Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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XX

Das Frühjahr war inzwischen herangekommen, mit ihm der Termin zu den Staatsprüfungen. Otto Weßleben hatte soeben sein Examen glücklich bestanden und reiste, ehe er am Gericht angestellt werden sollte, auf einige Wochen an den Rhein. Eberhard stand noch mitten drin und hatte als bedrängter Examenskandidat weniger denn je Zeit, sich Braut und Schwester zu widmen.

Gern hätte Jutta Ausflüge gemacht. Das Grün, welches auf den Schmuckplätzen der inneren Stadt, an den Alleebäumen und Rasenflächen sich hervorwagte, verriet, daß die Welt wieder mal ihr Kleid zu wechseln sich anschicke. Jutta kannte noch gar nichts von der Umgegend Berlins.

Aber es fand sich niemand, der sich ihr angeschlossen hätte. Ihr Bruder war durch seine Examenarbeit daran verhindert, und Agathe, die nur zu gern mit der Freundin durch Wald und Feld gestreift wäre, wurde durch mütterliches Verbot festgehalten. Zwei junge Mädchen allein Landpartien unternehmen! Das schickte sich nicht, außerdem war es auch gefährlich.

Um nur wenigstens etwas frische Luft zu atmen und das Auge von den stumpfen Farben der Straße zu erholen, machte Jutta, wenn sie von der Weßlebenschen Wohnung nach dem Zentrum der Stadt ging, mit Vorliebe einen weiten Umweg, der sie durch den Tiergarten führte.

Freilich war das nur ein zahmes Stück Natur, eingehegt, gelichtet, von gradlinigen Straßen und Wegen durchquert; nur hie und da, wo vielleicht aus Versehen die Hand des Gärtners nicht hingekommen, machte auf kargem Boden die Vegetation den Versuch, in Urwüchsigkeit und einiger Üppigkeit zu wuchern. Aber es war, als hätten die Bäume ein schlechtes Gewissen, als warteten diese dünnen, korrekten Gesellen auf ein Kommandowort, eine Genehmigung von höchster Stelle, über das Normalmaß hinauszuwachsen.

Eines Tages befand sich Jutta, herausgelockt durch das schöne Wetter, eben auf dem Wege nach dem Westen, als sie nach den ersten paar Schlitten auf der Straße eine ihr wohlbekannte Gestalt, wie aus der Versenkung, plötzlich vor sich auftauchen sah.

Dort stand einer mitten auf dem Fahrdamm und schaute nach den Häusernummern aus. Ein Mann im braunen Lodenanzug von hoher Gestalt. Die Hände im Kreuz zusammengelegt, wiegte er den Oberkörper hin und her und blickte mit großen blauen Augen unter der gewölbten Stirn gleichsam wie unter einem schützenden Helm hervor.

Jutta machte jäh halt, als sie Xavers Silhouette vor sich sah. Hatte sie eine Vision? – Der Atem stockte, das Herz schlug ihr bis zum Hals hinauf. Dabei fühlte sie, daß sie etwas tun müsse. So durfte er sie doch nicht überraschen, so ratlos, so ganz außer Fassung. Aber sie fand keinen Entschluß, nicht mal zur Flucht; wie gebannt stand sie und starrte.

Xaver kam, immer die Hausnummern musternd, langsam schreitend bis nahe an sie heran. Als er wenige Schritte von ihr war, fiel sein Auge auf sie. »Fräulein Reimers!« rief er und streckte sofort die Hände nach ihr aus.

Jutta stand da mit schlaff herabhängenden Armen, bleich, vor Erregung zitternd, und wußte nicht, was tun, was sagen! –

»Schau, treffen wir uns so!« rief Xaver. »Ich wollte zu Ihnen. Kann mich in dem verwünschten Berlin nicht zurecht finden. Nun, da sind Sie! Gelt, das ist schön. Lieschen läßt vieltausendmal grüßen. Sie hat mir's ans Herz gelegt, daß ich Sie aufsuchen müßte in Berlin. Ich hätt's freilich auch ohnedem getan!« Dabei preßte er ihre Hand in seiner starken Faust, als wolle er sie zerdrücken.

Jutta hatte über dieser Begrüßung Zeit gefunden, sich zu fassen. »Wie geht es Lieschen?« fragte sie.

»Den Winter hätt's besser gehen können! Sie ist viel im Bett gelegen. Aber der Frühling wird ihr schon auf die Beine helfen. Ich hab' keine Sorge. Sie sagt immer: wenn erst die Sonne scheint und ich darf wieder hinaus, dann sollst sehen, Xaver, dann werd' ich wieder gesund! Ich hab' ihr ein Häuschen gemietet, draußen in Schwabing. Die Stadtluft ist nichts für das arme Hascherl. Und gar die alte Dachkammer, wo sie lebt! Nun, Sie kennen's ja! Das wird alles anders jetzt. Wenn ich von Berlin zurück bin, wird umgezogen!«

»Was wollen Sie denn in Berlin, Herr Pangor?« forschte Jutta. Ihr war urplötzlich ein Gedanke gekommen, der ihre Pulse beschleunigte. Wie, wenn er ihr Bild gesehen hätte: den »Herrgottsschnitzer«?! – Wie leicht war das möglich. Er würde doch wahrscheinlich alle größeren Ausstellungen besucht haben.

Xaver antwortete: er sei seit drei Tagen in Berlin. Anlaß zu dieser Reise war der Ruf eines Kunstliebhabers gewesen, der etwas von Pangors Entwürfen in einer Zeitschrift gesehen hatte und mit ihm persönlich die Bestellung besprechen wollte. Das Geschäft war zur beiderseitigen Zufriedenheit erledigt; morgen bereits wollte der Bildhauer wieder abreisen.

Gott sei Dank, das klang harmlos! Jutta atmete auf. Ihre Befürchtungen verblaßten.

Man war auf dem Bürgersteig auf- und abgeschritten. Jutta empfand wenig Lust, Xaver aufzufordern, mit ihr in die Weßlebensche Wohnung zu kommen. Wo sollte sie ihn dort aufnehmen? Ihn mit der Pastorsfamilie bekannt machen? Das konnte kein erfreuliches Zusammensein ergeben.

»Ist's Ihnen recht, wenn wir etwas gehen?« fragte sie.

Er war damit einverstanden.

»Und wie gefällt Ihnen Berlin, Herr Pangor?«

»Wenn Sie mich fragen, muß ich's wohl sagen: abscheulich! Diese Stadt drückt auf mich, liegt auf mir wie ein Riesenalp. Ich bin nicht mehr Künstler, habe aufgehört Individuum zu sein, seitdem ich Berliner Pflaster trete. Hier könnte ich keinen Gedanken fassen, geschweige ein Kunstwerk schaffen. Mein Geist ist wie sterilisiert. Wie haben Sie das nur ein halb Jahr lang aushalten können?«

»Anfangs hat es mir auch den Atem versetzt; aber ich habe mich daran gewöhnt, manches hier sogar lieb gewonnen.«

»Haben Sie auch fleißig gearbeitet – gemalt?« –

Jutta war froh, daß sie der Frühjahrssonne wegen einen Schleier vorhatte; so bemerkte er wohl ihr Erröten nicht. »Ich habe etwas gemalt, aber es ist nicht der Rede wert«, sagte sie.

»Landschaft oder Figuren?«

»Ach, reden wir lieber von was anderem, Herr Pangor. Ich spreche nicht gern von meinen Sachen. Sie ja übrigens auch nicht!« Jutta lachte nervös.

Es kam ihr alles so gezwungen, so falsch vor, daß sie steif und sittsam neben ihm schreiten mußte, ihm nicht zeigen durfte, wie seine Anwesenheit sie im Innersten ergriff. Wie unnatürlich auch, daß sie ihn »Herr Pangor« nennen mußte, nicht mal »Xaver« zu sagen war ihr gestattet. Wo sie ihn doch in einsamen Stunden mit ganz anderen, vertrauteren Namen gerufen hatte! Zu was für widerlichen Lügen einen die gute Sitte zwang!

»Wo gehen wir eigentlich hin?« fragte er, als sie ein langes Stück schweigend nebeneinander hergeschritten waren.

»Ich weiß es nicht, Herr Pangor!«

»Gibt es denn hier nirgends so was wie Gottes freie Natur?« rief er. »Wald, Seen, Berge! Ich komme mir so dumm vor, wenn ich ein paar Tage lang nur Ziegelmauern und Gaslaternen gesehen habe!«

Ein Gedanke durchzuckte Jutta: wie, wenn sie den längst gehegten Wunsch ausführte, ins Freie zu gehen? – Hier hatte sie ja die Begleitung, die ihr bisher gefehlt!

Aber was würden die Weßlebens sagen? –

Ach, warum sich darum sorgen? Was ging die Prüderie ihrer Wirte sie an? Sie war doch erwachsen, konnte tun, was ihr gefiel! Schutz hatte sie ja nun, ohne den man, wie die Pastorin meinte, sich nicht in die Umgebung Berlins wagen durfte. Freilich würde Xaver nicht ganz dem entsprochen haben, was die überängstliche Dame sich unter solchem »Schutz« wohl gedacht hatte.

Bei der nächsten Haltestelle stiegen sie in die Pferdebahn. Im Wagen war kein Sitzplatz mehr, nach kurzem Besinnen stieg Jutta daher zum Verdeck hinauf, gefolgt von ihrem Begleiter.

Ein frischer Wind ging hier oben. In den Spiegelscheiben, den Laternen, dem Geschirr der Pferde, kurz in allem, was imstande war zu glänzen, spiegelte sich die Frühjahrssonne. Auf den breiten Trottoirs, unter den Alleebäumen mit ihren winzigen Knospen und Blättchen ergingen sich die Spaziergänger. Alle Leute sahen heute so vergnügt aus, als seien sie wirklich da, um zu leben, und nicht, wie sie sonst glaubten und glauben machen wollten, nur um ihrer Geschäfte willen. Vor den Läden standen die Inhaber und betrachteten sich die Lorbeerbäume, Azaleen und Oleandersträucher in Kübeln, die man zum ersten Male herausgestellt hatte. Gewächse, die der Berliner, wenn ihrer mehr als ein Exemplar vorhanden ist, kühn seinen »Garten« nennt. Allerhand Buntes wagte sich an den Menschen hervor. Die Damen trugen ihre Frühjahrshüte zur Schau; da und dort tauchte auch eine helle Toilette auf.

»Lassen's doch Ihren Schleier weg!« sagte er, neben ihr auf der Bank sitzend. »Die Sonne wird sich freuen. Ihr Gesicht zu sehen.«

Sie tat, wie er wünschte. Seine Unbefangenheit hatte etwas Ansteckendes. War's nicht, als habe er einen frischen Luftzug mitgebracht in die fremde Stadt, voll würzigen Heimatdufts. Ihr wurde warm ums Herz. Sie fühlte sich so frei, so entbunden jeden Zwanges. Jutta freute sich auf den Tag mit ihm.

Sie hatte die Führung übernommen, obgleich sie so gut wie gar nichts vom Wege wußte. Ihr Bestreben war, den nächsten Bahnhof zu erreichen: wenn man da einen Zug nach Westen zu benutzte, mußte man aus Berlin herauskommen und irgendwo landen. Das übrige würde sich dann schon finden!

Nach einiger Zeit saßen sie denn auch glücklich in einem Vorortzug und sahen Rückseiten von Häusern, Essen und Fabriken an sich vorüberfliegen. Dann kam Gartenland, Bäume, Wasser. Sie glaubten schon außerhalb Berlins zu sein; da fing es noch einmal an, mit einem Gewirr von Straßen und Plätzen. Endlich kam freies Feld, und in der Ferne zeigte sich der dunkle Kranz des Kiefernwaldes.

»Hier fängt es an, menschlich zu werden!« sagte Xaver und sog die frische Luft, die durch das geöffnete Fenster eindrang, begierig ein.

»Wollen wir bei der nächsten Station aussteigen, gleichviel wie sie heißt?« fragte das Mädchen.

Er war dabei.

Hinter dem Bahnhofe schritten sie an einer Reihe Villen vorüber, dem nahen Walde zu.

»Wir wollen keinen Menschen fragen nach dem Wege, hören Sie! Es ganz dem Zufall überlassen, wo er uns hinführen will«, rief Jutta.

»Dann am besten gar keinen Weg! Einfach der Sonne nachwandern!« meinte er.

Entzückt von diesem Plane verließ Jutta den sandigen Weg und trat in den Forst. Die alten Kiefern standen licht. Es ging sich weich und angenehm auf der elastischen Streu von braunen Nadeln. Durch die Bäume strich der Wind, bewegen konnte er die mächtigen Säulen nicht, aber er spielte mit ihrem Geäst.

»Horchen Sie nur!« sagte Xaver und blieb stehen. ». . . Wie sie miteinander sprechen!« Jutta lauschte. »Genau wie im Tannenwald daheim! Der Wind macht sie klingen und singen. Sonst sind sie ein schweigsames Volk.«

Und er begann auf einmal zu erzählen von seiner Alpenheimat. Von der Mutter sprach er, die eine echte, rechte Bäuerin sei, fromm und einfach, gut gegen die Guten, voll Abscheu gegen alles Böse, lebhaft, und trotz ihrer Jahre rüstig, tatkräftig und lebenslustig: ein »Kernweib«, wie es deren nicht viele gäbe. Und der Vater, ehemals ein gefürchteter Raufer, dann, nachdem er abgegohren, ein strenger, zäher, sparsamer Mann, der vor allem auf Mehrung seines Besitzes bedacht war. So berichtete er weiter von seinem Onkel, dem Schreiner, in dessen Werkstätte Xaver einstmals Lehrling gewesen. Jetzt lag der Brave längst draußen auf dem Bergfriedhofe im selbstgefertigten Sarge. Das ganze Leben in Bauernhof und Dorf ließ er vor Juttas Augen entstehen, seine Jugendgeschichte, die ersten Kunsteindrücke, seinen Werdegang.

Jutta lauschte mit verhaltenem Atem. So frei hatte er sich ihr noch nie gezeigt, so offen noch nie zu ihr gesprochen. Vieles, was ihr rätselhaft gewesen war an ihm und befremdlich, wurde nun auf die einfachste Weise verständlich. Er war Naturkind, war es geblieben, trotz Künstler und modernem Menschen. Die Kultur hatte keinen Narren aus ihm gemacht, nur ein ganz klein wenig hatte sie ihn poliert, daß Glanz, Farbe und Adern dieses Steines recht zur Geltung kamen.

Hier draußen in Gottes freier Luft mußte man Xaver Pangor sehen. Hier weitete sich seine Brust hier leuchtete sein Auge, hier schien er mit seinen kräftigen Gliedmaßen, seinem freien Gang, seinen starken Bewegungen, ein Stück Natur, zu ihr gehörig wie zum Walde das Wild. Die Stadt war kein Hintergrund für solche Persönlichkeit. Jutta hatte das erst vorhin unangenehm empfunden: er war neben ihr aufgefallen, die Leute hatten sich nach ihnen umgedreht. Er paßte nicht zu dem geschniegelten Weltstadtgigerltum ringsum. Seine Kleider, die ganz zu ihm gehörig wie eine zweite Haut an seinem Leibe saßen, waren das Gegenteil von modisch.

Ja, es war ein glücklicher Gedanke gewesen, sich mit ihm hier hinaus zu begeben.

Man schritt immer weiter quer durch den lichten Wald, der kein Ende zu haben schien. Hin und wieder kreuzten sie mal einen Weg, vermieden es aber, ihn anzunehmen.

Xaver sprach jetzt von seiner Kunst, entwickelte Pläne, schilderte die Arbeiten, die er augenblicklich im Atelier hatte. Seine Rede, eben noch fließend und lebendig, wurde mit einem Male stockend: er suchte nach Ausdrücken. Jutta wußte es ja, wenn es sich um sein Höchstes handelte, dann bekam er dieses Unbeholfene, Hilflose des suchenden, ringenden Menschen. Sie erkannte auch diesen, nach innen gerichteten Blick des versonnenen Künstlerauges wieder.

Durch die Baumstämme erglänzte jetzt in der Ferne etwas Helles. Ein Wasserspiegel. Neugierig eilten sie vorwärts und waren bald darauf am buschigen Waldrande angelangt. Das Gelände fiel steil ab zum See. Die paar Meter, die sie über der Wasserfläche erhöht standen, ergaben in der flachen Gegend einen Ausblick von überraschender Weite.

Den größten Teil des Bildes füllte der See aus mit seiner metallgrauen, durch den schwachen Wellenschlag nur wenig bewegten Fläche, platt hingeworfen wie ein blanker Schild. Ein Kranz von braunem Schilf als Vordergrund, auf dem Wasser ein alter baufälliger Kahn angepflockt. Im graublauen Himmel ein paar blendend weiße Punkte: Möven, die in graziösem Fluge über einer dunkleren Stelle des Wassers schwebten. Vom jenseitigen Ufer grüßte der Kiefernwald, eine sanft gebuchtete Wand mit einem Streifen gelben Sandes davor. Dort, wo der See in ein spitzes Ende auslief, traten die Kulissen zurück; ein Stückchen Ebene wurde sichtbar, auf dem die volle Sonne lag. In südlicher Heiterkeit geradezu erstrahlte das gegen den nüchternen Vordergrund. »Ferne«, hieß die gutgelaunte Malerin, die sich in diesem nördlichen Lande einen solchen Farbenscherz erlaubte.

Jutta und Xaver standen lange Zeit tief versunken. Sie waren beide viel zu sehr Künstler, um durch Ausbrüche des Staunens oder gar durch erklärende Worte in solchem Augenblicke sich und dem anderen die Stimmung zu verderben. Andachtsvoll nahmen sie das Geschenk auf, welches ihnen der liebe Gott in den Weg gelegt hatte, als Feiertagsüberraschung.

Man nimmt immer etwas mit in der Seele von solchem Moment. Das Bild mag von der Netzhaut verschwinden, aber es bleibt eine Bereicherung jenes inneren Schatzes von Schönheit, an dem der Mensch, der sehen gelernt hat, sammelt sein Leben lang.

Ohne daß ein Zeichen zwischen ihnen gewechselt wurde oder ein Wort gefallen wäre, wandten sich Jutta und Xaver gleichzeitig und traten zurück in den Wald. Beide wußten, daß sie sich näher gekommen waren in den letzten Minuten, und beide waren von diesem Bewußtsein stark bewegt.

*

Sie waren in eine Wirtschaft eingekehrt, die mitten im Walde lag, dort hatten sie ihr Mittagbrot eingenommen. Da sie die ersten Gäste waren, verfrühte Schwalben gleichsam, die den Anbruch der Saison verkündeten, wurden sie besonders gut bedient. Schließlich, als sie aufbrechen wollten, begleitete der Wirt sie ein Stück, um ihnen den rechten Weg nach der Eisenbahnstation zu weisen.

Es war Juttas Wunsch gewesen, nun zu gehen. Sie bedachte, daß die Weßlebens sich schließlich doch um sie ängstigen möchten, wenn sie gar so lange ausblieb. Als sie aufbrachen, war noch heller Tag; aber unterwegs kündete sich die Dämmerung an.

Im Walde war es schon beinahe dunkel. Graue und braune Farbentöne herrschten vor. Nur der sandige Weg leuchtete vor ihnen in fahlem Lichte. Der Himmel blieb hell und färbte sich gegen Westen zu gelblich. »Die Sonne ist sparsam in ihren Effekten hier zu Lande!« meinte Xaver. »Haben Sie mal einen Sonnenuntergang gesehen in den Bergen?« Jutta nickte. Er begann wieder von seiner Heimat zu schwärmen.

Das Mädchen blieb einsilbig. Zu voll war ihr das Herz zum Sprechen. Nachdenklich schritt sie vor sich hin; der Abend hatte sie mit seinem Traum-Fittich berührt.

Was für ein außerordentlicher Tag lag hinter ihr! Außerordentlich nicht durch äußeres, um so mehr aber durch inneres Erleben. Sie dachte an ein Wort von Lieschen Blümer, das sie erst heute in seiner Wahrheit begriff: »Gewisse Erlebnisse haben Ewigkeitswert: sind nur Symbole von größeren Dingen, die sich jenseits der Wolken abspielen.«

Ganz fromm und still war sie geworden; beten hätte sie mögen, danken für ein großes, unverdientes Glück. Versöhnt fühlte sie sich. Alle Unruhe, alles Häßliche, alle Furcht, alle Eifersucht war von ihr genommen. Sie konnte an alle Menschen in Liebe denken. Wer glücklich ist, kann nicht hassen.

War es nicht herrlich, zu denken, daß es so einfache, gute und große Menschen gab! Kam es darauf an, daß man geliebt wurde? Nein, wenn man nur selbst lieben durfte: das war das Wichtige! Darin lag das Glück beschlossen.

Und lieben durfte sie. Wer konnte es ihr verwehren. Niemand wußte es ja! Nicht einmal der, den sie liebte.

Eine gab es, die wohl etwas ahnen mochte. Lieschen wußte um ihr Geheimnis. Lieschen hatte ihn zu ihr geschickt. Lieschen verdankte sie diesen Tag mit Xaver. Oh, wie sie der Freundin dankbar war, wie sie die Freundin verstand!

Wenn man bedachte, wie sich die Dinge herrlich entwickelt hatten! Vor einem Jahre noch voll Scheu, Mißtrauen und Ängstlichkeit gegeneinander erfüllt, verkehrten sie jetzt wie Freund und Freundin.

Mit ihm so durch den Wald zu schreiten, allein, ohne Weg und Steg, ins Unbekannte hinein, schauerlich zugleich und schön! So hätte sie ruhig gehen mögen überallhin, ob es Nacht sei oder Tag! Er war ja so kindergut und harmlos, und dabei wußte sie doch, wie ganz er Mann sei. Seine bloße Nähe, seine Stimme, jede seiner Bewegungen sagten ihr: ich bin stärker als du, ich könnte dir Gewalt antun, wenn ich wollte. Aber sei ruhig, ich bin zu vornehm dazu.

Oh, sie war stolz auf ihn. In ihrem Herzen beugte sie sich vor ihm, betete seine Männlichkeit an.

Freundschaft! Ob sie wohl möglich war zwischen Mann und Frau? Wäre es nicht das Höchste, das Edelste, das menschlich Größte gewesen, das Erhabenste, was das Leben bieten mochte! –

Freundschaft! Das bloße Wort hatte solch intimen Zauber in sich, es schmiegte sich der Seele an, es schmeichelte der friedlich frommen Stimmung ihres Gemüts, es paßte auch so traulich zu der dämmerigen Landschaft, durch die sie schritten. Freundschaft war edel und großmütig, ohne all die häßlichen Schlacken der Leidenschaft und des Verlangens und dennoch erfüllt von Kraft, begabt mit der Wonne gegenseitigen Besitzes.

So etwas mußte möglich sein! Nur auf die Menschen kam's an, daß sie wagten, es zu leben.

Sie erreichten die Haltestelle. Nicht lange dauerte es, da kam ein Zug herangebraust. Im Durchgangswagen fanden sie eine leere Abteilung. Nebenan saß eine Gesellschaft von zweifelhafter Güte, die sich durch Lachen und Schreien unangenehm bemerkbar machte.

Xaver und Jutta setzten sich einander gegenüber. Sie schwiegen eine Weile. Dann beugte er sich vor zu ihr, wohl um nicht allzulaut sprechen zu müssen, blickte ihr vertraulich in die Augen und sagte: »Kann ich Sie recht bald wieder sehen?«

»Aber Sie wollten doch morgen schon reisen, verstand ich!« rief Jutta.

»Ach, das war nicht so fest beschlossen. Ich kann noch ein paar Tage bleiben schließlich. Zwar an Berlin liegt mir nichts; aber nun, wo ich Sie getroffen habe, gefällt mir's. So ändert der Mensch seinen Geschmack!« Er lachte unbefangen.

Jutta senkte die Augen vor seinem Blicke. Sie fühlte sich unangenehm berührt von der Rede, vielleicht auch von der Art, wie er sie vorgebracht.

»Ich habe unbegrenzten Urlaub. Lieschen gönnt es mir, daß ich bei Ihnen bin.«

O warum sagte er das! Wozu Dinge aussprechen, die sich von selbst verstanden! Wenn man sie dachte, blieben sie natürlich, wenn man sie in den Mund nahm, bekamen sie etwas Verzerrtes. Mit seinen plumpen Worten hatte er jenes Bewußtsein der Unschuld und Harmlosigkeit zerstört, das sie all die Zeit über als unsichtbarer Schutz umgeben hatte. Jetzt mit einem Male empfand sie, daß sie allein sei mit ihm. Trotz des grellen Lampenlichtes, trotz der Leute nebenan, wurde ihr bange vor dem Manne, mit dem sie eben noch mutig durch die Einsamkeit des Waldes geschritten war.

Er mochte etwas merken von dem Wechsel in ihrer Stimmung; wodurch er sie verletzt haben könne, wußte er freilich nicht. »Ich meinte nur«, sagte er, »daß es für mich noch mancherlei in Berlin gibt, was mich veranlassen könnte zu bleiben. Gern wäre ich zum Beispiel in ein oder die andere Ausstellung gegangen mit Ihnen. Vier Augen sehen leicht mehr als zweie. Hätten Sie nicht Lust?«

Jutta schüttelte energisch den Kopf. »Im vorigen Jahre durfte ich Ihr Lehrer sein; hier könnten Sie mich führen, und wir würden gemeinsam lernen. Wäre das nicht schön?«

Wieder beugte er sich vor und suchte ihr Auge. Sie wich seinem Blicke aus, wohl wissend, daß darin eine größere Versuchung lag als in allem, was er vorbringen mochte. Wie gern hätte sie ihn gebeten, daß er schweigen, sie in Frieden lassen möchte. Es war ja gut gemeint von ihm, aber für sie lag etwas in seinen Vorschlägen, was verstimmte, traurig machte.

»Oder lassen Sie uns wenigstens noch einen solchen Ausflug unternehmen!« fuhr er unbeirrt fort. »Ich will alles zurücknehmen, was ich früher über die Häßlichkeit dieser Gegend gedacht habe. Schließlich kommt es nur darauf an, in welcher Laune man ein Stück Erde betritt; dem Glücklichen erscheint die Wüste ein Paradies. Es war doch heute so schön! Hat es Ihnen denn nicht auch gefallen? Sagen Sie!« dabei streckte er die Hand aus nach der ihren.

»Es geht nicht!« rief Jutta gepreßt. In die dargebotene Hand schlug sie nicht ein. »Wahrhaftig, es geht nicht!«

»Wenn Sie nur wollten?« schmeichelte er.

»Ich kann über meine Zeit nicht so frei verfügen wie Sie denken, Herr Pangor. Schließlich muß ich doch auf die Menschen Rücksicht nehmen, bei denen ich wohne. Es war nur Zufall, daß ich heute mit Ihnen kommen konnte. Aber ich meine, wir wollen uns damit begnügen.«

»Begnügen! Das Wort hasse ich. Denken Sie doch: so jung und lebensfroh kommen wir nie wieder zusammen. Tun Sie's nur!«

Jutta erhob sich von ihrem Sitze und blickte zum Fenster hinaus. Draußen flogen schon allerhand gigantische Formen vorüber: Dächer, Essen, Häuserzeilen, lange Reihen von Lichtern, Berlin ankündend.

Sie suchte Zeit zu gewinnen zum Nachdenken. Wenn er geahnt hätte, wie sein Vorschlag sie erregte, wie im Grunde ihres Widerwillens eine versuchende Kraft sich rührte, ihm zu willfahren. Stärker noch als er empfand sie den glühenden Wunsch: mit ihm zu sein, nicht sich trennen zu müssen, nach so kurzem Wiedersehen! Beieinander bleiben! Gemeinsam genießen: Kunst, Natur, alles Gute, alles Schöne, das ganze Leben. Seine Stimme hören, seine Gegenwart fühlen! Neben ihm gehen, wie heute, träumen, süß träumen, und nichts von dem verraten, was man träumte.

Aber es war auch eine Stimme in ihr, die sie warnte. Jutta hatte die männliche Begehrlichkeit kennengelernt. Sie ahnte, daß eines jeden Mannes Brust Dämonen birgt, die bereit sind, hervorzustürzen wie die Tiger, ungebändigt. Wer stand ihr dafür, daß er besser sei als die anderen! Mann blieb Mann! Konnte er für seine Anlage?

Die größte Verantwortung war auf sie gelegt. War es nicht Pflicht, ihn zu schützen vor sich selbst? Er, der ihr anvertraut war von der Freundin!

Lieschens blasses Gesicht tauchte vor ihr auf. Eine andere Frau hatte Anrecht auf ihn, ein Anrecht, das geheiligt war. Und selbst wenn Lieschen nicht ihre Freundin gewesen wäre, so würde der Verrat der Treue doch das Verbrechen sein, welches nie vergeben werden konnte, das Verbrechen am eigenen Geschlecht.

Weniger als eine Minute hatte das Mädchen dazu gebraucht, diesen Gedankengang zu durchmessen. Nun stand sie am Ende und wußte, wie sie sich zu verhalten habe.

Ruhig, mit freundlichem Lächeln, wandte sie sich zu ihm, der sie gespannten Blickes, der Entscheidung harrend, betrachtete. »Es war sehr freundlich von Ihnen, Herr Pangor, mich aufzusuchen und noch freundlicher, daß Sie mir Ihren ganzen Tag gewidmet haben. Aber nun müssen wir uns trennen. Bei der nächsten Station werde ich aussteigen, Sie haben noch ein Stück weiter zu fahren. Reisen Sie nur morgen früh, wie Sie ursprünglich wollten. Sie müssen Lieschen viel erzählen, auch von mir, hören Sie! Und sagen Sie ihr viele herzliche Grüße!«

Xaver machte noch einen Versuch, sie umzustimmen. Aber Jutta schüttelte nur lächelnd den Kopf. Als die Station kam, ließ sie sich von ihm die Tür öffnen und reichte ihm die Hand zum kurzen Abschied.

Er stand und starrte ihr verdutzt nach, als er vorbeifahrend das Mädchen, ruhigen Schrittes, ihr Kleid ein wenig raffend, den Perron hinabschreiten sah.

 


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