Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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XXVII

Jutta war von Florenz nach München zurückgekehrt. Der Vater hatte ihr geschrieben, daß nunmehr die endgültige Vermögensauseinandersetzung stattfinden müsse zwischen ihm und den Kindern über die Hinterlassenschaft der Mutter.

Man hatte viel auf dem Gerichte zu tun. Inventar wurde aufgenommen, da auch die Möbel der Verstorbenen, Schmuck und Silber zur Verteilung kamen. Manches Stück wurde ausrangiert, verkauft, verschenkt. Jutta mußte sich entscheiden, was sie für sich behalten wolle. Daß sich Vally als Hausfrau in diese Fragen einzumischen für berechtigt hielt, machte die Auseinandersetzung auch nicht erquicklicher.

Vally hatte es in der kurzen Zeit des Verheiratetseins verstanden, das Heft völlig in die Hand zu bekommen. Wie anzunehmen gewesen, hatte sie ihre Mutter, die Witwe Habelmayer, zu sich genommen.

Die beiden Frauen ließen es sich angelegen sein, Herrn Reimers zu dem zu machen, was er seinen Jahren nach eigentlich noch nicht zu sein brauchte, nämlich zum alten Manne. Sie hatten herausgefunden, daß er leidend sei; der Grund dazu wäre in Überanstrengung zu suchen und darin, daß sich früher niemand recht um ihn gekümmert habe. Er sei vernachlässigt worden von seiner Familie.

Wenn man einem an sich gesunden Menschen tagtäglich vorredet, daß er krank ist, so wird er es in neun von zehn Fällen schließlich glauben. So glückte es denn auch hier, den »Vater Reimers« – so wurde er neuerdings genannt – davon zu überzeugen, daß er dringend der Schonung bedürfe.

Unter diesem Gesichtspunkte war das ganze Hauswesen umgestaltet worden. Aus dem Geschäfte hatte sich Herr Reimers ja schon vordem zurückgezogen. Seine freie Zeit auszufüllen, war Sache der Damen.

Sie waren darin erfinderisch. Vor allem dehnte man die Mahlzeiten aus. Und da man sich fünfmal täglich zu Essen und Trinken niederließ, war damit schon ein großer Teil des Tages untergebracht. Hatte man früher bereits im Reimersschen Hause nicht gedarbt, so wurde jetzt dort geschlemmt.

Am besten schlug diese Art Leben bei Vally an. Den Ehrgeiz, eine Figur zu besitzen, hatte sie aufgegeben, seit sie verheiratet war. Sie glaubte es sich jetzt gestatten zu können, auf jedes schlankmachende Rüstzeug zu verzichten. Nun erst sah man staunend, wie verschwenderisch Vally von Natur ausgestattet war.

Zu dieser Erscheinung paßte die satte Ruhe, mit der Vally das Dasein behäbig und würdevoll genoß. In ihrem runden, blühenden Gesicht lag nur ein einziger Gedanke ausgedrückt: Ich habe erreicht, was ich gewollt, ich bin mit mir zufrieden!

Neben Essen und Trinken pflegte man noch andere dem wohlhabenden Bürger zukommende Liebhabereien. Herr Reimers hielt neuerdings Wagen und Pferde. Das Gehen hätte ihn anstrengen können. Man fuhr zu dreien aus, wenn es das Wetter irgend erlaubte, mit zurückgeschlagenem Verdeck, damit man möglichst gesehen werde. Das war von jeher Vallys schönster Traum gewesen: im Landauer bequem zurückgelehnt, angetan mit seidenem Kleide, einen Kutscher in der eigenen Livree auf dem Bock, durch die Straßen zu fahren, bewundert und vor allem beneidet von den Fußgängern. Dieses Ideal war ihr nun in Erfüllung gegangen.

In den Klub und zum Frühschoppen ging Reimers nicht mehr. Seine Damen hatten ihm klargemacht, daß das für seine Gesundheit höchst unzuträglich sei. Nur noch solche Lokale durfte er besuchen, wohin die beiden ihn begleiten mochten. Der Abwechslung halber speiste man gelegentlich auswärts, um Menschen zu sehen und sich zu zeigen. Und auch das gehörte zu den gesundheitfördernden Beschäftigungen, mit denen Reimers neuerdings seine Zeit ausfüllen durfte: ausfindig machen, wo man in München am besten esse. Eine Frage, über die mit dem einer so wichtigen Sache gebührenden Ernste stetig zwischen den dreien hin und her verhandelt wurde.

Wenn man ins Theater fuhr oder zum Konzert – was auch vorkam –, so geschah es aus hygienischen Gründen. Vally hatte herausgefunden, daß nichts die Verdauung günstiger beeinflusse und zu neuem Appetit anrege als Musik und hie und da mal ein Theaterstück. Man bevorzugte das leichtere Genre. Ernstere Musik und Tragödien mied man, als der Gesundheit nicht zuträglich.

Dieses glückliche Kleeblatt wurde ergänzt durch einen vierten: Luitpold Habelmayer. Seit er Witwer geworden, lebte er ganz zurückgezogen, verkehrte nur noch im Hause seines Onkels – der ja nunmehr auch sein Schwager war –, dort aber um so häufiger.

Herr Reimers hatte seinen Neffen Luitpold immer gern gemocht, neuerdings war ihm dessen Umgang geradezu zum Bedürfnis geworden. Denn seitdem der alte Herr in bezug auf seine Vergnügungen auf schmale Kost gesetzt worden war, brauchte er jemanden, der ihm von den verbotenen Früchten wenigstens den Duft zuführte. Luitpolds Weltanschauung und Geschmack waren ganz die seinen. Der Neffe war, wie der Onkel, ein Freund von schweren Zigarren, altem Rheinwein und leichten Damen. Zigarren und Wein konnten sie gemeinsam genießen; die Damen nur insofern, als der junge dem alten Manne von ihnen erzählte. Reimers hörte mit dem verständnisvollen Mitempfinden jemandes zu, der so sehr Kenner ist, daß er die Speisen, welche er einen andern essen sieht, nachzuschmecken vermag.

Nach außen hin spielte Luitpold Habelmayer die Rolle des Witwers in korrektester Weise. Auch darin hatte ihm ja sein Onkel Reimers Jahre hindurch ein nachahmenswertes Vorbild gegeben. Luitpold trauerte noch immer, obgleich nun schon ein Jahr vergangen war, seit Elwire das Zeitliche gesegnet hatte. Wenn er von der Entschlafenen sprach – und das tat er gern –, so geschah es mit gesenktem Blicke und verschleierter Stimme. Ihr Grab besuchte er häufig, nahm wohl auch Freunde mit dorthin, um von ihnen das prächtige Grabmal bewundern zu lassen, das er aus poliertem nordischen Granit hatte errichten lassen. »Ruhestätte der Familie Habelmayer« stand in goldenen Lettern darüber. Elwire war die erste, die dort eingezogen war. Der übliche Bibelspruch und ein »Auf Wiedersehen!« fehlten nicht.

Bei dem lebhaften Verkehr, der zwischen Luitpold und seinen Verwandten stattfand, bekam auch Jutta den Vetter sehr bald zu Gesicht. Sie war auf ihn vorbereitet, in gewissem Sinne, denn ein Brief Vallys an sie nach Florenz hatte zum größten Teile von ihm gehandelt, ihr berichtet, wie untröstlich er noch immer sei.

Jutta fand, daß das sentimental-melancholische Wesen, welches Luitpold als Attribut des Witwertums zur Schau trug, ihm recht schlecht zu Gesicht stehe. Da war er ihr schließlich früher, wo er den Lebemann ganz offen bekannte, noch lieber gewesen. Was man von seiner Trauer um Elwire zu halten habe, mußte sie doch am allerersten wissen.

Übrigens kam ihr der Vetter, wie neuerdings alle und alles in der Heimat, herzlich unbedeutend und lächerlich zurückgegangen vor. Kaum verstand sie noch, wie es möglich gewesen, daß dieser Mensch einstmals von ihr beachtet worden war, ja daß es eine Zeit gegeben, wo seine Zudringlichkeit sie ernstlich beunruhigt hatte.

Jutta merkte es wohl, daß Luitpold von neuem versuchte, Eindruck auf sie hervorzubringen. Das war ja zu erwarten gewesen! Zum Unterschied gegen früher trat er jetzt ganz offen mit seinen Annäherungsversuchen hervor. War er doch Witwer und Jutta ledig. Er trug sich also mit sogenannten »ernsthaften Absichten«, und sein Verhalten war dementsprechend ein ehrbar gesetztes.

Zu Ehren von Juttas Rückkehr aus Florenz hatte Vally es sich nicht nehmen lassen, ein Mittagessen zu veranstalten; Luitpold war dazu eingeladen.

Bei Vally, ihrer Mutter und Vater Reimers war die Verdauung ein äußerst wichtiger Vorgang, dem obzuliegen man für heilige Pflicht hielt. Es war daher nichts allzu Auffälliges, daß sich diese drei gleich nach dem Kaffee in ihre Gemächer zurückzogen, Jutta allein mit Luitpold lassend.

Es wäre ein leichtes gewesen für Jutta, sich ebenfalls zu entfernen und so dem tête-à-tête mit dem Vetter aus dem Wege zu gehen. Aber sie hatte das Gefühl, als sei es richtiger, ihm die Stirn zu bieten.

Luitpold schlug, sobald die andern gegangen waren, sofort einen wärmeren Ton an. Er rückte näher an Jutta heran, suchte ihr in die Augen zu schauen. Da er dort nur auf eisige Blicke traf, senkte er die seinen wieder und begann nun, halb zutraulicher Vetter, halb hoffender Liebhaber, von diesem und jenem zu reden. Schließlich kam er auch auf Elwire zu sprechen und auf seinen großen Schmerz um sie, und wie er erst jetzt, da er sie verloren, zu erkennen beginne, was er an ihr besessen habe.

»Weißt du, liebe Jutta, das Leben ist doch eine merkwürdig ernste Sache. Erst wenn man wirklich Schweres durchgemacht hat, merkt man das. Du hast ja inzwischen auch Enttäuschungen erlebt, und insofern treffen sich unsere Geschicke. Ich meine nicht nur deine Verlobung mit dem jungen Knorrig – die habe ich stets für eine Übereilung angesehen –, ich glaube zu wissen, daß du auch andere bittere Erfahrungen gehabt hast! Doch will ich schweigen, wenn dir das unangenehm ist. Ich wollte dir nur zeigen, daß ich mich stets für deinen Lebensgang interessiert habe. Ich habe unser Verhältnis von jeher als etwas Besonderes betrachtet und in dir immer mehr gesehen als bloß meine schöne Cousine. Auch Elwire kannte meine Gefühle für dich; ich hatte kein Geheimnis vor ihr. Und ich darf wohl sagen: mein Interesse für dich genoß ihre Billigung. Sie war ein edles, großmütiges Geschöpf; dir war sie immer besonders zugetan. Ich habe das deutliche Gefühl, daß Elwire jetzt auf uns beide herabschaut . . .«

Weiter kam er nicht. Jutta erhob sich jäh von ihrem Sitze. Sprachlos vor Verachtung blickte sie Luitpold an. Die Erinnerung an all das Widerliche, was sie früher mit diesem Menschen durchgemacht hatte, stieg mit einem Male in ihr empor.

»Ich weiß nicht, Jutta, ob du mich ganz verstehst . . .«

»Oh, ganz gut verstehe ich dich, lieber Vetter!« erwiderte sie im Tone schneidenden Hohnes. »Und ich will dir ein für allemal sagen, was ich von dir halte: Du bist ein Lump!«

Luitpold zuckte zusammen, richtete sich dann auf, wie zur Verteidigung. Aber als er in das von Erregung bleiche, durchaus ernste Gesicht des Mädchens geblickt hatte, sah er zur Seite, ohne etwas zu erwidern.

»Nun weißt du meine Meinung! Mir liegt übrigens gar nichts daran, einen Familienskandal herbeizuführen. Ich werde die andern nichts merken lassen. Ich denke, das wird dir auch lieb sein!«

*

Lieschens Grab aufzusuchen, hatte Jutta in den ersten Tagen nach ihrer Rückkehr keine Zeit gefunden. Jetzt wollte sie diese traurige Pflicht nachholen.

Sie besorgte sich Blüten und Zweige, um selbst einen Kranz zu winden. Denn es war ihr immer so widersinnig vorgekommen, für geliebte Tote einen von jenen geschmacklosen Trauerkränzen fertig zu kaufen, wie sie am Eingange der Kirchhöfe angeboten werden. Bunte, lebendige, duftende Blüten sollten den Hügel schmücken, wo ihre Freundin ruhte, nicht tote Strohblumen oder steifer Lorbeer.

So wandelte sie hinaus mit ihren Blumen nach dem Gottesacker. Das Grab lag weit draußen: vorm Jahre war es eines der letzten gewesen. Inzwischen waren unzählige neue Hügel entstanden. Jutta wußte nur ungefähr: in dieser Gegend war's gewesen, wo damals Xaver neben ihr gekniet hatte. Aber jetzt schien es unmöglich, in der verwirrenden Menge von Steinen, Inschriften und Bildnissen sich zurechtzufinden.

Jutta sah sich bereits nach jemandem um, der ihr Auskunft hätte geben können, da fiel ihr Blick auf ein Monument von weißem Marmor, das sich inmitten schlichterer Denksteine auffällig von der grauen Kirchhofsmauer abhob.

Nichts ahnend trat Jutta heran. Am Kopfende eines kleinen Hügels stand ein mächtiger, grauweißer Block, grob behauen. Der obere Teil sprang schützend vor wie ein Dach, ließ nach unten eine Nische zurücktreten, an deren Rückwand man ein stark profiliertes Relief erblickte.

Das war keine blasse, weithergeholte, sentimentale Allegorie, wie sie ringsum mehr oder minder geschmacklos die Grabstätten schmückten; das war ein packender, lebensvoller Vorgang! Eine Frau, schlicht gekleidet, die zarte Gestalt vom Schleier umflort, öffnete mit der einen Hand jene Pforte, die ins Unbekannte führt, mit der andern, leicht erhobenen winkte sie Abschied. Das Gesicht, fein und weich wie das eines Kindes, hatte doch den Ausdruck der Reife und des Wissens; der Mund lächelte.

An diesem Lächeln gingen Jutta die Augen auf. So hatte auf der ganzen Welt nur eine gelächelt. Das war Lieschens unvergleichliches, kindergutes, alles verstehendes und alles verzeihendes Lächeln.

Kein Name nannte dem Beschauer, wer die sei, die hier ruhe, keine Tafel gab irgendwelche Erklärung. Wozu auch?! Das Monument redete eine Sprache, die mit einem einzigen erhabenen Worte die Geschichte einer Seele und ihres Schicksals zugleich erzählte.

Hier war alles Zufällige der Erscheinung ausgelöscht, der Geist gelöst von der irdischen Form. Das Ewige eines Wesens wirkte hüllenlos.

Jutta stand sprachlos mit gefalteten Händen davor, überwältigt, erschüttert, durchschauert. Ehrfurcht empfand sie, wie vor einer Offenbarung, Ehrfurcht, wie man sie fühlt, wenn es einem Menschen gelungen ist, zum endgültigen Kern eines Ereignisses durchzudringen, es zur ewigen Wahrheit zu gestalten.

Sie weinte nicht. Was hätte es hier auch zu weinen und zu trauern gegeben?! Hier war dem Tode wahrhaftig der Stachel genommen, hier war ewiges Leben. Liebe, die über das Grab hinaus solche Wunder wirkte, war einem Baume gleich, der einen kurzen Winter hindurch tot geschienen, und dann aus verhaltener Kraft im Frühling nur um so herrlichere Blüten treibt.

Ihre Blumen legte sie am Fußende des Hügels nieder, den der Efeu bereits zum größten Teile übersponnen hatte. Nun kannte sie nur noch ein Verlangen: zu dem, der das geschaffen hatte! Ihm danken!

Es war einer jener Entschlüsse, wie sie in großen Augenblicken aus der heimlichen Werkstatt unseres Lebens: dem Herzen, aufsteigen, zu denen der Kopf hundertmal »nein« sagen mag, die uns unter ihr unentrinnbares Gebot zwingen und unser Schicksal entscheiden.

Zu ihm, den sie haßte, weil sie ihn liebte, den sie fürchtete und zu dem es sie hinzog, vor dem sie geflohen und dem sie begegnet war auf allen Wegen, zu ihm, der sie, ohne es zu wissen und zu wollen, nun endlich besiegt hatte, ging sie jetzt.

 


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