Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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V

Ein Jahr war vergangen. Eberhard hatte seine Maturitätsprüfung bestanden, auch schon ein Semester in Würzburg studiert. Jetzt war er in München als stud. med. immatrikuliert, gleichzeitig genügte er seinen militärischen Pflichten.

Der junge Mann wohnte jedoch nicht, wie früher, im väterlichen Hause, sondern in einem Junggesellenquartier neben der Kaserne. Herr Reimers hatte das selbst so angeordnet: junge Leute wollten »austoben«, und es war besser, wenn sie das nicht unter den Augen der Angehörigen taten, besonders wenn ein junges Mädchen in der Familie war, das eben flügge wurde.

Jutta war gefirmt worden, blieb aber auf Wunsch des Vaters noch in der Schule: es war so eine schwierige Periode, man wußte mit einem Mädchen dieses Alters wirklich nicht recht, wohin! In Gesellschaft konnte man sie doch unmöglich schon nehmen, und sie daheim unbeschäftigt sitzenlassen, schien auch nicht geraten. In der Schule war sie immer noch am besten aufgehoben, obgleich sie ihrer entwickelten Gestalt nach dorthin eigentlich nicht mehr recht gehörte. Die Menschen wunderten sich, wie Jutta sich in der letzten Zeit verändert hatte. Nichts mehr von der früheren unberechenbaren Ausgelassenheit, den Exzentrizitäten und tollen Streichen, mit denen sie die Mitschülerinnen belustigt, die Erzieher entsetzt hatte. Sie war bescheidener, gesetzter, sanfter geworden. Ein gewisser Ernst schien mit einem Male über sie gekommen, man wußte nicht, woher.

Ihr Religionslehrer, der sie stets in Schutz genommen hatte gegen die, welche Jutta Reimers für »einfach nicht zu erziehen« erklärten, sah darin eine Wirkung des Chrismas. Die Weihen des Geistes hatten sie ergriffen durch die Salbung mit dem heiligen Öl. Sie war nun errettet von der Weltlichkeit. Die Oberflächlichkeit und Gedankenlosigkeit, der sie ergeben gewesen, war von ihr genommen.

Der geistliche Herr erlebte das nicht zum ersten Male. Er war Menschenbeobachter und, obgleich im strengsten Zölibat erwachsen, doch ein feiner Kenner der Frauen. Er wußte, was es zu bedeuten hatte, wenn wilde Mädchen, die sich vom Knaben bisher nur durch ihre Kleidung unterschieden, plötzlich nachdenklich wurden, in sich gekehrt und schamhaft. Er verstand die Ursache des Augenniederschlagens, das an Stelle des freien, kecken Blickes getreten, das Wildere, Geweihte, Ahnungsvolle des ganzen Wesens, die Zurückhaltung in Worten und Gebärden. – Die Firmung war von der Kirche nicht umsonst an die bedeutsame Schwelle der eintretenden Reife gesetzt worden. Die Kirche will Herrin sein der Seelen, aber sie weiß, daß die Seele nur die Blüte ist des Leibes. Symbolisch weiht sie jeden wichtigen Vorgang im Leiblichen, um sich damit des Seelischen um so eher zu vergewissern.

Wer da glaubte, es in Jutta Reimers mit einem Kinde zu tun zu haben, weil sie noch immer zur Schule ging, halblange Kleider und Zöpfe trug, der irrte sich. Es war ein junges Weib, das da so sittsam einherschritt.

Auch ihre Beschäftigungen außerhalb der Schule hatten veränderte Gestalt angenommen. Sie las neuerdings viel, vor allem Bücher, die ihr von dem verehrten Religionslehrer empfohlen wurden. Der Kaplan erteilte in den oberen Klassen auch den Unterricht in Literatur. Er war klug genug, seinen Schülerinnen nicht durchweg religiöse Lektüre ans Herz zu legen. Denn, wie er wohl wußte, wird solche Speise, wenn ohne Zukost genossen, leicht zum Überdruß. Auch weltliche Autoren, wenn sie nicht geradezu kirchenfeindlich waren, ließ er gelten. Ja, sie mußten ihm dienen, Glauben und Liebe in den jungen Herzen anzuregen. Der Geistliche wußte, daß seine Fäden sich hinüberspinnen von der Frömmigkeit zur Kunst, daß die Religion der sinnlichen Anschauung bedarf, und daß sie in der Phantasie einen wichtigen Verbündeten findet. Hinwiederum lehrte ihn seine Erfahrung, daß das Gemüt der Frauen dem Romantischen zugeneigt ist, daß sie begeisterungsfähig und schönheitsbedürftig sind. Von seiner Kirche angelernt, alles zu benutzen, was zur Stärkung ihrer Autorität dienen kann, versäumte er nicht, die ihm anvertrauten jungen Seelen auf alles hinzuweisen, wovon er eine Förderung des religiösen Sinnes erwarten durfte. Da er bei Jutta Reimers, seiner Lieblingsschülerin, viel Phantasie, Feinsinn und geistige Regsamkeit fand, so ließ er es sich angelegen sein, ihr die Lektüre zu empfehlen, welche er einem so gearteten Wesen für die förderlichste hielt.

Neben dem Lesen beschäftigte sich Jutta jetzt viel mit Malen. Der Zeichenunterricht, den sie in der Schule genoß, war pedantisch und nur für mäßig begabte Schülerinnen berechnet. Der Lehrer, dem Juttas Begabung längst über den Kopf gewachsen war, ließ sie machen, was sie wollte.

Ihr künstlerisches Wollen ging vorläufig noch weit über ihr Können hinaus. Ohne jemals Aktstudien getrieben zu haben, entwarf sie figurenreiche Bilder, malte Landschaften, ohne von Perspektive und Lichtverteilung etwas Sicheres zu wissen. Sogar im Ölmalen versuchte sie sich, obgleich ihr die Öltechnik fremd war.

In ihrem Zimmer stand eine Staffelei aufgerichtet, dort konnte man jede Woche einen neuen Entwurf sehen. Wunderliche Gebilde erblickten da das Licht der Welt: romantische Rittergestalten, bleiche, schmerzvolle Madonnen, Engel mit ätherischen Leibern, Reminiszenzen aus der Biblischen Geschichte, der Legende, der Mythologie, der Volkssage, daneben phantastische Versuche, die Prosa des Alltags wiederzugeben. Karikaturen, Selbstporträts, Illustrationen zu Büchern, die sie eben gelesen. Ein Durcheinander von Eindrücken und Ideen, gegeben von einem in der Entwicklung begriffenen Wesen, dessen gärende Gedanken noch nicht zur Kristallisation gekommen, dessen überschwengliche Gefühle noch keinen Angelpunkt gefunden hatten.

Die einzige Zuschauerin, welche Jutta bei Ausübung ihrer Kunst im Zimmer duldete, war Mucki. Die Katze saß träge blinzelnd mit krummem Rücken auf einem Hocker und sah zu, ganz wie sie es ehemals im Atelier des Oberstleutnants getan hatte.

Schließlich war Mucki doch nicht das einzige, was von dem Verstorbenen auf Jutta gekommen war. Sie wurde von der Erinnerung an ihn beeinflußt, ohne es selbst zu wissen. Er malte unsichtbar an ihren Bildern mit. Denn es war nicht ohne Eindruck auf ihr junges Gemüt geblieben, einen Menschen so ernst und redlich um die Kunst ringen zu sehen, wie dieser Freund es getan. Ihre Augen hatten damals gesammelt, sie hatte sich mit Begeisterung, mit Liebe zu Farbe und Form, mit manchen wichtigen Kenntnissen erfüllt, die ihr jetzt zustatten kamen. Ein Keim war in sie gesenkt worden, der im stillen weiter wuchs und einmal zur Frucht weiden konnte.

Ihre Malerei war ihr nicht bloß eine vorübergehende Liebhaberei, wie sie junge Menschen leicht mal verfolgen: ein paar Wochen lang geht man ihr nach, dann, wenn man auf Schwierigkeiten stößt, verliert man die Lust daran, geht anderen Passionen nach. Jutta hatte ein Ideal: Künstlerin werden, eine wirklich große Künstlerin wollte sie werden.

Sie hob sich in ihrem ganzen Wesen ab von den Mädchen ihres Alters, hegte andere Gedanken und Wünsche als diese kleinen oberflächlichen Dinger. Ihr Ideal, verschwommen und überspannt, wie es noch war, gab ihr doch Selbstbewußtsein, machte sie stolz. Sie fühlte, daß sie etwas vor den Freundinnen voraus habe, daß sie etwas Besonderes besitze.

Herr Reimers schrieb alle diese Wandlungen im Wesen seines Töchterchens, die ihm nicht entgehen konnten, dem günstigen Einflusse zu, den Vally Habelmayer auf Jutta hatte. Er fand, daß er in Vally ganz die richtige Person ins Haus genommen habe. Sie war eines von den Gesichtern, das man gern um sich sah. Immer vergnügt, gesund, eine mollige Erscheinung, von bequemer Weltanschauung, verständnisvoll für ein gutes Mittagessen und, was Reimers besonders schätzte, immer bereit, auf einen Spaß, ja selbst auf einen gewagten, einzugehen.

Reimers hatte nämlich die Neigung, Anekdoten zu erzählen, welche die Grenze des Erlaubten streiften. Er sammelte sie aus Witzblättern, im Herrenklub, oder er erfand sie auch selbst. Die lagen ihm dann den ganzen Tag auf der Zunge; an irgendwen mußte er sie loswerden. Sein Kompagnon Knorrig war kein Abnehmer für dergleichen, und seinen eigenen Kindern konnte er sie doch auch nicht zum besten geben. Da kam ihm Vally gerade recht. Er stand zu ihr im vertraulichen Verhältnis des angeheirateten Onkels. Vally war schließlich auch kein ganz junges Mädchen mehr, hatte ihre Erfahrungen hinter sich. Mit ihr konnte man sich ein offenes Wort erlauben und war sicher, auf Verständnis zu stoßen.

Das hinderte nicht, daß er von Vally zu anderen Zeiten gesetztes Wohlverhalten verlangte. Juttas unschuldiges Ohr sollte niemals einer jener Scherze entweihen, wie sie am Biertische, in der Weinstube oder im cabinet particulier im Schwange sind. Er wußte, was er seiner väterlichen Autorität schuldig sei. Vally aber, die zu ihren anderen angenehmen Eigenschaften auch noch die großer Anpassungsfähigkeit besaß, verstand seine erzieherischen Absichten vollkommen. Sie fand ihrer jungen Cousine gegenüber den richtigen Ton, war harmlos mit der Harmlosen, sparte sich das Bedürfnis nach pikanter Unterhaltung für die Stunden auf, wo sie mit ihrem jovialen Onkel allein war.

*

Eberhard kam dafür, daß er mit den Seinen in derselben Stadt lebte, selten in das väterliche Haus. Schnell hatte er sich in die Gewohnheiten des selbständigen Junggesellen eingelebt. Er trat jetzt in das Alter, wo sich ein junger Mann um die Frauen zu kümmern anfängt. Eigentlich glaubte er noch immer, das Weib zu verachten, aber im Grunde war das nur Unsicherheit jenen fremden Wesen gegenüber, die ihm unheimlich waren und höchst anziehend zugleich.

Wunderliches Alter voll unversöhnlicher Gegensätze, die miteinander um die Herrschaft ringen und doch nebeneinander auskommen müssen. Was gärt und brodelt da alles im Gemüt! Solch ein Jüngling ist stolz und demütig zugleich, selbstbewußt bis zur Anmaßung, verlegen und menschenscheu bis zur Ängstlichkeit. Er ist trotzig, mißtrauisch und borstig, nach außen und im Inneren voll Sentimentalität, anlehnungsbedürftig, nach Liebe durstend, jederzeit bereit, sein Herz zu verschenken, am liebsten an eine Königin; steht ihm diese nicht zur Verfügung, an die erste beste Zofe.

Und dieses Protzen mit Kraft, mit der eben erst erworbenen äußerlichen Unabhängigkeit, mit einer Erfahrung, die noch nicht erworben ist! Die Unsicherheit, die Unruhe, die Sehnsucht! Seine Gefühle wird er nie und nimmer eingestehen! Eher wird er sich rauh, grob und zynisch zeigen, mit Gleichgültigkeit und Kälte prunken. Denn das ist männliche Schamhaftigkeit: sich nicht ertappen lassen wollen in der Tiefe der Gefühle. Wie sich das Weib nicht in seiner Blöße, so will sich der Mann nicht zeigen in seiner Seele. Jeder von uns, mag er noch so verschlossen erscheinen, trägt schließlich unter dem Panzer von Kälte und Gleichgültigkeit, mit dem wir uns von früh an aus Furcht vor der Lächerlichkeit zu umgeben belieben, geheime Sehnsucht, den Wunsch, sich hinzugeben; vielleicht als ein Erbteil der Mutter, vielleicht als einen letzten Rest vom Kinde, das er einstmals gewesen. Und Befreiung und Erlösung von dieser Bedrängnis, diesem Widerspruch kann ihm nur das Weib bringen.

Wie die meisten jungen Leute ohne Erfahrung, machte sich Eberhard ein ganz falsches, übertriebenes Bild von der Frau. Sonst ein ziemlich nüchterner Kopf, vermochte er über dieses Thema nicht ruhig nachzudenken. Die Ekstase der Gefühle, die starken Triebe seiner Natur verwirrten ihm den Verstand. Es schwebte seiner verzückten Phantasie ein bestimmtes Bild vor: von Jugend, Schönheit und Feuer, ein Extrakt gewissermaßen aller weiblichen Reize. Diesem Ideale jagte er im Schlafen und Wachen nach. In seiner nächsten Umgebung suchte er es vergeblich. Seine Schwester, obgleich sie nun auch die Schule verlassen hatte, lange Kleider trug und so gewissermaßen zu den Damen gehörte, war doch eben nur seine Schwester, ein neutrales Wesen, nicht das, was er suchte, was er brauchte. Und Vally, die ja ganz amüsant und fesch war, entsprach auch nicht seinem Ideal. Sie war ihm zu derb, zu materiell.

Wie er sich das Wesen eigentlich denke, das ihn befriedigen sollte, hätte er mit Worten nicht sagen können; es traf ihn nur manchmal blitzartig, im Traume, auf der Straße, im Theater, irgendwo, wie eine Ahnung: die ist es, so müßte sie beschaffen sein, die würde dich beglücken.

Inzwischen wuchs seine Unruhe, sein Verlangen zur unerhörten Pein. Seine Sinne lagen beständig auf der Lauer. Eine Stimme war in ihm, die alle andern Wünsche mit eherner Kraft übertönte: der Ruf nach einer Genossin.

Unwillkürlich hatten sich seine Sitten und Angewohnheiten geändert. Das Biertrinken, dem seine Kameraden in ihren dienstfreien Stunden oblagen, verstand auch er, aber es galt ihm nicht, wie diesen, als eine Art religiöser Übung, der man Leib, Seele und Verstand besinnungslos hingibt. Er ging ins Theater, in Konzerte; ja unglaublich, er wurde ohne vernünftigen Anlaß in Museen angetroffen.

Er war ohne Freund augenblicklich. Bruno Knorrig befand sich schon seit einem halben Jahre in Venezuela, wo er Kurt, Eberhards Bruder, abgelöst hatte. Kurt hielt sich in einem französischen Badeort auf und sollte, erst wenn er ganz hergestellt sein würde, nach Haus kommen.

*

Eberhard besuchte im Winter öfters das Schauspielhaus. Ein starker Magnet zog ihn dorthin: eine junge Schauspielerin, die er in der Rolle der Thekla im Wallenstein zuerst gesehen hatte.

Ohne je ein Wort mit diesem Wesen gesprochen, ohne sie anders als jenseits der Lampen gesehen zu haben, hatte er sich in sie verliebt. Sie war für ihn das: »Weib der Weiber«.

Er ging in jedes Stück, in welchem sie auftrat. Wie gebannt hing dann sein Blick an der zierlich schlanken Person mit dem nervösen Mienenspiel, die einen Abend als »Hannele« auftrat und den nächsten Ibsens »Hedwig« in der Wildente darstellen mußte. Er hatte auch schon einen schwärmerischen Brief an sie gerichtet, der bisher leider unbeantwortet geblieben war.

Es fand die Premiere einer beliebten Berliner Schwankfirma statt. Auch Eberhards Angebetete hatte zu spielen. Er versäumte es jedoch, sich rechtzeitig einen Platz zu sichern und mußte, da das ganze Parkett ausverkauft war, mit dem Hinterplatz einer Seitenloge vorliebnehmen.

Vor ihm saß eine Dame in schwarzem Kleide mit Halsausschnitt; lange wildlederne Handschuhe reichten bis an die Ellenbogen. Ihr blondes Haar war nach neuester Art frisiert, fiel in breiten Wellen über das halbe Ohr und vereinigte sich im Genick in einem Nest von Zöpfen, die durch einen Schildkrotkamm von heller Farbe gekrönt wurden.

Eberhard konnte ihre Züge nicht sehen, weil sie in den Zuschauerraum blickte, bald mit dem Opernglas die Logen gegenüber musternd, bald Bekannten zunickend, die sie aus dem Parterre begrüßten. Daß sie nicht häßlich sein könne, dafür sprachen die vielen auf sie gerichteten Gläser der Männerwelt. Ein feines, die Sinne betäubendes Parfüm, das Eberhard sofort aufgefallen war, als er die Loge betrat, ging von ihr aus.

Der Platz neben ihr blieb zunächst frei. Während des ersten Aktes jedoch wurde die Logentür geöffnet und ein kahlköpfiger Herr im Frack mit weißer Weste und Binde trat ein. In diesem Augenblicke wandte sich die Dame um. Eberhard sah ein paar volle lächelnde Lippen, ein feines Näschen und ein Paar leuchtende Augen unter schwarzen Wimpern. Das Ganze erschien ihm als das lieblichste Angesicht, das er jemals erblickt hatte. Der Herr überreichte der Blondine ein paar Rosen und setzte sich auf den Platz neben sie.

Von diesem Augenblick an ließ das, was auf der Bühne vorging, Eberhard völlig gleichgültig; selbst als die Schauspielerin auftrat, um derentwillen er ins Theater gegangen war, empfand er kein stärkeres Interesse. Er wunderte sich auf einmal, daß er für diese Person eine Neigung habe fassen können, und schämte sich des Briefes, den er an sie gerichtet.

Sowie der Vorhang fiel, erhob sich der Herr mit der Glatze. Er erklärte, nicht länger bleiben zu können, da er noch in Gesellschaft müsse. Dabei nannte er den Namen eines der vornehmsten Häuser. Sie lächelte ihm zu: Schmerz über sein Gehen schien sie nicht gerade zu empfinden.

Ihr Blick hatte Eberhard gestreift, ehe sie sich wieder umgewandt. Ein Strom, warm und belebend, war ihm durch und durch gegangen. Die Nähe dieser Person wirkte auf ihn wie körperliche Berührung: jede Biegung ihres schlanken Halses, jede Bewegung des Armes, der Hand fühlte er gleichsam mit. Ein qualvoller Zustand, aus dem er sich am liebsten durch schleunige Flucht gerettet hätte. Aber er blieb, starrte wie verzaubert aus seinem Hinterhalte auf das blonde Haar, die gewölbten Schultern, den zarten, vom Genickhaar beschatteten Hals da vor ihm.

Jetzt wandte sie sich zur Seite, blickte hinab, hob den Stuhl ein wenig, suchte. Eberhard begriff: ihr Kavalier hatte den Theaterzettel mit fortgenommen. Heiß errötend wagte er es, ihr den seinen anzubieten.

Sie blickte ihn an, kniff die Augen unmerklich ein und lächelte. Den Zettel nahm sie mit einer – wie ihm schien – unendlich graziösen Handbewegung entgegen.

Nachträglich kam ihm ungeheuer kühn vor, was er getan hatte. Er zitterte vor Verlangen, die einmal so glücklich hergestellte Verbindung weiter auszunützen. Übrigens nahm sie selbst die Unterhaltung auf, als sie ihm seinen Zettel zurückgab mit der Bemerkung: sie wolle ihn nicht berauben.

»Oh!« rief er. »ich kenne die Schauspieler alle auswendig.« Damit war ein Gespräch im Gange. Er sprach schnell und aufgeregt, mit dem Bestreben, unbefangen zu erscheinen und möglichsten Eindruck hervorzubringen.

Darauf kam der zweite Akt und nach ihm die große Pause. Sie ging nicht hinaus, was er gefürchtet hatte.

»Die Leit' passen einem so auf im Foyer. I mag das nit!« meinte sie. Dann zog sie eine kleine Dose aus der Tasche, von Silber mit eingraviertem Monogramm. Schokolade war darin. Sie nahm und bot ihm an. »Gelt, wollen 's Ihnen net bedienen?« Er tat es. nahm schüchtern eine Praliné. Noch konnte er das Glück gar nicht fassen, das ihm widerfuhr: hier sitzen und mit ihr verkehren dürfen! Daß sie Dialekt sprach, erstaunte ihn im Anfang ein wenig; von niederer Herkunft konnte sie doch unmöglich sein. Dann entsann er sich, gehört zu haben: es sei neuerdings Mode, bis in die höchsten Kreise hinauf, an der angestammten Mundart festzuhalten.

Daß sie eine Dame sei, verriet ihm ihre Toilette, und ihre Bildung erkannte er aus der Art, wie sie das Stück, das Spiel, das ganze Theater überhaupt kritisierte. Sie hatte alle Novitäten der Saison gesehen und urteilte über ihren Wert und Unwert, daß Eberhard sich sagte: er müsse sich zusammennehmen, wenn er sich hier nicht blamieren wolle.

»Gnädige Frau gehen viel ins Theater?« fragte er.

»Jeden Abend, wenn i Zeit hätt'! I hab' selbst die größte Lust gehabt, aufzutreten, aber i hab's bleiben lassen; wissen's, die Schauspieler sind unter sich zu famüliär. Und das paßt mir net! Da bin ich mir zu gut! Aber ins Theater geh' i alleweil gern. Gelt, Sie auch?«

Sie lachte ihn vertraulich an, mit einem Blick, der ihm das Blut zu den Schläfen trieb.

»Studieren's vielleicht? Denn Sie sind doch a Freiwilliger!« sagte sie mit einem Blick auf seine Uniform. Er erklärte ihr, daß er Mediziner sei.

»So so, Mediziner! Die Ärzte sein oft so unmanierliche Leit! Ich habe se nimmer leiden können. Aber Se sein ganz anders!«

Eberhard fühlte sich nicht wenig geschmeichelt. Ihre Worte gingen ihm ein wie ein angenehmer Trank. Er fing an, voll Selbstgefühl von sich zu erzählen, nannte seinen Namen, in der stillen Hoffnung, daß sie ihrerseits sagen würde, wer sie eigentlich sei.

»Ein Sohn von Herrn Reimers sein Se! Sehen 's mal an! Vom reichen Herrn Reimers!« – Sie maß ihn mit einem besonderen Blicke, es schien fast, als habe er in ihren Augen an Bedeutung gewonnen.

»Kennen Sie denn meinen Vater, gnädige Frau?«

»Das net grad! Aber eine Freundin von mir, die kennt en gut. Er soll ja sehr ein generöser Herr sein, der Reimers.«

Der Vorhang ging wieder auf. Von den zwei Akten, die nun noch folgten, sah und hörte Eberhard so gut wie nichts. Er konnte nichts anderes denken als sein unerhörtes Glück. Dieses herrliche Geschöpf hatte ihn für würdig befunden der Beachtung. Träumte er denn? Aber diese runden Schultern vor ihm waren Wirklichkeit. Vielleicht gefiel auch er ihr! Warum würde sie ihn sonst so bedeutsam angelächelt, so freundlich zu ihm gesprochen haben! Es konnte einem schwindeln bei dem Gedanken.

Schon war er eifersüchtig ihretwegen. Als in der Zwischenpause ein junger Mann aus dem Parterre an die Logenbrüstung herantrat und ihr die Hand reichte, vertraulich ein paar Worte mit ihr wechselte, da fühlte er tödlichen Haß gegen den Menschen in sich aufsteigen.

Er zitterte vor dem Schluß der Vorstellung, denn damit mußte der Abschied von ihr kommen. Fest hatte er sich vorgenommen, sie wenigstens nach ihrem Namen zu fragen, auf die Gefahr hin, unverschämt gefunden zu werden.

Aber es kam günstiger, als er sich's hatte träumen lassen. Als der Vorhang endgültig fiel, bat sie ihn, er möge ihr die Sachen hereinholen, weil sie das Gedränge an der Garderobe fürchte. Eberhard drängte sich durch die Menge, eroberte ihre Sachen, bahnte sich, ohne auf die Flüche, die rings erschollen, zu achten, den Weg zurück in die Loge und half ihr dort in ihren mit Seide gefütterten Radmantel.

»Darf ich einen Wagen besorgen, gnädige Frau?« fragte er.

»Lassen's die Leit' erst a bisserl voneinand laufen, hernachen gehen wir. Se können mich begleiten, wenn 's sonst nix Besseres vorhaben. Aber ka Droschkerl! I wohn' net allzu weit.«

Ihm hüpfte das Herz.

»Unter militärischer Bedeckung geh' i heit nach Haus. Das hab' i mir halt auch nit träumen lassen vorige Nacht!« rief sie und nahm lachend seinen Arm.

»Ihr Herr Gemahl ist in Gesellschaft gegangen?« fragte er, und seine Stimme zitterte ein wenig.

»Mein Herr Gemahl! I bitt Sie, wer is denn dös?«

»Der Herr vorhin – –!«

»O du mei! Der mein Herr Gemahl! Nein, ich bin ledig. Und Se brauchen mich auch nimmer so großartig ›gnädige Frau‹ zu titulüren!«

Ihm fiel ein Stein vom Herzen.

Sie gingen eine Weile schweigend. Dann fing sie an, ungebeten zu erzählen: der Herr, den er da gesehen, wäre ein Freund von ihr, ein »Gönner«, dem sie zu großem Dank verpflichtet sei.

»Malen Sie vielleicht?« fragte Eberhard.

»Dös net! Aber i interessier mi sehr für de Kunst und versteh mehr davon als mancher von die Herren Kunstmaler.« Nun begann sie eifrig zu erzählen von den Bildern, Ausstellungen und Künstlern, die augenblicklich im Vordergrunde standen, mit Ausdrücken, die ihm bewiesen, daß sie eine Eingeweihte sei. Sie war ein außerordentliches Wesen! In seinen Augen wuchs sie von Minute zu Minute an Bedeutung.

Viel zu früh für ihn war man an ihrer Haustür angelangt. »Wenn 's wollen, können 's mi auch mal besuchen. I wohn über der dritten Stiege links.«

»Und nach welchem Namen darf ich fragen?«

»Fragen's halt nach Fanny Spänglein. Und schön Dank für die Begleitung. Behüt's Gott!«

Sie reichte ihm die Hand. Er verbeugte sich tief. Dann verschwand sie im dunklen Flur.

Eberhard ging wohl ein dutzendmal vor dem Hause auf und ab, ehe er sich entschließen konnte, von der Stätte zu scheiden. Er schlug den Weg ein nach dem Englischen Garten. Jetzt nach Haus gehen, war unmöglich! An Schlafen war in dieser Nacht nicht zu denken! Der Gedanke, ins Café oder ins Bierhaus sich zu begeben, erschien wie Profanation.

Er befand sich in nie gekannter beseligter Stimmung, wie berauscht. Das Herz zum Zerspringen voll. Glücklich, scheu und erwartungsvoll zugleich. So war ihm zumute gewesen als Kind, wenn er am Weihnachtsabend vor verschlossener Tür gewartet und durch die Spalte der erste Schimmer vom Lichterbaum sein geblendetes Auge traf.

War das Liebe? Er wußte es nicht: auf das Wort kam's wohl auch nicht an. Über sich selbst erhoben fühlte er sich. Großes hatte er erlebt. Größeres noch stand ihm bevor.

Er rief sich das Erlebnis der letzten Stunden ins Gedächtnis zurück. Ihre Gestalt stand ihm vor Augen, ihr Gesicht in der halbdunklen Loge, ihr leuchtendes Haar, der erste bedeutungsvolle Blick, der ihn gestreift. Den Duft glaubte er noch zu atmen, den sie um sich verbreitet. Er hörte den Tonfall ihrer Stimme, sah die weichen Bewegungen ihrer schmiegsamen Glieder. Das Weib mit allen seinen Reizen war leibhaftig bei ihm.

Überwältigend war der Gedanke, daß dieses süße Geschöpf jetzt vielleicht ebenso seiner gedenke, daß sie sich nach ihm sehne, vielleicht von ihrem Lager die Arme verlangend nach ihm ausstreckte.

Er schwankte, mußte sich auf eine Bank am Wege setzen. Die Glieder zitterten ihm wie im Fieber.

War das Krankheit? Oder war es der erste Ausbruch eines Gefühles, das wie ein Erdbeben über den jungfräulichen Menschen kommt, die Grundfesten seiner Natur erschütternd? –

 


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