Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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XIX

Juttas Weggang von München war eine Flucht gewesen. Flucht vor ihrem Vater und Vally, Flucht vor Luitpold Habelmayer, Flucht vor der Erinnerung an Bruno, Flucht schließlich vor sich selbst und ihren törichten Herzenswünschen. Als ihr Eberhard damals den Vorschlag machte, nach Berlin zu kommen, hatte sie das begrüßt, wie ein Mensch die Möglichkeit willkommen heißt, sich aus verzweifelter Lage zu befreien. Berlin! Das hatte für sie mehr bedeutet als eine neue Stadt; sie meinte, dort solle für sie ein neues Leben entstehen.

Sie dachte jetzt so wenig wie möglich nach München, spiegelte sich vor, daß es ihr gleichgültig sei, was dort vorgehe. Und sie bekam auch selten genug Nachrichten von der Heimat. Ihr Vater schrieb ja überhaupt nur Geschäftsbriefe. Vally schickte zu Weihnachten ein Geschenk mit beiliegendem Brief. Zwischen den Zeilen las Jutta den Wunsch: Bleibe nur ja recht lange weg! Du bist zuhause ganz gut entbehrlich! – An Lieschen Blümer hatte Jutta geschrieben, bis jetzt aber noch keine Antwort erhalten.

Mit der Zeit konnte es Jutta nicht verborgen bleiben, daß ihre Person den zweiten Weßleben nicht gleichgültig lasse. Martin war zwar nach Kräften bemüht, seine Gefühle im tiefsten Herzensschreine zu verbergen, nur fehlte ihm leider zu dieser Rolle alles Geschick. Und es gehört nicht viel dazu, um einem Mädchen zu verraten, daß ein Mann sie liebt.

Jutta fühlte sich von dieser Entdeckung aufs peinlichste berührt. Es war von jeher ihr Schicksal gewesen, die Begehrlichkeit des andern Geschlechtes herauszufordern. In Berlin, wo ihre Erscheinung fast noch mehr auffiel als in München, hatte sie, obgleich sie sich absichtlich einfach kleidete, bereits einige unangenehme Erlebnisse auf offener Straße gehabt. Und nun ein neuer Roman in Sicht! –

Zwar ihrer selbst war sie sicher; Martin würde ihr nicht gefährlich werden. Dieser lang aufgeschossene, bleiche, linkische Jüngling im Lutheranerrock war ihr im Grunde genommen lächerlich. Immerhin mußte man befürchten, daß er irgendwelche Dummheit begehe, welche ihre Stellung in der Weßlebenschen Familie gefährden mochte. Sie richtete ihr Benehmen so ein, daß der Diakonus darin nicht das geringste Entgegenkommen erblicken konnte.

Daß sie in ihrem Leben niemals inbrünstiger und dabei keuscher von einem Manne geliebt worden war als von Martin Weßleben, ahnte Jutta nicht.

Auf ganz anderem Gebiete bewegten sich jetzt Gedanken und Pläne des Mädchens. In Berlin hatte sie wieder arbeiten gelernt, und in ganz neuem Sinne empfand sie Freude an ihrer Kunst. Etwas in ihr rang nach Leben, wollte gestaltet sein. Sie sah es in unklaren Umrissen nur. Es war zunächst mehr eine Stimmung, eine Erinnerung, ein Schmerz, von dem sie sich befreien wollte. Beständig änderte es seine Physiognomie. Sie floh davor, stürzte sich in andere, unbedeutende Arbeit, nur um ihre Hand zu beschäftigen. Aber innerlich arbeitete sie unausgesetzt an dem gleichzeitig erhofften und gefürchteten großen Werke. Wie ein Fieber quälte sie die Sehnsucht, endlich die Arbeit vorzunehmen.

Wenn Jutta Reimers trotzdem noch immer zögerte, ans Werk zu gehen, so war das Zurückhaltung, die sie sich mit vollem Bewußtsein selbst auferlegte. Ein Wort von Xaver Pangor kam ihr nicht aus dem Sinn, das sich ihrem Gedächtnis tief eingeprägt hatte. Etwa so hatte sich der Bildhauer ausgedrückt: »Sie können nur dann hoffen, etwas Wertvolles zu schaffen, wenn Sie Geduld üben lernen. Wie die reifen Früchte müssen die Werke von uns abfallen. Aus den Säften und Kräften unseres Kopfes und Herzens sollen sie sich nähren. Wie in der Natur gibt es in unserem Leben Perioden, wo wir Künstler ruhen und ansammeln, und Zeiten, wo wir die aufgespeicherten Eindrücke und Erlebnisse aus uns hervorbrechen lassen. Aber ebensowenig, wie man dem Frühjahr gebieten kann, zu kommen, ebensowenig soll man vorzeitig Blätter, Knospen und Früchte einheimsen wollen von dem inneren Menschen. Man schaffe nur, wenn der Geist treibt, wenn man etwas Außerordentliches zu sagen hat, wenn uns der Überfluß in den Fingern juckt.« –

Die Künstlerin glaubte, daß dieser Augenblick nunmehr gekommen sei. Sie hatte Geduld genug geübt, das Werk war reif; mit gutem Gewissen, auch vor Xaver Pangor, konnte sie daran gehen, es aus sich herauszustellen.

Sie nahm die große Leinwand wieder vor, die sie bereits zu bemalen angefangen hatte. Gegen Agathens Protest wurden die aufgetragenen Farben davon mit Hilfe von Terpentin entfernt. Langsam wuchs zunächst in Umrißlinien, dann in Farben etwas Neues heran.

Eine lebensgroße Männergestalt bildete die Hauptfigur. Der Mann, dessen Züge vorläufig kaum angedeutet waren, stand gesenkten Hauptes mit leicht gefalteten Händen vor einem Marmorblock, an dem er gearbeitet hatte. Die Anfänge zu einer Christusgestalt schälten sich aus dem grauen Stein.

Nachdem sie ein paar Tage lang eifrig gemalt, machte Jutta plötzlich halt in ihrer Arbeit. Nicht einfach und schlicht genug war ihr das Ganze, zuviel Pose, zuviel Erzählung darin. Sie nahm dem Manne alle Attribute seines Gewerbes; kein Künstler war es nun mehr, nur ein einfacher Geselle in ländlicher Tracht. Das Atelier verwandelte sich in eine Bauernstube mit schwerem, altersgebräuntem Gebälk, durch die halboffene Tür leuchtete in wunderbarem Kontrast zum Dämmerlicht des geschlossenen Raumes die lebendige Alpenlandschaft. Das Christusbildnis rückte ganz ins Halbdunkel, wurde zum schlichten, hölzernen Kruzifix.

Zuletzt erst nahm die Künstlerin den Kopf des Mannes vor, den sie sich bis dahin aufgespart hatte. Während sie vorher unausgesetzt geändert und umgestellt, fast zaghaft geschaffen hatte, führte sie dieses Wichtigste, das, worum es sich wohl vor allem gehandelt hatte für sie bei der ganzen Komposition, in wenigen Stunden mit kühnen, sicheren Strichen aus, als arbeite sie nach Modell. Der Kopf war in Profil. Mächtig sprang die stark gewölbte Stirn vor, gemildert in ihrer Wucht durch den versonnenen Ausdruck der blauen Augen.

Das eigenartig Ergreifende des Bildes lag in dem eindringlichen Gegensatz zwischen der muskulösen, von Kraft strotzenden Männergestalt, die zum Kampfe wie geschaffen schien, und der demutsvollen Haltung, der schlichten Ergriffenheit, der stummen, fast kindlichen Ehrfurcht vor dem primitiven Heiligtume, das diese starken Hände geschaffen.

Als Jutta den Kopf fertig hatte, warf sie noch einen langen Blick auf das Ganze. Dann räumte sie alles weg von Malutensilien und sagte zu Agathen, die fast während der ganzen Arbeit bei ihr gewesen war: »Nun mache ich daran keinen Strich mehr!« –

Jutta hatte das dunkle Gefühl, daß sie ihr Meisterwerk geschaffen habe, das Werk, welches wir nur einmal im Leben hervorbringen, wenn wir in gottgesegneter Stunde bis dorthin hinabsteigen dürfen, wo das Mysterium unserer großen Liebe verborgen ruht.

Agathe stand bewundernd vor dem Werke. »Wie kann man nur so etwas aus Nichts schaffen?« – sagte sie. »Und wie kann man es so machen, daß es dasteht sicher, schön und lebendig? Mir ist diese Gestalt ein Bekannter. Ich könnte schwören, daß es diesen Mann geben müßte, irgendwo!«

Jutta erwiderte nichts auf die Worte ihrer kleinen Freundin, obgleich sie sich wunderlich davon getroffen fühlte.

*

Das Bild war seit kurzem in einer der größten Kunsthandlungen Berlins ausgestellt. Da die Künstlerin behauptete, keinen Namen für ihr Werk zu wissen, hatte man ihm im Katalog der Ausstellung die Bezeichnung »Der Herrgottsschnitzer« gegeben.

Zum Staunen der Weßlebens war Jutta übrigens nicht dazu zu bewegen, sich ihr eigenes Machwerk am öffentlichen Orte anzusehen. »Gerade weil es mein Bestes ist«, sagte sie zu Agathen, »mag ich nicht erleben, wie es dort hängt, preisgegeben den Blicken von Menschen, die es doch nicht verstehen können.«

Das Malen hatte Jutta anscheinend fürs erste aufgegeben. Sie fing allerhand an, versuchte sich im Zeichnen von Buchdeckeln, modellierte in Wachs; ließ beides aber, weil es sie nicht befriedigte, bald wieder liegen.

Etwas Unstetes war über das Mädchen gekommen. Es ging ihr, wie es dem Künstler zu gehen pflegt, wenn er einem Gedanken, der ihn monatelang im Banne gehalten, endlich zum Leben verholfen hat; die Seele ist dann wie entleert, der edle Enthusiasmus, der alle unsere Kräfte in Spannung gehalten, macht der Ernüchterung Platz. Die Stimmung des erhabenen Rausches, in der wir eine Zeitlang gelebt haben, ist unwiederbringlich dahin. Ein Gefühl der Einsamkeit beschleicht uns, als sei der liebste Freund von uns gegangen.

In dieser Verfassung ist man empfindlich und leicht verletzt. Das Urteil über unsere Umgebung fällt dann wohl herber aus als in Zeiten, wo wir im Hochgenusse des Schaffens alles in dem sonnigen Lichte sehen, das aus uns selbst heraus auf die übrige Welt strahlt.

Jutta empfand auf einmal den Unterschied, der zwischen ihr und ihrer jetzigen Umgebung bestand, viel stärker als vordem. Früher hatte sie die Farblosigkeit dieses Lebens, die Trockenheit des Tones, die Einseitigkeit des Urteils, das gänzlich Unkünstlerische, was dem Weßlebenschen Kreise nun einmal anhaftete, nicht weiter gestört; im Gegenteil, als interessanten Gegensatz zu der gewohnten, hatte sie diese Weltanschauung empfunden. Aber nun auf einmal merkte sie die Prosa davon. Ihre verstimmten Nerven lehnten sich auf gegen das fremde Element, in das sie versetzt worden war, und das ihr nicht zusagte. Die Luft kam ihr drückend vor in den kleinen Räumen, deren spießbürgerliche Einrichtung eine tägliche Beleidigung bedeutete für ihren Geschmack.

Sie hütete sich indessen, ihre Wirte davon etwas merken zu lassen, nahm sich zusammen, schon um Eberhards willen. Aber solche scheinbar unwägbaren Verstimmungen unseres Gemütes teilen sich doch auf irgendeine Weise durch die Luft den andern Menschen mit. Eine Abkühlung trat ein, zunächst unmerklich, in der gegenseitigen Herzlichkeit.

Die Frau Pastorin fing wiederum an, Gewissensbisse zu empfinden in dem Teile ihres Herzens, der für den Protestantismus reserviert war. Auch andere, vielleicht berechtigtere Bedenken hegte die gute Frau um Juttas willen. Sie hatte zwei Söhne in dem Alter, wo junge Leute sich leicht Dummheiten in den Kopf setzen. Dazu ein Wesen wie diese Malerin im Hause! – Zwar Koketterie konnte sie Jutta beim besten Willen nicht nachsagen; aber es lag nun mal in der Erscheinung des Mädchens etwas zu den Sinnen Sprechendes. Frau Weßleben bezeichnete das als »römische Hoffart«. Auch in Juttas Kunst witterte sie Verwerfliches. Agathe war dem Banne der Fremden bereits völlig anheimgefallen. Die Jungens kamen neuerdings auch viel häufiger ins Haus, seit man diesen Magneten da hatte, der alles an sich zog. Man mußte ein Auge darauf haben, daß sich nichts Schlimmeres entspinne.

Die vorsichtige Mutter ahnte nicht, wie tief verstrickt bereits das Herz eines ihrer Söhne war.

*

Endlich kam der schon lang erwartete Brief von Lieschen Blümer.

Sie schrieb:

»Meine liebe Jutta. Du wirst mir zürnen, daß ich Dir noch nicht geantwortet habe. Im Herzen habe ich es wie oft schon getan! Ich bin überhaupt so viel bei Dir mit meinen Gedanken. Siehst Du, ich war nicht ganz gesund wieder mal; und da soll man nicht schreiben, wenigstens nicht an seine liebste Freundin. Aber nun geht es mir schon wieder viel besser, so daß ich Dir alles mögliche Schöne mitteilen kann. Vor allem von Xaver! Er hat Erfolg gehabt. Bei einem Ausschreiben für eine Brunnengruppe ist sein Modell mit dem ersten Preise ausgezeichnet worden, und er bekommt den Auftrag. Begreifst Du, was ich dabei empfinde, Jutta? Daß es mir vergönnt ist, das noch zu erleben! Wie bin ich vor so vielen andern gesegnet, daß ich habe beitragen dürfen, ihn groß zu machen! Er lebt und schafft und wird anerkannt. Wenn's auch lange gedauert hat, und wenn man selbst darüber auch etwas müde geworden ist; das hat gar nichts zu bedeuten. Das Glück macht alles gut!

Denke Dir, ich darf nicht mehr malen! Xaver hat es mir verboten. Er meint, es strenge mich zu sehr an. Du kannst Dir nicht vorstellen, wie gut er ist! Ich vermisse die Malerei gar nicht, bin viel auf meinem Zimmer, kann nachdenken und lesen. Lebe wie eine Prinzeß. Abends kommt er dann auf ein Stündchen. Oh, ich habe es gut! Manchmal ist es mir, als könne so viel Glück gar nicht auf die Dauer währen.

Schreibe mir, bitte, wie es Dir geht, was Du treibst und schaffst, und ob Du auch manchmal an uns denkst. Wir sprechen viel von Dir, Xaver und ich. Er ist sehr gespannt, zu sehen, was Du aus Berlin mitbringen wirst an Arbeiten. Du weißt ja, daß es Dir gelungen ist, ihn von der Ansicht zu bekehren: wir Frauen könnten nichts Originelles hervorbringen. Darauf kannst Du Dir etwas einbilden! Wäre Xaver hier, würde er Dich grüßen lassen.

Leb nun wohl und sei tausendmal umarmt und innig geküßt von Deiner Freundin Lieschen.«

Wie dieser Brief charakteristisch war für die Schreiberin! Von sich hatte sie erzählen wollen, und daraus war das Bekenntnis geworden, das beständig aus allem sprach, was Lieschen tat und sagte: daß sie liebe. Wie sich diese Liebe verriet, selbst da, wo sie des Geliebten gar nicht Erwähnung tat! Immer und überall kam sie, wie von magnetischer Kraft angezogen, auf diesen Pol ihres Daseins zurück.

Wer so lieben konnte, so lieben durfte! –

Aber auch mit einer gewissen Wehmut erfüllte Jutta der Brief. Mit zarten Händen rührte er an Dinge, die vorüber sein sollten. Jetzt gerade vor einem Jahre war sie so viel mit Lieschen und Xaver zusammen gewesen. Die wichtigste, die reichste Zeit ihres Lebens, die Periode einer Wandlung ihres ganzen Wesens, wie sie keine zweite je erleben würde.

All das und vieles mehr rief ihr der Brief ins Gedächtnis zurück. Zum Verführer wurde er, an allerhand zu denken, was man tief im Schrein des Herzens hatte verschließen wollen, was man erstorben glaubte, wovor man geflohen war.

Es ist eine Eigentümlichkeit der Träume, daß sie die indiskreten Ausplauderer unserer geheimsten Gedanken sind. Hegst du in der Tiefe deiner Seele einen Wunsch, eine Hoffnung, der am hellen lichten Tage dich zu nähern du zu schamhaft, zu scheu oder zu furchtsam bist, dann sei sicher, daß es dich in der Nacht heimsuchen wird, und zwar in so rücksichtslos nackter, unbarmherzig wahrhaftiger Gestalt, daß du, wie auf böser Tat betroffen, glaubst: ein schlimmer allwissender Geist habe deine Gedanken heimlich belauscht und dir ins Ohr geraunt, was auszudenken du dich selbst nimmermehr getraut.

Es träumte Jutta, sie schreite mit Lieschen und Xaver durch einen wunderbar schönen Garten. Zypressen, Oliven, Kastanien und andere seltene und herrliche Bäume beschatteten ihren Weg. Betäubender Duft wurde aus einem Parterre von Blumen zu ihnen herübergetragen. Über ihnen blaute südlicher Himmel. Aus dem Gebüsch winkten hier und da glänzende Marmorleiber. Das Plätschern einer verborgenen Kaskade erfüllte die Luft mit sanftem Rhythmus. Der Weg führte in Windungen bergan. Sie hielten sich zu dreien umfaßt, Xaver in der Mitte, sie und Lieschen ihm zu Seiten. Offenbar strebte man jenem Tempel zu, der sich auf der Spitze des Hügels weißschimmernd erhob. Niemand sprach ein Sterbenswörtlein, man genoß stumm die überwältigende Herrlichkeit. Alle Fähigkeiten waren geschärft, verfeinert, verzehnfacht. Jener Zustand höchster Leichtigkeit; eine irdische Verklärung!

Da mit einem Male hörte man Lieschens Stimme: »Ich werde dir zu schwer, mein Freund! Laß mich ein wenig ausruhen, ich bin müde. Geht ihr voran, ich komme nach!«

Und gewissenlos ließen sie sie allein, schritten zu zweien weiter. Mit beflügeltem Schritt eilten sie jenem Tempel auf der Höhe zu. Bald war das Ziel erreicht. Als einziges Gottesbild stand dort in antiker Säulenhalle ein Engel mit einem Schwert in der Hand. Eine Gestalt von wunderlicher, unheimlicher Schönheit. »Luzifer!« sagte Xaver. Weiter sprachen sie nichts.

Dann traten sie hinaus auf die Plattform vor dem Tempel, von wo aus sie alles übersehen konnten. Auch auf den Weg schauten sie hinab, den sie gekommen waren. Aber da war niemand, der ihnen nachgeschritten wäre.

»Wir müssen wieder hinabsteigen und sie suchen«, hörte Jutta ganz deutlich von ihrer eigenen Stimme gesprochen. »Sie ist müde und wird den Weg hier herauf nicht allein finden.«

Da schüttelte Xaver den Kopf mit rätselhaftem Ausdruck und sagte: »Sie ist nicht mehr, längst nicht mehr!« –

»Wo – wo ist sie denn?«

Er nahm ihre Hand, hob sie ein wenig, und wies damit in den endlosen Raum hinaus.

Furchtbare Bangigkeit überfiel Jutta. Etwas Dunkles, Gespensterhaftes, Vielgliedriges kam herangekrochen und rührte mit kalter Hand an ihr Herz. Sie wollte schreien und konnte nicht.

Da erwachte sie. Gott sei Dank nur ein Traum!

Jutta setzte sich im Bette auf, verwirrt, erschüttert, zum Weinen gestimmt. Die Tür zu Agathens Zimmer, die nur angelegt war, öffnete sich. »Jutta, was ist dir?«

Agathe erhielt keine Antwort. Sie trat näher heran und fand die Freundin in Tränen. »Aber Herzens-Jutta, was fehlt dir?«

»Frage nicht! Am Gottes willen frage mich nichts! Ich habe Furcht!«

»Du, Furcht?«

»Vor mir selbst!«

»Darf ich zu dir kommen?«

»Ja – ja!«

Agathe legte sich zu ihr, und versuchte ihr die Tränen zu trocknen.

 


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