenan wird weiter verhandelt. Der Hauswirt will die Namen der jungen Leute wissen, die ihm hartnäckig verweigert werden. Er droht mit Anzeige bei der Polizei wegen Ruhestörung und Hausfriedensbruchs. Darüber vergehen lange Minuten. Aber Thekla ist ruhig; Gabriel ist ja gerettet, sie hat ihn gerettet.

Schließlich entfernen sich die jungen Leute, und auch Gabriels Vater geht.

Arthur klopft bei seiner Schwester an und tritt ein. Er ist jetzt sehr kleinlaut. Die Sache kann sehr üble Folgen haben. Der alte Bartusch meldet sie sicher. Daß er aber auch heute Nacht nach Hause kommen mußte! Konnte es ein größeres Pech geben? Jetzt wo man gerade vor dem Examen steht! Diesmal kommt es vor die Lehrerkonferenz, womöglich giebt es ein consilium abeundi.

Thekla bedauerte den Bruder aufrichtig, sie hätte viel darum gegeben, wenn sie ihm hätte helfen können in dieser schlimmen Lage. Aber was war ihr Mitgefühl für Arthur, gehalten gegen die tiefe Befriedigung, daß Gabriel kein 53 Unheil getroffen hatte, und daß sie es gewesen war, die ihn davor bewahrt!

 


 


 << zurück weiter >>