Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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II

Inzwischen kleidete sich Jutta um. Sie legte das Kleid an, das ihr der Vater neulich aus Wien mitgebracht hatte. Er liebte es, die Tochter hübsch angezogen zu sehen.

Jutta sah dem Wiedersehen mit dem Vater voll freudiger Spannung entgegen. Er brachte stets Geschenke mit für die Seinen und erzählte allerhand interessante und schnurrige Erlebnisse. Es kam dem Mädchen vor, als sei alles lebendiger und prächtiger im Hause, sobald er da war. Besonders bei Tisch ging es dann hoch her. Das Essen war besser, es gab Wein von den verschiedensten Sorten. Und wenn sich Jutta auch weiter nichts daraus machte, so liebte sie doch den größeren Zuschnitt des Lebens, die Freude, die Opulenz, die ihr Vater um sich verbreitete.

Als das Gong laut durch das Haus ertönte, war Jutta eben fertig geworden. Sie eilte in das Zimmer ihres Vaters. Dort stand er am Kaminfeuer und ließ sich den Rücken wärmen. Sie flog auf ihn zu, warf sich ihm in die Arme. Der Vater hob sie empor und küßte sie lachend auf Mund und Haar.

Es waren Gäste da: Bruno Knorrig, den Herr Reimers bei seinem Sohne angetroffen, und Vater Knorrig, Reimers' Geschäftskompagnon.

Reimers war Fünfziger von regelmäßigen Gesichtszügen, mit lebhaften Augen, schön gebogener Adlernase und wohlgepflegtem blonden Bart. Sein Kopf fing eben an zu ergrauen. Eine mäßige Korpulenz stand ihm nicht schlecht, da sein kerniges Fleisch nichts von der Aufgedunsenheit fetter Leute zeigte. Es wurde einem behaglich zumute beim Anblick dieser gesunden, kräftigen, wohlproportionierten Männergestalt. Sein schwarzer Anzug kleidete ihn gut, und seine Wäsche war von tadellosem Glanz.

Als eine ganz andere Sorte Mann stellte sich sein Geschäftsteilhaber dar. Knorrig war ein hagerer Geselle von eckigen Gliedmaßen, über denen ein grauer Anzug leblos wie auf einem Kleidergestell hing. Das Auge war klein und phantasielos, der Mund, mit schmalen Lippen und vortretendem Gebiß, unschön. Er stammte aus Nordbayern und stach mit seiner oberfränkischen Nüchternheit stark gegen das gemütliche, leichtlebige Münchnertum ringsum ab. Seit Jahren schon verwitwet, besaß Knorrig nur den einen Sohn, Bruno, der, von Natur auch nicht gerade mit Anmut ausgestattet, neben diesem Vater immer noch als Schönheit hätte gelten können.

Herr Reimers berichtete von dem Erfolge seiner Reise. Seine Worte betrafen Geschäftliches und waren zumeist an den Kompagnon gerichtet: die Aussichten der Kaffeeernte in Südamerika, die Lage des Marktes in den dortigen Plätzen, das voraussichtliche Steigen der Kolonialwarenpreise, Börsenabschlüsse, Schiffsnachrichten, Gründungen, Konjunktur, Handelspolitik. Alle diese Gebiete standen für ein Handelshaus wie Reimers und Knorrig im Vordergrunde des Interesses.

Knorrig senior hörte aufmerksam zu, warf nur hie und da eine kurze Frage ein, oder machte eine trockene Bemerkung.

Gelegentlich unterbrach Reimers auch mal die geschäftliche Unterhaltung, flocht eine Anekdote ein oder eine lustige Schilderung, welche für die jungen Leute berechnet war. Er liebte es nicht, die Kinder mit gelangweilten Gesichtern dasitzen zu sehen; alles um ihn her sollte guter Dinge sein. Gegen Schluß der Tafel wurde ein auserlesener guter Tropfen alten Rheinweins aus dem Keller herausgebracht, dem der Wirt selbst mit sichtlichem Verständnis zusprach.

Reimers stammte vom Rheine. Lebensfreude und leichter Sinn, die nirgends froher gedeihen als an den Ufern unseres schönsten Stromes, waren auch ihm von Geburts wegen eigen. Den Dreißigen nahe, war er als Vertreter eines Kölner Hauses nach München gekommen. Das Leben in der Isarstadt sagte ihm zu. Er heiratete in eine alteingesessene Münchener Kaufmannsfamilie hinein. Der Vater seiner Frau war Inhaber eines großen Kolonialwarengeschäfts.

Sehr bald aber wurde Reimers die Seele des Hauses. Vom Detailhandel im Inlande ging er kühn über zum Import. Er reiste selbst hinaus, studierte an Ort und Stelle die Venezuelanischen Verhältnisse, erwarb Plantagen im Hinterlande und ein Lagerhaus in Caracas. Nachdem er hier alles organisiert hatte, kehrte er nach Hause zurück und erwarb sich eine feine Kundschaft in Deutschland. Seine gute Erscheinung, sein sicheres Auftreten und sein joviales Wesen kamen ihm dabei zustatten. Das Glück war ihm günstig. Bald hatte er aus der rein lokalen Firma seines Schwiegervaters ein weithin angesehenes Haus gemacht.

Schließlich starb der Alte. Er hinterließ außer Frau Reimers nur noch eine Tochter: Frau Habelmeyer. Deren Mann war ein Luftikus gewesen, hatte Bankerott gemacht, wobei das im voraus gezahlte Erbteil seiner Frau zugrunde gegangen war. Daher gingen Geschäft und Vermögen unter Ausschluß der älteren Tochter an Frau Reimers über, die in ihrem Manne eine bessere Wahl getroffen hatte.

Frau Reimers war ihren Vorfahren ähnlich: äußerst gutmütig und harmlos, lebenslustig, ein wenig zur Bequemlichkeit neigend und ziemlich gedankenlos. Ein durchaus unkomplizierter, bequemer Charakter. Das Bild, welches von ihr über ihres Mannes Schreibtisch hing, zeigte sie als eine anmutige Brünette von lebhaften Farben mit einem freundlich lächelnden Puppenkopfe. Sie hatte ihren Gatten sehr bewundert und wirklich geliebt. Urteilslos wie sie war, sah sie nur Vorzüge an ihm. Ihre Ehe war glücklich gewesen, denn es lag nicht in Reimers' Natur, sich Frauen, gegenüber anders als freundlich und liebenswürdig zu zeigen.

Sie starb zur rechten Zeit für ihr Glück, als die Kinder in das Alter kamen, wo die Gefahr nahe lag, daß sie der Mutter über den Kopf wachsen würden. Auch nahm sie die Illusion ungetrübt ins Grab: ihr Mann sei ein Mustergatte, der ihr jederzeit die Treue gewahrt habe.

Der Witwer heiratete nicht wieder, was die meisten eigentlich von ihm erwartet hatten. Vielmehr nahm er eine entfernte Verwandte seiner Frau, Witwe Hölzl, ins Haus, halb als Wirtschafterin, halb als Anstandsdame.

Reimers hatte als Geschäftsmann im allgemeinen glücklich operiert. Der wirtschaftliche Aufschwung der letzten Jahrzehnte war von ihm geschickt ausgenutzt worden. Der Geschäftskreis seines Hauses hatte sich so stark ausgedehnt, daß er allein die Arbeit nicht mehr zu bewältigen vermochte. Auch hatten es ihm ein paar empfindliche Verluste nahegelegt, die er, allzu Kühnes wagend, erlitten, sich nach jemandem umzusehen, mit dem er Risiko und Verantwortung teilen möchte. Nach einigem Suchen fand er in einem Bamberger Kaufmann die geeignete Persönlichkeit. Knorrig brachte nicht allzuviel Geld mit in das Unternehmen, aber was wichtiger war, praktische Erfahrung, Nüchternheit und tadellose Zuverlässigkeit.

Mit genialem Blicke hatte Reimers erkannt, daß dieser Mann ihn ergänzen werde wie kein zweiter. Was dem einen abging, das besaß der andere. Sie teilten sich den Geschäftskreis nach ihrer entgegengesetzten Veranlagung und ihrem verschiedenen Geschmack in zwei voneinander unabhängige Gebiete. Knorrig übernahm Rechnungswesen, Buchführung, Kontor, Reimers behielt die Vertretung der Firma, die Reisen, das Auswärtige, die Finanzoperationen. Reimers und Knorrig arbeiteten wie zwei Räder eines Apparates, die füreinander zugeschnitten sind. Wenn es hie und da doch Reibungen gab im Organismus, so kamen diese von außen, hingen mit dem Markt, der Konjunktur, der Weltpolitik zusammen, mit deren Auf und Ab jeder Kaufmann schließlich zu rechnen hat.

Es fügte sich ausgezeichnet, daß Reimers' Ältester, Kurt, und Bruno Knorrig im gleichen Alter standen. Gleichzeitig wurde ihnen die Prokura erteilt. Man schickte Kurt Reimers nach Venezuela zur Wahrnehmung der dortigen Interessen des Hauses, während Bruno Knorrig daheim im Kontor Verwendung fand. Es war also Aussicht vorhanden, daß »Reimers und Knorrig« auch in der nächsten Generation in Kompagnie bleiben würden.

Den Nachtischkaffee nahm man im Zimmer des Hausherrn ein. Dort warteten auf der Schreibtischplatte eine größere Anzahl Briefe der Öffnung. Reimers nahm einen heraus, der die Handschrift seines Ältesten zeigte.

Kurt war anerkanntermaßen sein Lieblingssohn, vielleicht weil er ihm in vielen Stücken ähnelte.

Während er den Mokka schlürfte und die ersten Züge aus der eben angezündeten Importe tat, liebäugelte Reimers senior beständig mit dem Briefe, der vor ihm lag. Jutta mußte ihm das Papiermesser vom Schreibtisch holen und durfte den Umschlag aufschneiden, was sie, da der Brief von Kurt kam, als eine Auszeichnung empfand.

Aber während des Lesens verfinsterte sich Reimers' Angesicht. Er tat hastig ein paar Züge aus der Zigarre, stand auf und machte sich Luft in der Westengegend.

»Was gibt's denn aus Venezuela?« fragte Knorrig, der seinen Kompagnon beobachtet hatte.

Reimers antwortete nicht.

»Ist etwa wieder mal Revolution ausgebrochen da drüben?«

»Ach was! Darum handelt sich's bei Gott nicht!«

»Sondern –?«

»Der Junge ist krank geworden.«

»Gefährlich?«

Reimers warf einen unsicheren Blick auf die jungen Leute. Dann sagte er: »Kinder, ihr könnt gehen, wir haben geschäftlich zu sprechen. Und auch Sie, Bruno!« Damit wandte er sich an den jungen Knorrig. »Gehen Sie nur einstweilen mit hinter!«

»Vater, ist Kurt sehr krank?« fragte Jutta mit großen Augen.

»Nein, mein gutes Kind! Da würde er mir doch nicht einen so langen Brief schreiben können. Das Klima scheint ihm nicht zu bekommen. Ich muß dies erst zu Ende lesen. Geht nur jetzt!«

Jutta entfernte sich gehorsam, nachdem sie sich vorher noch vom Vater den Gutenachtkuß geholt. Die beiden Jünglinge folgten ihr.

»Nun, was ist es?« fragte Knorrig, als er sich mit seinem Kompagnon allein sah.

Reimers gab ihm den Brief, und ging, schwer atmend, im Zimmer auf und ab.

Knorrig las und pfiff mit einem Male leise vor sich hin.

»Ich habe den Jungen so gewarnt!« sagte der Vater. »Denn ich kenne diese Mischlingsweiber. In den Häfen dort drängt sich alles zusammen: Neger, Indianer, Quadronen, Mestizen. Das spanische Blut und das Klima dazu! Wie die Giftblumen sind sie, schön und gefährlich. Ich habe Kurt Weisheit gepredigt, mündlich und schriftlich. Nun hat er sich doch nicht genügend in acht genommen!«

»Pech!« sagte Knorrig bloß und gab Reimers den Brief zurück. Er sah sich seinen Kompagnon einen Augenblick spöttisch von der Seite an, als wolle er sagen: Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme! –

Dann nahm er wieder seine gewohnte, gleichgültig trockene Miene an, und sagte: »Da werden wir wohl einen anderen Mann zur Ablösung vorschicken müssen.«

*

Sobald die jungen Leute die Tür hinter sich geschlossen hatten, welche sie von den beiden Vätern trennte, ging eine wilde Jagd los den langen Korridor hinab. Juttas Zimmer lag am anderen Ende. Das Mädchen wußte, daß sie Rettung vor den Jungens nur finden könne, wenn sie sich dort einschloß. Gelang ihr das nicht, dann gab es womöglich eine Katzbalgerei wie neulich abend, die ihrem Kleide und ihrer Frisur sehr schlecht bekommen war. Wenn sich Eberhard als Bruder Vertraulichkeiten herausnahm, so mochte das hingehen, aber von Bruno Knorrig waren ihr solche ganz widerwärtig.

Die jungen Männer stürzten nach, sowie sie Jutta entfliehen sahen, aber das Mädchen war schneller als sie, die Tür fiel ihnen vor der Nase zu und der Riegel wurde von innen vorgeschoben. Mit einem ärgerlichen Fußtritte gegen die Tür entfernte sich Eberhard, den Arm des Freundes nehmend. »Komm, laß das dumme Geschöpf! Ich bestelle Bier auf meine Stube.«

Bald darauf saßen die beiden im Laboratorium, die weit vorgestreckten Füße auf Stühlen, und rauchten Zigarren. Der Tisch, auf welchem die physikalischen Instrumente standen, hatte eine Ecke hergeben müssen für die Maßkrüge.

Der junge Kaufmann und der Primaner waren ein vertrautes Freundespaar. Obgleich Bruno Knorrig um vier Jahre älter war als Eberhard Reimers, hielt er es nicht unter seiner Würde, mit dem frühgeweckten Jüngling umzugehen, für den er eine gewisse Bewunderung hegte. Es zog diesen von Natur trockenen und nüchternen Menschen zu der Familie Reimers hin. Er bewunderte und liebte sie alle: den Vater wie die Kinder. Er fühlte, daß dieser Rasse das gegeben war, was ihm völlig abging: die Anmut.

Eberhards Selbstbewußtsein wurde durch den Umgang mit einem Erwachsenen ungewöhnlich gesteigert. Er blickte auf seine Klassenkameraden verächtlich herab, als auf dumme Jungen, die zu grün waren für ihn. Und weil er mit Bruno über vieles sprach, was gewöhnlich nicht in den Gesichtskreis eines Schülers kommt, gewöhnte er sich ein altkluges Kritisieren und Aburteilen an. Andererseits wurde er durch den durchaus soliden Bruno von mancher Torheit abgehalten, der junge Leute leicht verfallen; vor allem wenn sie, wie er, jederzeit Geld in der Tasche und einen nachsichtigen Vater haben. Trotz seines etwas großsprecherischen Wesens war Eberhard Reimers im Grunde doch ein großes Kind geblieben. Seine Unschuld war unverletzt.

Zwischen den beiden wurden heut abend wieder mal die schwierigsten Fragen und Probleme, an denen sich die besten Köpfe umsonst abmühen, spielend gelöst, mit jener glücklich naiven Selbstsicherheit der Jugend, welche niemals zaudert, über alle Verhältnisse und Menschen in absentia zu Gericht zu sitzen. Beide waren sie ihrer Ansicht nach politisch »radikal«, Anhänger der »Evolutionstheorie«, philosophisch dem »Monismus« zugeneigt und religiös »vorurteilsfrei«.

Die Knorrigs waren Protestanten, die Familie Reimers dagegen war konfessionell gemischt. Reimers, von Haus aus evangelisch, hatte seiner aus streng römischer Familie stammenden Frau zuliebe eingewilligt, daß die Töchter katholisch getauft und auferzogen werden dürften: die Söhne sollten, wie er, evangelisch bleiben. So wurde Jutta denn im Glauben ihrer Mutter unterrichtet, während Kurt und Eberhard evangelischen Unterricht genossen.

Eberhard aber hatte sich angewöhnt, den Unterschied der Konfessionen, wie alles, was mit Religion zusammenhing, als »Salat« zu bezeichnen.

Während die Freunde darüber waren, einen Maßkrug nach dem anderen zu leeren und dabei mindestens ebenso viele Welträtsel zu lösen, saß Jutta in ihrem Zimmer mit einer Stickerei beschäftigt. Sie nähte mit bunten Fäden ein phantastisches Tier- und Pflanzenornament auf dunkles Tuch. Das Muster war ihre eigene freie Erfindung. Es sollte eine Decke daraus werden für Herrn von Weischach. Schon lange arbeitete sie daran. Das Geschenk sollte strengstes Geheimnis bleiben. Anfangs hatte ihr die Technik des Stickens, in der niemand sie unterrichtet hatte, einige Schwierigkeiten gemacht, aber nun näherte sich das große Werk, in dem sie das Taschengeld von Monaten niedergelegt hatte, seinem Ende. Es war ein ungewöhnliches Stück, farbenreich, fast bizarr in der Komposition, voll kühner Erfindungsgabe.

Sie lächelte während der Arbeit wiederholt in sich hinein; ein Lächeln, das sie andere niemals würde haben blicken lassen. Ein ahnungsvolles Frauenlächeln, wie es Mütter haben, die von dem Kinde träumen, das unter ihrem Herzen heranwächst. Solche Anwandlungen melden sich manchmal verfrüht: wie ja auch in der Natur der Sommer seine Vorboten weit in den Winter hinein vorausschickt.

Dabei war Jutta noch ganz Kind geblieben. Kindische Vorstellungen beherrschten ihr argloses Gemüt. Von dem Ernste des Lebens, von der Wahrheit, daß wir für uns und unser Tun verantwortlich sind, daß jeder Tag, jede Stunde einen Posten darstellt in der endlichen Gesamtsumme, war ihr noch nicht die entfernteste Ahnung aufgegangen. Wie die Pflanze lebte sie, die ihre Wurzeln dahin streckt, wo leichtes und fruchtbares Erdreich ist, und ihre Blätter dem schmeichelnden Lichte zuneigt.

Es gibt solche Kinder, die mit einem Teile ihres Wesens sich selbst gewissermaßen vorauseilen. Junge Menschen haben noch nicht die Harmonie ihrer Teile errungen. Es bleibt etwas Unausgeglichenes, bis der ganze Mensch die ihm mögliche Form erreicht hat.

So war's mit Jutta Reimers. In vielen Fächern war sie den Mitschülerinnen überlegen, in einigen zählte sie zu den Unbegabten. So war sie auf einmal die Beste im Französischen, seit man angefangen, ein Buch zu lesen, das sie fesselte: vorher hatte sie beliebt, die Lektionen überhaupt nicht zu lernen. Der Lehrer des Deutschen staunte über den originellen Stil ihrer Aufsätze, während die mangelhafte Orthographie und Interpunktion ihn verdrossen. Der Religionsunterricht war erst neuerdings etwas für sie geworden, seit ein Kaplan ihn erteilte, der die Kinder nicht wie sein Vorgänger mit Auswendiglernen von Legenden und Herplappern von Gebeten peinigte, sondern die jungen Seelen einzuführen trachtete in das Wesen der Religion und den Geist der Lehre. Die Mathematik dagegen blieb ihrem Verständnis verschlossen, weil es da nichts gab, was sie mit der Phantasie hätte ergreifen können.

Das Urteil der Lehrerschaft über Jutta Reimers fiel daher sehr widersprechend aus. Manche hielten sie für ein Kind, das überhaupt nicht zu erziehen sei, andere setzten große Hoffnungen auf sie.

Mit ähnlich gemischten Gefühlen blickten die Mitschülerinnen auf Jutta. Manchem Mädchen war sie ein Gegenstand des Neides. Ihre Erscheinung spielte dabei eine Rolle: man hielt sie für kokett, weil sie hübsch war und stets nett gekleidet ging. Sie brachte etwas von Haus aus mit, etwas Gewähltes, Besonderes, das sie unter ein paar Dutzend ihresgleichen unbedingt zur interessantesten machte. Einige bewunderten und liebten Jutta Reimers auch: aber die erlebten Kummer. Dieses Mädchen nahm Geständnisse und Liebeserklärungen der Freundinnen an wie etwas Selbstverständliches, aber sie selbst eröffnete sich niemals. Sie war so gar nicht sentimental, schwelgte nicht wie so manche ihrer Altersgenossinnen in Gefühlen. Niemand konnte sich entsinnen, Jutta Reimers weinen gesehen zu haben. Bei noch so rührenden Szenen im Leben oder in der Dichtung, bei Todesfällen, beim Abgang von Schülerinnen, ja selbst beim Abschied eines allgemein beliebten Lehrers waren von allen Augen ihre allein trocken geblieben.

Es galt daher für ausgemacht, daß sie »kein Gemüt« habe: sie war »hochmütig, hartherzig und egoistisch«. – Allerdings konnte man sich gelegentlich auch wieder dem Zauber ihres Wesens nicht entziehen. Jutta Reimers hatte anerkanntermaßen die besten Einfälle, konnte Geschichten sich ausdenken, daß alle gespannten Ohres lauschten, verstand das Zeichnen und Malen wie ein richtiger Kunstmaler. Es gab kaum eine Begabung, die ihr nicht eigen gewesen wäre.

Über keine Schülerin wurde von den anderen so viel gesprochen wie über Jutta Reimers, und keine machte sich so wenig aus dem Klatsch der Klasse wie sie. Man hegte allerhand Vermutungen; es hieß, Jutta habe ein »Erlebnis« gehabt. Auf dies und jenes wurde geraten, aber Genaues wußte niemand. Sie hatte keine einzige wirklich intime Busenfreundin, aus der man etwas hätte herauslocken können: das war das Schlimme, denn von selbst verriet dieses Mädchen nichts.

Heut abend waren Juttas Gedanken wieder mal, wo sie in der letzten Zeit meistens sich aufzuhalten pflegten, bei ihrem Freunde Weischach.

Jutta führte, seit sie mit diesem Manne bekannt geworden war, eine Art Doppelleben. Der eine nüchterne Teil spielte sich ab in der Schule und im Hause: da war sie ein kleines unbedeutendes Mädchen, mußte ihre Schulaufgaben machen wie jede andere, wurde ermahnt und getadelt von den Lehrern, und von ihrem Bruder angestellt zu allerhand langweiligen Diensten. Ein ganz anderes Dasein, schöner, wichtiger, bedeutungsvoller, spielte sich ab in dem Atelier des Kunstmalers. Dort war sie Königin. Dort wurde sie bewundert, angebetet, kurz, behandelt wie es ihr zukam.

Sie wußte, daß sie für Weischach Großes bedeute, daß er tun würde, was immer sie von ihm verlangen mochte, daß sie Macht über ihn besitze. Macht über einen Menschen, einen Mann! – Wie stolz, das zu denken!

Oftmals weidete sie sich im geheimen an dem Gedanken. Ihre Phantasie schmückte sich die Freundschaft mit ihm wunderlich aus. Manches seiner Worte träumte sie weiter. Er hatte sie seinen »Genius« genannt, seinen »Engel«, seine »Fee«. In solcher Verkleidung sah sie sich selbst nur zu gern.

Als »Inspiration« hatte er sie im Bilde verewigt. Sie würde berühmt werden durch ihn! Er war ein großer Künstler: denn auch ihn vergrößerte sie, schuf ihn um in ihren Träumen zu einer Idealfigur.

Die Entdeckung, daß er ein Selbstporträt malen wolle, war für sie von höchstem Interesse. Mit langem Bart, im wallenden Mantel, eine Harfe in der Hand! Und sie sollte auch auf das Bild kommen. –

Sie sah das Kleid vor sich, das er ihr bestellen wollte, es war licht und mit Steinen über und über besät. Im Haar würde sie einen Schleier tragen, von einem Diadem festgehalten. So wie sie es an der schönen Schauspielerin gesehen, die im Weihnachtsmärchen die gute Fee dargestellt hatte. Vielleicht war es auch dem Kostüm ähnlich, welches Cousine Vally getragen zur letzten Redoute.

Und während ihre Nadel flink Faden um Faden einstach zu dem bunten Muster, welches sie selbst erdacht hatte, malte sie im Geiste ein noch viel herrlicheres Gemälde: sich selbst, bewundert und angestaunt von aller Welt als das schönste, daß außerordentlichste Wesen, das es gab.

 


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