Wilhelm von Polenz
Thekla Lüdekind. Erster Band
Wilhelm von Polenz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Der Fall Bartusch war eben erst durch Gerichtsspruch entschieden, als Thekla dem Regierungsrat von Wernberg auf der Straße begegnete. Wie immer grüßte dieser Herr sie besonders zuvorkommend.

So war er also von der Reise mit seinem Herrn zurückgekehrt! –

Thekla dachte nicht lange an diese Begegnung, von anderen Gedanken in Anspruch genommen, bis sie abends einen Brief vorfand mit der Unterschrift: »Ihr gehorsamster Leo von Wernberg.«

Er schrieb, seine Mutter komme in diesen Tagen zu ihm auf Besuch, und es sei sein lebhafter Wunsch, daß Fräulein von Lüdekind die Frau kennen lerne, die er am höchsten verehre auf der ganzen Welt. Er schlug ein 325 Rendezvous vor bei seiner Tante, Fräulein von Wallamber, die übrigens eine neue Wohnung bezogen habe. Zugleich gab er die veränderte Adresse des alten Fräuleins an. Die Zeit der Zusammenkunft zu benennen, bat er Thekla.

Sie fühlte sich von diesem Briefe ganz sonderbar angemutet. In der letzten Zeit hatte sie sich mit allem anderen mehr beschäftigt, als mit Herrn von Wernberg. Und nun rief er sich ihr in solcher Weise in's Gedächtnis zurück. Merkwürdig! –

Sie entsann sich ja, daß er von seiner Mutter mit großer Wärme gesprochen hatte. Das Bild, das sie von ihr gesehen, war noch frisch in ihrer Erinnerung. Seine Verehrung für die alte Dame hatte ihr ausnehmend gefallen. Ja, als sie schärfer nachsann, fiel ihr auch ein, daß er schon damals den Wunsch angedeutet habe, seine Mutter und Thekla möchten einander kennen lernen. Daß das ihrem Gedächtnis hatte entfallen können! –

Der Brief war durchaus höflich und korrekt im Tone – bei Herrn von Wernberg, wie ihr schien, etwas durchaus Selbstverständliches. – Aber aus seinem Vorschlage, sie mit ihm und seiner Mutter bei Fräulein von Wallamber zu treffen, sprach eine Vertraulichkeit, die sie befremdete. Kannte man einander denn schon so genau? War es in gewissem Sinne nicht ein Zuviel, was er ihr zumutete? Und in anderem Sinne wiederum eine zu große Ehre, die er ihr anbot? Gerade, weil er seine Mutter so über alles verehrte, schien Thekla dies hier eine Auszeichnung, die sie weder verdient, noch die sie verlangt hatte. Es lag ein Mißverhältnis in dieser Idee, eine übertriebene Freundlichkeit, ein Drängen, das sie bei einem anderen »Ausdringlichkeit« genannt haben würde. Da es Wernberg war, suchte sie nach 326 Entschuldigungsgründen. Er war eben ein Herr, und vermochte wahrscheinlich nicht, sich in die schwierige Lage einer einzelnen Dame zu versetzen. Wie's schien, konnten das die Männer überhaupt nicht. Sie brauchte nur an die Erfahrungen denken, die sie an Gabriel und erst kürzlich mit Reppiner gemacht hatte. Aber bei einem Manne von der Erziehung Wernbergs war es doch erstaunlich.

Erstaunlich blieb auch, daß Herr von Wernberg, nach so langem Schweigen, urplötzlich mit diesem Vorschlage kam. Freilich, er war ja verreist gewesen. Er konnte doch auch nicht wissen, daß ihr in ihrer augenblicklichen Gemütsverfassung gar nicht danach zu Mute war, sich seiner Mutter vorzustellen.

Unhöflich wollte sie nicht sein. Es wäre unfreundlich gewesen, den gutgemeinten Vorschlag einfach abzulehnen; das hätte er mit Recht übelnehmen können. Sie konnte ja auch einen Grund zur Ablehnung anführen, der nicht mal erfunden war: Thekla fühlte sich nicht wohl. Sie schrieb's ihm mit dem Ausdrucke des Bedauerns, daß sie auf diese Weise um die Ehre komme, Frau von Wernberg vorgestellt zu werden.

Als Thekla das erste Mal nach dem Stubenarrest, welchen ihr ihr Befinden und Doktor Beermanns Befehl auferlegt hatten, auf die Straße ging, wollte es der Zufall, daß ihr Herr von Wernberg begegnete. Er zog den Cylinder und eilte auf sie zu. Also hatte er ihr die Absage nicht übel genommen!

Wernberg blickte besorgt in Theklas Gesicht. Er habe sich die ganze Zeit geängstigt um sie, behauptete er. Erst nachdem sie ihm versichert hatte, daß sie wieder ganz hergestellt sei, erklärte er sich für beruhigt.

Sie hatte das Gefühl, daß sie soviel Teilnahme doch in irgend einer Form erwidern müsse und fragte ihn nach 327 seiner Reise. Er erzählte ihr im Fluge einiges von seinen Erlebnissen, in der amüsanten Art, die Thekla von früher her so nett an ihm fand.

Dann plötzlich einen gesetzteren Ton annehmend, fragte er sie nach dem Befinden ihrer Verwandten. Er habe immer schon den Wunsch gehegt, ihnen vorgestellt zu werden; bisher habe sich leider noch keine Gelegenheit dazu geboten. Er bat, daß Fräulein von Lüdekind ihn unbekannterweise empfehlen möge. Damit blieb er stehen, machte ihr mit tiefabgezogenem Hut seine Verbeugung und entfernte sich.

Dieses Erlebnis bedeutete neue Beunruhigung für Thekla. Ein Gedanke, der sie schon hin und wieder heimgesucht hatte, nistete sich nun fest bei ihr ein: daß Wernberg ein ganz bestimmtes Ziel verfolge.

Sie erschrak in innerster Seele. Schon wieder einer, der sich ihr näherte, ohne daß sie ihn gerufen! – Ernstlich dachte sie nach, ob in ihrem Wesen etwas Herausforderndes gefunden werden könne. Hatte sie sich etwa damals, als sie mit ihm bei der alten Wallamber gewesen, nicht richtig betragen? Hätte sie besser gethan, seine Begleitung auf dem Rückwege abzulehnen? – Die Männer erblickten ja in der geringsten Vertraulichkeit sofort Entgegenkommen!

Dann wieder dachte sie, ob sie nicht zuviel sehe. War es nicht lächerlich, sich zu ängstigen? Wernberg war doch ein anständiger Mann! Er hatte ihr in korrektester Form einen Brief geschrieben und sie in höflichster Weise auf der Straße angeredet; war das so etwas Außerordentliches? Hatte es Sinn, darüber Nächte lang nicht zu schlafen? Hieß das nicht, aus einer Mücke einen Elephanten machen? –

Ihre Mutter kam in schlechtverhehlter Aufregung zu ihr gestürzt, um ihr mitzuteilen, daß soeben Regierungsrat 328 von Wernberg bei ihnen Karten abgeworfen habe; leider sei niemand zu Haus gewesen. Bald darauf erfuhr sie das nämliche von Ella und Arthur. Nur bei Seeheims war er angenommen worden. Agnes sagte, sie sei ganz überrascht, was Herr von Wernberg, dieses »große Tier«, für ein netter, umgänglicher Mann sei. Er habe ihr geradezu den Eindruck gemacht, als gehöre er bereits zur Familie.

Thekla wußte genug. Agnes hätte gar nicht nötig gehabt, so auf den Strauch zu schlagen. Es war also wirklich an dem: Herr von Wernberg freite um sie.

Es giebt keine Frau, welcher die Erkenntnis, daß ein Mann sie ernsthaft zum Weibe begehrt, nicht tiefen Eindruck machte.

Daß dieser Fall anders liege, ganz anders als die früheren, war Thekla klar. Wernberg war nicht mit einem Herrn von Deistel zu vergleichen. (Der Brave schien sich übrigens schnell getröstet zu haben. Thekla sah ihn gelegentlich mit Frau und Kind in den Straßen. Es gab ihr stets ein Gefühl der Beruhigung, wenigstens diesen ihrer Liebhaber versorgt zu sehen.)

Sie hätte die beiden: Deistel und Wernberg auch gar nicht an einem Tage nennen mögen. Einen Menschen abweisen, der niemals tieferen Eindruck auf ihr Herz gemacht, der sich mit seinem Antrage gar nicht mal an sie gewandt, der die Eltern als die einzig maßgebende Instanz angesehen hatte, einem solchen Manne den wohlverdienten Korb zu erteilen, war nicht schwer gewesen. Aber, wie sich verhalten einem Wernberg gegenüber? –

Hindernisse über Hindernisse sah sie zwischen sich und ihm.

Da war vor allem ihre Familie. So sehr sie ihre Mutter liebte, konnte sie sich darüber keinen Illusionen hingeben: zu Herrn von Wernbergs Schwiegermutter eignete sich Frau Sänger nicht. In Wernbergs Gegenwart, das 329 wußte Thekla, würde sie aus dem Erröten über die Schwächen der Mutter nicht herauskommen. Und gar um einen Sänger zu ertragen, war Leo Wernberg nicht der Mann.

Sie hegte auch starke Zweifel, ob sie selbst zur Ehe tauge. Mochte es nun Wernberg sein oder ein anderer, sie hatte sich alle Gedanken an's Heiraten überhaupt aus dem Kopfe geschlagen. Sie paßte wohl nicht dazu? Ihre vierundzwanzig Jahre machten ihr Bedenken.

Und war sie denn überhaupt frei? – Waren die Beziehungen zu Gabriel Bartusch aus ihrer Vergangenheit wegzuleugnen? – Seitdem erneute Annäherung zwischen ihm und ihr völlig aus dem Bereich der Möglichkeit lag, seitdem eigentlich erst fühlte sie in ganzer Schwere, was er ihr, und was sie ihm gewesen war. Mit Verstorbenen geht es einem wohl so; meist erkennt man ihre Bedeutung erst dann, wenn sich die Thür hinter ihnen für immer geschlossen hat. Und Gabriel war ja so gut wie tot. Grade weil ihr Gewissen nicht frei war diesem Unglücklichen gegenüber, fühlte sie das, was nicht mehr gut zu machen war, als eine Fessel, die sie unsichtbar band.

Trotz aller Bedenken aber konnte es ihr auf der anderen Seite doch nicht entgehen, wie viel Annehmenswertes in Wernbergs Antrage liege. Es war gar nicht nötig, daß ihre Mutter sie darauf hinwies, sie wußte es selbst: Wernberg war ein Mann, wie wenige Mädchen ihn ausschlagen würden. Sie hätte noch ganz andere Gründe zu seinen Gunsten anführen können. Aber selbst, wenn sie ihr Herz schweigen hieß, blieb noch genug, was für eine Annahme seines Antrages sprach. Vor allem würde sie mit einemmale aus der Zwitterstellung herauskommen, in der sie sich befand. Denn sie war doch nur scheinbar selbständig, in Wahrheit hing sie von vielen Dingen und Menschen 330 ab. An ihm würde sie einen Beschützer und Berater haben, ihm traute sie zu, daß er als Gatte den Kavalier niemals vergessen werde. Man war doch als einzelnstehendes Mädchen ein allzu hilfsbedürftiges Wesen! Täglich erlebte sie Proben dafür. All die Zweideutigkeiten ihrer Stellung würden dann ein Ende nehmen.

Das sah Thekla, sah es klar und im nüchternsten Lichte. Die Aussicht, Frau von Wernberg zu werden, hatte sehr viel Verlockendes, wenn man an die Versorgung dachte. Und wäre sie ihrem Kopfe allein gefolgt, so hätte sie gar nichts sehnlicher herbeiwünschen können, als daß Wernberg endlich anhalten möchte.

Gerade weil sie ihr Herz einmal schon an ihn verloren hatte, hielt sie sich für berechtigt, Wernberg gegenüber die höchsten Anforderungen zu stellen. Der Wernberg von damals lebte ja nicht mehr, er hatte nur existiert in der Phantasie der Thekla von damals, jenes enthusiastischen Wesens, das ihr heute selbst so fremd war. Auferstehen würde er ebensowenig, wie sie um fünf Jahre jünger werden konnte. Es gab in ihrem Gefühlsleben zwar manche Brücke vom Jetzt zur Vergangenheit zurück, aber Thekla war auf ihrer Hut, mißtrauisch gegen das eigene Herz, durch Erfahrung vorsichtig gemacht. Kritiklos stand sie keinem Manne mehr gegenüber.

Sie war ja auch gewarnt gerade in Bezug auf Wernberg. Sie brauchte doch nur an ihn und Lilly Ziegrist zu denken. Hatte Leo Wernberg etwa nicht Lilly den Hof gemacht? Hatte nicht alle Welt, die Ziegrists an der Spitze, bestimmt angenommen, aus den beiden müsse ein Paar werden? War es schön von ihm gehandelt, bei einem Mädchen Hoffnungen zu wecken und sie nicht zu erfüllen? – Freilich eine große Entschuldigung gab es für ihn: es war Lilly gewesen, die sich ihm an 331 den Hals geworfen hatte. Vielleicht hatte ihn das verdrossen. Wer konnte denn wissen, was sich zwischen diesen beiden zugetragen habe und auf wessen Seite die Schuld lag! –

Leo Wernberg hatte ja immer für einen Kurmacher von Profession gegolten. Das sprach in Theklas Augen nicht so sehr gegen ihn, wie man hätte denken sollen. Sie wußte nun schon soviel, daß jeder Mann zur Flatterhaftigkeit neigt, bis er der Frau begegnet, die ihn für alle Zeiten fesselt. Seine Vergangenheit wäre kein Grund gewesen, ihn abzuweisen. Woher wolle sie das Recht nehmen, ihm einen Vorwurf zu machen?

Maßgebend war für Thekla die Frage, ob er sie liebe. Seine Art zu ihr zu sprechen, seine Blicke neulich, etwas schwer mit Worten zu Bezeichnendes in seinem ganzen Verhalten sagten deutlich das Wort, das eine kleine ausschlaggebende Wort, für das es hundert Ausdrucksweisen giebt.

Aber warum kam das so spät? War es nicht sonderbar, daß er früher völlig achtlos an ihr vorübergegangen, daß jetzt erst sein Herz gesprochen haben sollte. Freilich, damals war er ja ganz von Lilly in Anspruch genommen worden. Seitdem konnte er sich geändert haben, ebenso wie sie sich geändert hatte. Wer weiß, was für Erfahrungen an ihm gearbeitet haben mochten! Er erschien ihr ernster, nachdenklicher, weicher jetzt als zu jener Zeit wo er der verwöhnte Löwe im Salon der alten Herzogin gewesen war.

Sie hielt ihn starker Gefühle für fähig. Seine Augen, seine lebhaften, schönen, vielsagenden Augen sprachen dafür. Es lag etwas in seinem ganzen temperamentvoll auf's Ziel zuschreitenden Wesen, das Energie, Kraft, starke Mannheit bezeugte.

332 Der Gedanke kam ihr einmal, daß in seinem Verhalten Berechnung liegen könne. Sie wies diesen Verdacht zurück, empört über sich selbst, daß er ihr überhaupt gekommen war. Sie hatte es doch mit einem vornehmen Manne zu thun! Was für ein Schauspieler müßte das sein, der Liebe zu empfinden vorgab, die er nicht fühlte! –

Obgleich sie ihm Falschheit nicht zutraute, so wollte sie ihr Ohr dennoch schärfen. Entscheidend sollte sein für ihren Entschluß, ob sie den Ton heraushören würde aus seinem Werben, den warmen herzlichen Ton echter Liebe. Denn das sagte ihr ein sicheres Gefühl: glücklich konnte sie nur werden mit dem Manne, der ihr ein Herz zu schenken hatte.

* * *

Mehr denn je fehlte ihr ein Mensch, mit dem sie sich mal offen hätte aussprechen können. Sie fand, daß ihre Gedanken, die sie fortwährend in sich selbst verarbeiten mußte, eine unnatürlich übertriebene, oft unheimliche Gestalt annahmen. Viel klarer und mutiger wäre sie sicher geworden, wenn sie manche Frage, die ihr Gemüt beschwerte, durch Mitteilung an einen Freund gleichsam aus sich heraus hätte stellen, sie am fremden Urteil hätte messen können.

Mit Reppiner war über irgend eine Angelegenheit, die einen anderen Mann betraf, nicht zu sprechen. Thekla wunderte sich, daß seine Eifersucht nicht längst etwas von dem, was sich vorbereitete, gemerkt hatte.

Und nun wollte es der Zufall, daß sich ihr der 333 Advokat abermals höchst nützlich erwies, und von neuem damit seine Unentbehrlichkeit für sie an den Tag legte.

Thekla war bestohlen worden. Es hatte sich ereignet, während sie auf einem kurzen Gange nachmittags in der Stadt gewesen war. Beim Nachhausekommen fand sie ihr kleines, von Tante Wanda ererbtes Schreibpult erbrochen. Es fehlte bares Geld, von dem sie glücklicherweise nicht allzuviel da gehabt, und einige Schmucksachen.

Im ersten Schrecken über den Einbruch schickte Thekla sofort zu Reppiner, der bald zur Stelle war. Er vernahm zunächst die Dienstboten. Hedwig war ruhig, die alte Kathinka wollte die Beleidigte spielen. Nach kurzem Verhör erklärte Reppiner, daß die beiden nach seiner Überzeugung unschuldig seien. Thekla hatte das auch nicht anders erwartet.

Während Reppiner noch darüber war, sich ein Verzeichnis der gestohlenen Sachen niederzuschreiben, ging die Klingel. Es war Hedwigs Bräutigam, der Postgehilfe. Die ganze Mordsgeschichte wurde ihm bereits im Vorsaal brühwarm aufgetischt.

»Rufen Sie mir diesen Postmenschen doch mal herein!« sagte Reppiner, »oder vielmehr, ich werde selbst mit ihm sprechen!« Damit ging er hinaus. In der hinteren Stube traf er den jungen Mann, der sich's eben beim üblichen Abendbrot wohl sein lassen wollte. Gänzlich unaufgefordert erzählte der Postgehilfe, daß er eben vom Schalter komme, er habe den ganzen Nachmittag über Dienst gehabt.

»Wollen Sie mir einen Gefallen thun, werter Herr?« fragte Reppiner. Der junge Mann erklärte sich gern zu jedem Dienst bereit.

»Ich muß zur Polizei, um den Diebstahl anzuzeigen. Inzwischen wäre es mir lieb, wenn das Haus nicht 334 gänzlich ohne männlichen Schutz bliebe. Wollen Sie sich also hier bei den Frauen halten?« –

Der Postgehilfe war sofort dabei. Er legte überhaupt den größten Eifer an den Tag, fragte, ob man noch keine Spur von den Dieben habe und wieviel eigentlich Geld gestohlen sei?

Reppiner beobachtete scharf die Züge des Menschen und nannte eine viel größere Summe, als in Wirklichkeit fehlte. Der Postgehilfe blickte darob einigermaßen verdutzt darein. Der Advokat legte ihm dann die Bewachung des Hauses noch einmal dringend an's Herz und ging.

Nach einer Stunde etwa kam er wieder. In seiner Gesellschaft befand sich ein Fremder.

Der Postgehilfe meldete, daß sich in der Zwischenzeit nichts von Belang ereignet habe. »Freut mich zu hören!« sagte Reppiner. »Wir sind übrigens glücklich gewesen. Wir haben nämlich die gestohlenen Sachen sämtlich wieder.« Der junge Mann schrak deutlich zusammen und verfärbte sich. »Bis auf etwas Geld, und das dürfte sich in Ihrer Tasche befinden.«

Hedwig trat an ihren Bräutigam heran. Die Züge des Mädchens waren gänzlich verändert. Ihre Augen blitzten. »Ist das wahr? Hast du das gethan?« Er schwieg, wagte nicht, seine Braut anzusehen.

Der Polizist wollte nun ein Verhör anstellen mit den Frauen. Aber Reppiner verhinderte das. Er hatte bereits in Theklas Gesicht das größte Entsetzen gelesen. »Das nehme ich auf mich!« sagte der Advokat jenem in's Ohr. »Besorgen Sie nur den hier aus dem Hause.« Der Polizist nahm den Dieb an der Hand, der nicht an Widerstand dachte. Er folgte seinem Führer gesenkten Hauptes mit schlotternden Gliedmaßen. Hedwigs 335 Bräutigam hatte entschieden sehr viel eingebüßt an selbstbewußter Haltung in den letzten zehn Minuten.

Kathinka beschwor heulend, sie habe nichts gewußt davon, wie schlecht »der Kerl« sei. Hedwig aber erzählte freiwillig, sie habe ihn neulich mal, als niemand da gewesen, in das Zimmer des gnädigen Fräuleins geführt. Er hätte nämlich schon immer den Wunsch geäußert, die schönen Sachen da drinnen sich ansehen zu dürfen, um ähnliches für ihre Ausstattung zu bestellen. Da habe sie ihm den Wunsch erfüllt. Heute aber müsse er sich eingeschlichen haben, vielleicht durch den Garten. Hedwig gestand dann noch weiter, sehr zum Verdruß der Tante, daß man ihm öfters Eßwaren mitgegeben habe aus den Vorräten des Hauses.

Thekla war natürlich auf's höchste bestürzt über dieses Erlebnis. Sie hatte einen wirklichen Verlust nicht erlitten, aber viel schlimmer war es doch, zu sehen, daß man getäuscht worden war von Menschen, die man für ehrlich gehalten hatte. Vor allem war es ihr leid um Hedwigs willen. Wo blieben nun die Heiratspläne des armen Dinges?

Kathinka, die den Tag darauf kündigte, sah Thekla nur darum ungern scheiden, weil sie sie von Tante Wanda übernommen hatte; im übrigen machte sie sich nicht viel aus der Alten. Hedwig hingegen, die ebenfalls gehen wollte, ließ Thekla nicht ziehen. Das Mädchen nahm die Kündigung zurück, als die Herrin versichert hatte, daß sie ihr nichts nachtrage.

Die Angelegenheit brachte noch mancherlei Unangenehmes für Thekla im Gefolge. Sie wurde vernommen. Reppiner stand ihr getreulich zur Seite. Er verstand es, ihr die Angst vor dem Gericht, die Thekla wie den meisten ihres Geschlechtes eigen war, etwas zu nehmen.

Es war ja sehr bequem, einen so erfahrenen Berater, 336 wie Reppiner, jederzeit in Bereitschaft zu haben, aber der Gedanke hatte doch etwas Peinliches, daß man ihm soviel Mühe niemals würde vergüten können. Bei Tante Wanda war er der Anwalt gewesen, der für seine Leistungen bezahlt wurde. Thekla hatte niemals gewagt, von Bezahlung zu sprechen ihm gegenüber, da sie seine Empfindlichkeit kannte, und er selbst brachte die Rede nicht darauf.

Reppiner kam jetzt beinahe allabendlich. Er schien stillschweigend anzunehmen, daß ihre Abende für ihn da seien. Wenn Thekla mal bei den Ihren war, oder sonst außer dem Hause, ohne ihn davon benachrichtigt zu haben, dann sah sie ihm beim nächsten Wiedersehen den Verdruß darüber deutlich an.

Sie wollte ihm ja das Recht auf ihre Dankbarkeit gewiß nicht verkümmern; aber ein weitergehendes konnte sie ihm auch nicht einräumen, beim besten Willen nicht. Er war ja, seitdem sie Gabriel eingebüßt hatte, ihr bester Freund, und würde es immerdar bleiben. Aber sie mußte im stillen befürchten, daß er mehr verlange, daß er ganz bestimmte Hoffnungen nähre, die niemals erfüllt werden konnten. Er hatte neuerdings eine Art, sie anzublicken, sich angewöhnt, die sie tief beunruhigte. Es bedurfte ihrer ganzen Geistesgegenwart, ihn von gewissen Deutlichkeiten auf die er in der Unterhaltung zusteuerte, abzuhalten.

Eine sehr schwierige Lage! Thekla wußte wirklich manchmal nicht, wie sie sich darin zurechtfinden solle. Was für ein unseliges Geschick verfolgte sie, daß sie sich keinen Mann als schlichten Freund erhalten konnte! –

Wäre nicht auch dieser unhaltbare Zustand schnell und für immer erledigt gewesen, wenn sie sich zu dem Schritte hätte entschließen können, auf den zu sie jetzt alles zu drängen schien? – 337

 


 


 << zurück weiter >>