Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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XVI

Das Sommersemester neigte sich bereits stark dem Ende zu. Eberhard wollte dies Jahr nicht, wie die Jahre vorher, während der großen Ferien ins Ausland reisen, sondern nur an die Ostsee gehen. Irgendwo auf Rügen, glaubte er, werde er Muße finden zur Arbeit. Denn heuer mußten dazu auch die Ferien genommen werden, wollte er doch im nächsten Winter seine Staatsprüfung ablegen. Im Herbst aber sollte er zu kurzem Aufenthalt nach München kommen, wo, wie der Vater schrieb, Juttas und Brunos Hochzeit stattfinden werde, bei der er nicht fehlen dürfe.

Otto Weßleben, der auch nicht weit vom Examen stand, wollte Eberhard Reimers auf seiner Rügenfahrt begleiten. Die beiden Freunde hatten sich's ausgedacht, bei schlichten pommerschen Bauersleuten Quartier zu nehmen. Man wollte nicht nur repetieren, sondern auch baden, die Insel durchwandern, segeln, rudern.

Bei den Weßlebens wurde kaum noch von etwas anderem gesprochen als von diesem Ausfluge. Eltern und Geschwister freuten sich für Otto, dessen erste Reise es war. Sie selbst wollten während des Hochsommers in Berlin bleiben; denn für mehr als ein Familienmitglied langten die Mittel zum Reisevergnügen nicht.

Wenige Tage vor dem bestimmten Abfahrtstage bekam Eberhard unerwarteten Besuch. Bruno Knorrig trat ohne Anmeldung plötzlich zu ihm ins Zimmer.

Über fünf Jahre war es nun wohl schon her, daß man einander nicht gesehen hatte; wichtige Jahre der Entwicklung für die beiden! Man wußte noch, daß man miteinander befreundet sei, man versicherte es sich gegenseitig aufs neue, man suchte einander zu überbieten in Herzlichkeit; aber es blieb in alledem doch etwas Fremdes, Erzwungenes. Ein zu großes Stück fehlte in der Kette gemeinsamen Erlebens; beim besten Willen konnte man die beiden Enden nicht mehr zusammenfügen.

Eberhard schlug vor, in eine Kneipe zu gehen, da es auf seiner »Bude« doch gar zu nüchtern sei. Außerdem wäre es höchste Zeit, meinte er, daß sie nun endlich mal auf Brunos und Juttas Verlobung eine Flasche leerten. Es sei ein Skandal, daß das nicht längst geschehen.

Bruno ließ auf diese Aufforderung ein etwas gepreßt klingendes Lachen hören, das Eberhard auffiel. Überhaupt entsprach sein zwischen hastiger Erregung und Gedrücktheit jäh wechselndes Benehmen nicht gerade dem, was man sich unter einem glücklichen Bräutigam vorstellte.

Der Freund folgte Eberhards Einladung jedoch, und bald saß man in der gemütlichen Ecke einer Weinstube einander gegenüber und setzte die Versuche fort, sich näherzukommen.

Bruno erzählte, daß er seit etwa drei Wochen wieder in Europa sei. Seine Tätigkeit drüben sei glücklich beendet. Es stehe nun nichts mehr im Wege, daß er für immer in der Heimat bleibe.

»Und im Oktober ist Hochzeit!« rief Eberhard. »Stoßen wir darauf mal an, mein Alter! Deshalb, weil wir Schwäger werden sollen, können wir schließlich immer noch Freunde bleiben, denke ich!«

Bruno zuckte zusammen. Ohne den Freund anzusehen, erwiderte er: »Laß! Erst muß ich dir etwas erzählen. Ich bin hierhergereist, weil du meine letzte Hoffnung bist!« . . . .

Und nun berichtete er dem staunenden Eberhard folgendes:

Während er in Südamerika gewesen, waren Juttas Briefe an ihn immer seltener, kürzer und kühler geworden. Er hatte dieser Wandlung des Tones keine allzu große Bedeutung beigemessen, hoffend, daß all das mit einem Schlage besser werden würde, wenn er erst wieder bei ihr sein werde. Aber der Empfang, den sie ihm nach seiner Rückkehr bereitet hatte, war noch ärger gewesen als ihre Briefe. So furchtbar es auch sei, so könne er doch nicht mehr daran zweifeln, daß sie die Absicht habe, mit ihm zu brechen.

Mehr noch als seine schlichten Worte machte seine ganze Art und Weise auf Eberhard Eindruck. So sprach echte Verzweiflung. Man merkte ihm an, daß er schwer getroffen sei. Jetzt verstand Eberhard den Freund auf einmal wieder. Er begriff die Größe seiner Liebe, fühlte mit ihm die Kränkung, die ihm widerfahren.

Das Eis war gebrochen zwischen den beiden.

Bruno schüttete sein Herz aus. Was eigentlich vorgegangen sei mit Jutta, konnte er nicht angeben. Man war auf Vermutungen angewiesen. Neigung zu einem anderen Manne konnte es nicht wohl sein; sie hatte ja im vorigen Winter ein völlig zurückgezogenes Leben unter den Augen der Ihren geführt.

Eberhard erkundigte sich, wie denn die beiderseitigen Väter die Sache auffaßten? –

»Mein Vater«, erwiderte Bruno, »ist schnell fertig. Für ihn bedeutet Verlobung Verlobung; ein Kontrakt wie jeder andere. Du kennst ihn ja! Jeder Kontrahent ist gebunden, seine Zusage zu erfüllen. Ein Esel wäre in seinen Augen, wer von seinem guten Recht nicht bis zum äußersten Gebrauch machte.«

»Und mein Vater?« fragte Eberhard.

»Auch er bleibt seiner Natur getreu. Er sieht die Sache im rosigsten Lichte, meint, das seien Mädchenlaunen, die nichts bedeuteten. Jede richtige Braut hätte wohl solche Anwandlungen. Das mache den Brautstand ja so pikant, daß man sich das Mädel immer wieder zurückerobern müsse. – Sie haben beide schön reden, die Alten! Ich allein weiß, wie verzweifelt meine Sache steht!«

»Hat dir meine Schwester direkt gesagt, daß sie dich nicht will?«

»Schlimmer als das! Sie hat mich durchfühlen lassen, daß sie es als Ehrlosigkeit betrachte von meiner Seite, wenn ich mich weiterhin als ihren Bräutigam ansähe.«

»Ein starkes Stück!«

»Ich habe ihr erklärt, ich würde zurücktreten, wenn sie mir die Gründe ihres Meinungswechsels glaubhaft machen werde.«

»Hat sie das getan?«

»Sie verweigert jede Erklärung. So stehen die Dinge augenblicklich zwischen uns. Ich fühle, daß dieser Zustand völlig unhaltbar ist. Zwingen kann ich sie ja nicht, wie mein Vater will; aber fahren lassen – einfach mein Wort zurückgeben . . . . Ich glaube nicht, daß du begreifen kannst, was das für mich heißen würde.«

Bruno war blaß geworden und zitterte am ganzen Leibe. Das Weinen schien ihm nahe.

Er tat Eberhard in tiefster Seele leid. Männer können einander in Sachen der Liebe selten verstehen, weil fast immer Eifersucht in irgendeiner Form zwischen ihnen steht. Eberhard aber stellte sich hier von vornherein auf Seite des Freundes gegen die Schwester. Einen schweren Treuebruch schien ihm das Mädchen zu begehen.

»Kann ich dir irgendwie helfen, armer Kerl?« fragte er.

»Um dich darum zu bitten, bin ich hier!« antwortete Bruno. »Du bist schließlich der einzige Mensch, der Einfluß hat auf Jutta. Ich weiß es, daß sie auf dein Urteil großen Wert legt. Ich will nicht etwa, daß du sie überreden sollst zu etwas, das sie nicht will; verstehe mich nicht falsch! Ich dachte nur, wenn du versuchtest, sie auf sich selbst zurückzuführen. Sie hat mich doch lieb gehabt, würde sie mir sonst ihr Jawort gegeben haben damals! Aber seitdem hat sich irgendetwas ereignet, was sie mir nicht sagen will oder nicht sagen kann. Vielleicht ist sie gegen dich offenherziger.«

»Ich verstehe dich vollständig, Bruno, und ich denke, ich bin der Mission gewachsen! Soll ich sogleich mit dir nach München fahren?«

»Dein Vater und Jutta sind bereits nach Berchtesgaden abgereist. Ursprünglich sollte auch ich mitkommen; aber nach den Erfahrungen blieb ich lieber weg. Angeblich bin ich auf einer Geschäftsreise am Rhein. Ich kann auch nur kurze Zeit hier bleiben. Wenn du etwas für mich tun wolltest, das wäre herrlich! Niemals würde ich dir den Freundschaftsdienst vergessen! Aber das sage ich dir gleich: leicht wird's nicht werden. Jutta ist sehr, sehr schwer zu behandeln. Ich fürchte, ich habe es von vornherein mit ihr versehen.«

»Na, wollen mal sehen!« rief Eberhard in zuversichtlichem Tone. »Ich bin schon manchmal mit meiner kleinen Schwester fertig geworden, wenn alle anderen verzweifelten. Sie ist doch schließlich auch nur ein Frauenzimmer!«

*

Der Plan, mit Otto Weßleben nach Rügen zu fahren, war damit ins Wasser gefallen. Eberhard sagte sich, daß der Freundschaftsdienst, den Bruno von ihm erbeten hatte, allem anderen vorangehen müsse.

Wenn er einmal nach Bayern reiste, dann wollte er gleich für einige Zeit mit den Seinen zusammenbleiben. Was ihm Bruno mitteilte, mahnte Eberhard daran, daß er sich ihnen allzulange ferngehalten habe. Sicherlich würde es soweit nicht gekommen sein, wenn er, der Bruder, in der Schwester Nähe geblieben wäre. Jutta brauchte, wie's schien, dringend jemanden, der sie beriet.

Nachdem er Bruno noch auf den Bahnhof geleitet hatte, wobei er versuchte, ihm Mut einzusprechen und ihn zu trösten, trat er am späten Nachmittage die Fahrt an nach dem Hause am Johannistisch. Er mußte es doch nun den Weßlebens und vor allem Otto mitteilen, daß aus ihrem Sommerausflug nichts werden könne.

Unangenehm genug war der Gang. Den eigentlichen Grund, weshalb er nach dem Süden reiste, statt, wie verabredet, nach dem Norden, konnte er den guten Leuten nicht einmal angeben. Man mußte sich eben irgendeine Notlüge ausdenken. Dabei wußte er doch nur zu gut, wie sie sich alle gefreut hatten.

Bei den Weßlebens fand er die Vorsaaltür offen. Rieke, das Dienstmädchen, das der Herrschaft von Pudelsee nach Berlin gefolgt war, stand am Türstock, mit dem Reinigen von Kleidern beschäftigt. Nach Art alter Dienstboten nahm sich Rieke Vertraulichkeiten heraus gegen Bekannte des Hauses. Wahrscheinlich dachte sie sich ihr Teil bei den häufigen Besuchen dieses schmucken, jungen Mannes. Übrigens stand sie mit ihrem Herzen wie mit ihrem Mundwerk – das letztere trat mehr hervor – auf Seiten Eberhards.

Schon auf der Treppe hörte er durch die offenstehende Tür Musik ertönen. Es klang wie Harmonium, zu dem gesungen wurde. Näher kommend, erkannte er Agathens Stimme; oder vielmehr, da er sie noch nie hatte singen hören, er vermutete, daß sie die Sängerin sei.

Rieke lächelte ihm verständnisvoll zu. »'t is unser Fräulein! Det arme Ding! Se hat och nich vill Spaß vom Leben!«

Unwillkürlich blieb Eberhard stehen und lauschte den Tönen. Die Stimme war schön; er wußte das schon vom Hörensagen. Niemals war Agathe zu bewegen gewesen, in seiner Gegenwart zu singen. Nun bekam er doch mal was davon zu hören, ohne ihr Wissen und Wollen.

Es war Susannens Brautlied aus dem »Figaro«. Agathe sang es wie jemand, der ohne Noten frei nach dem Gehör wiedergibt, auch den Text variierte sie ein wenig. Ihm fiel dabei ein, daß sie neulich mit ihrer Mutter auf geschenkte Billets im Opernhause gewesen sei. Daher die Reminiszenz!

»Se is janz alleene!« sagte Rieke und wies mit der Kleiderbürste über die Schulter nach dem Quartier. »De Herrens sind in der inneren Mission. Ick jlobe, unser Diakonus hält heute ne jroße Rede. Und de Frau is och jegangen. Aber de Kleene haben se nich mitjenommen; et handelt sich nämlich von ›Sitte‹. – Von so wat darf Agathchen natürlich noch nichts wissen! Nu vertreibt se sich de Zeit auf ihre Fasson. Soll ick anmelden, Herr Reimers?«

Sie wartete gar nicht erst die Antwort ab, lief in den Flur und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Der Gesang verstummte sofort.

Klopfenden Herzens trat Eberhard ein. Er war doch wirklich nicht so ängstlich sonst! Was war denn weiter dabei: ein tête-à-tête mit dem jungen Dinge! Konnte er sie nicht bitten, daß sie ihm das Liebeslied nochmals singe? Wurde sie darüber verlegen, so war die Situation ja nur um so pikanter. –

Aber vor Agathens klaren, erstaunt und unwillig auf den Eindringling gerichteten Augen verging ihm aller Mut zu der witzelnden Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag.

Er fragte vielmehr, sich unwissend stellend, ob Otto zuhause sei. Und als sie dies verneinte, wo die Eltern seien. Ihr Anblick verwirrte ihn ganz. »Wozu lüge ich nur?« fragte er sich. »Sie durchschaut mich ja doch mit diesen Augen!«

Auf irgendeine Weise mußte er diesem Zusammensein einen zufälligen und harmlosen Anstrich geben. »Ich bin hier!« begann er, »um eine recht unangenehme Mitteilung zu machen. Aus unserer Rügenfahrt wird leider nichts werden können, wenigstens soweit es mich betrifft. Ich muß nachhause.«

Agathe unterbrach ihn rasch. »Dann wird Otto auch nicht reisen!«

»Er kann schließlich auch allein fahren. Wir sind doch nicht miteinander verheiratet, Ihr Bruder und ich!«

Eberhard bereute sofort dieses Wort, als er die Wirkung in ihren Zügen sah. Sie runzelte unmutig die Stirn.

»Ich wollte Otto vorschlagen . . .«

»Nein, geben Sie sich keine Mühe, Herr Reimers! Otto reist sicher nicht allein. Ich kenne ihn besser, als Sie ihn zu kennen scheinen.«

»Es ist mir um Ottos willen sehr leid, das können Sie glauben, Fräulein Agathe! Ich fürchte, Sie sind mir böse! Wie?« –

Das Mädchen zuckte nur die Achseln. Sie standen einander immer noch in der Nähe der Tür gegenüber. Sie hatte ihn nicht aufgefordert, Platz zu nehmen.

»Man sollte festhalten an dem, was man einmal zugesagt hat, finde ich!« sagte Agathe und warf das Köpfchen zurück.

»Sie halten mich wohl nun für einen ganz unzuverlässigen Menschen – was?«

»Ich sage gar nichts dergleichen! Otto tut mir nur furchtbar leid. Sie wissen wahrscheinlich gar nicht, wie große Stücke er auf Sie hält!«

Das Gespräch hatte eine von Eberhard durchaus nicht erwartete und ihm sehr unerwünschte Wendung genommen.

»Ich weiß, daß ich Aufklärung schuldig bin«, sagte er. »Wenn Sie hören, was für triftige Gründe ich habe, zu den Meinen zu reisen, werden Sie mich entschuldigen, dessen bin ich sicher. Morgen früh schon muß ich fahren. Gern hätte ich Otto vorher noch gesprochen. Aber vielleicht sind Sie so gütig, es ihm auszurichten und mich auch Ihren Eltern gegenüber zu entschuldigen. Ich werde heut abend für längere Zeit zum letzten Male hier gewesen sein. Vor Beginn des Wintersemesters kehre ich nicht wieder nach Berlin zurück.«

Er hatte sich von der letzten Bemerkung eine starke Wirkung erwartet, hatte geglaubt, daß es ihr leid tun werde, ihn so lange Zeit nicht zu sehen. Wenn das der Fall war, so ließ sich Agathe jedenfalls nichts davon anmerken. Sie ging, ohne ein Wort zu erwidern, zum Harmonium und schloß es ab. Dort blieb sie stehen und blickte nach dem Fenster. Er sah ihr Gesicht kaum noch in der anbrechenden Dämmerung.

Was sollte er tun? Bleiben – gehen? Und wenn er blieb – wozu ihr Benehmen ihn nicht gerade aufforderte – was sagen? Durfte er ihr Brunos und Juttas Geheimnis preisgeben? Sollte er dem Mädchen die Räubergeschichte aufbinden, die er sich unterwegs ausgedacht hatte: von der plötzlichen Erkrankung seines Vaters; daß er als angehender Arzt telegraphisch gerufen worden sei, zu dem Patienten zu kommen? –

In Gedanken war das eine ganz nette Erfindung gewesen, besonders auch, weil sie seiner Bedeutung ein gewisses Relief gab. Aber je länger er sich's überlegte, desto weniger wollte ihm die Idee gefallen. Es schien seiner nicht würdig und vor allem nicht der Menschen, denen er solche Flausen vormachen wollte. Eine innere Stimme warnte ihn davor, irgendwelchen falschen Schein zwischen sich und das junge Mädchen zu bringen.

Rieke trat ins Zimmer. Die Lampe, die sie in der Hand hielt, war wohl nur ein Vorwand, mit dem sie ihre Neugier beschönigen wollte. Ihr Blick wanderte von Agathe zu Eberhard. Fast schien es, als sei sie enttäuscht, die beiden jungen Leute räumlich so weit voneinander getrennt zu sehen. Dann verschwand sie wieder.

Die kleine Lampe mit der milchweißen Glocke machte den Raum nur mäßig heller. Agathe setzte sich an den Tisch und schlug ein Buch auf, das dort gerade lag, anscheinend, um darin zu lesen. Ob ihr Verhalten aus Verlegenheit hervorging, ob es absichtliches Nichtbeachten seiner Anwesenheit vorstellen sollte, oder ob es beides war, wäre schwer zu entscheiden gewesen.

Er stand jetzt, mit dem Rücken an das Harmonium gelehnt, ihr gegenüber. Zwischen sich hatten sie den großen, runden Familientisch mit der kleinen, schlecht brennenden Lampe darauf. Dahinter das steife Sofa mit den weißen Häkeleien. Wie altmodisch das war! Aber er liebte das alles: diese verschlossenen, wackligen Möbel, diese altväterischen Bilder an den Wänden, diesen ganzen unmodernen Hausrat. Es paßte zu den Menschen, war ein Teil von dem, was für ihn »Weßlebensche Art« war.

»Sie sangen vorhin, als ich kam«, sagte er. »Wollen Sie mir nicht einmal etwas vorsingen?«

»Nein!« rief Agathe schroff. Er sah, wie sie tief errötete.

Eberhard biß sich auf die Lippen. Esel, der er war! Nun hatte er sie glücklich auch noch beleidigt. –

Beide schwiegen wieder. Ein Fenster stand offen und ließ die schwüle Abendluft des Großstadtsommers ein. Aus der Ferne hörte man ein dumpfes unklares Summen und Brausen, wie das Stampfen einer Riesenmaschine. Das Pulsieren des Blutes in einem gewaltigen Organismus. Berlin tönte so. Eberhard dachte einen Augenblick, daß dieses kleine Zimmer einer jener Muscheln gleiche, in denen man als Kind das Branden des Weltmeeres zu hören glaubte. Dann gingen seine Gedanken wieder andere Wege.

Er sah den geraden weißen Scheitel zwischen dem glatt anliegenden Haar des sitzenden, immer noch in sein Buch vertieften Mädchens. Die schmalen Schultern, ihren kaum angedeuteten Busen, der sich gleichmäßig hob und senkte. Wie klar und einfach und scheinbar durchsichtig alles an diesem jungen Wesen war. Wenn man nur eines gewußt hätte! – – –

Er grübelte schon wieder über ihrem Wesen. Wer war sie? Wie stand's um ihr Herz? Was steckte hinter ihrer Sprödigkeit? Konnte man ihr denn kein Zeichen entlocken von dem, was sie eigentlich fühle? Ob sie überhaupt fühle? –

Das Schweigen dauerte, lag schließlich wie etwas Körperhaftes fühlbar zwischen ihnen. Schweigen wird unter Menschen, die einander noch nicht gefunden haben, zur unerträglichen Qual, wie es bei Seelen, die sich kennen, Zeichen ist höchster Vertraulichkeit.

Agathe blickte mit einem Male auf, sah ihn fast ängstlich an. Würde er denn nicht endlich etwas sagen? –

»Ist jemand bei Ihnen zuhause krank geworden?« fragte sie. Der Ton klang nicht mehr barsch, eher schüchtern.

»Wie kommen Sie darauf?«

»Weil Sie sagten: Sie müßten so plötzlich reisen!«

»Merkwürdig!« rief Eberhard, »daß Sie mich gerade das fragen müssen! Wissen Sie, daß ich drauf und dran war . . . Nein, ich will Ihnen die ganze Wahrheit sagen! Ich weiß, daß Sie hiervon niemandem etwas erzählen werden. Es betrifft das Geheimnis eines Freundes und es betrifft auch Jutta.«

»Jutta! Ihr fehlt doch nichts?«

»Sie ist gesund. Mein Freund Bruno, von dem ich Ihnen erzählt habe, war heute bei mir. Zwischen den beiden hat es ein Mißverständnis gegeben. Das übrige erlassen Sie mir wohl. Kurz, ich muß reisen! Haben Sie nicht so viel Vertrauen zu mir, wenn ich Ihnen sage: was ich tue, ist notwendig, ist meine Pflicht, daß Sie meinem Worte einfach glauben?«

»Ich mißtraue Ihnen nicht!«

»Alle sind sie hier freundlich gegen mich. Ihre Eltern wollen mir wohl, Ihre Brüder haben mich gern, nur Sie sind mir von vornherein begegnet, als wäre ich ein Einbrecher. Ich kann Ihnen versichern, daß mir das wehe tut!«

Er blickte sie gespannten Blickes an. Sie hatte das Haupt wieder gesenkt, so daß er den Eindruck seiner Worte nicht feststellen konnte; aber er sah ihren Busen fliegen.

»Ich werde versuchen, anders gegen Sie zu sein, wenn – wenn Sie wiederkommen«, sagte sie halblaut und blickte zur Seite. »Und ich danke Ihnen auch, daß Sie mir das gesagt haben – ich meine von Ihrer Schwester das, weshalb Sie reisen müssen.«

»Ja, eigentlich habe ich es Ihnen doch gar nicht gesagt!«

»Lassen Sie, bitte!« rief sie mit abwehrender Bewegung. »Ich weiß alles, ohne daß Sie mir's erklären. Ich liebe Ihre Schwester und bewundere sie so sehr.«

»Aber Sie kennen Jutta gar nicht!«

»Oh, doch, doch! Ich habe ein ganz bestimmtes Bild von ihr; das kann nicht täuschen. Und ich finde es so begreiflich, daß Sie zu ihr wollen. Oh, bitte, bitte, grüßen Sie sie von mir!«

»Ich werde Jutta erzählen von Ihnen. Aber können Sie mir denn nichts mitgeben, ein Bild von sich. Ich habe ja nicht das geringste, was ich Jutta zeigen könnte, wenn sie mich fragen wird nach Ihnen. Haben Sie keine Photographie?«

Agathe sann nach.

»Ein einziges Bild gibt es von mir, aber das ist schon ein paar Jahre alt. Es ist in Pudelsee gemacht. Wir sind alle darauf, die Eltern und die Brüder. Soll ich das hergeben?«

Sie schwieg, gab sich keine Mühe, den Kampf zu verbergen, den es ihr kostete, sich von dem Andenken zu trennen. Eberhard hielt den Atem an, in ihren Zügen begierig forschend, wie sie sich entscheiden würde.

»Ihnen will ich's geben!« sagte sie in plötzlichem Entschlusse, sah ihn strahlend an und lief aus dem Zimmer.

Der Raum schien dem jungen Manne auf einmal zu eng. Er trat ans Fenster, blickte hinaus, als ob er sich bei dem sternbedeckten Nachthimmel Rat holen wolle.

Sollte er seinem Gefühle folgen? War es weise gehandelt? Zerstörte man nicht vielleicht durch allzuschnelles Zugreifen die Hoffnungssaat, die, wenn man Geduld übte, heranreifen mochte?

Was hätte er, der Skeptiker, der Freigeist, in diesem Augenblicke gegeben um einen Wink von oben. Die nächsten Minuten mußten über sein Glück entscheiden.

Agathe kam wieder. Sie brachte etwas: ein Kabinettbild in schlichtem Rahmen. Man trat zur Lampe.

Die Photographie zeigte die Familie Weßleben, in der Mitte das Elternpaar, die Kinder um sie her. Im Hintergrunde das ländliche Pfarrhaus. Agathe stand neben dem Vater, eine Hand auf seiner Schulter. Sie trug noch Zopf. Unter dem kurzen Kleide blickten die weißen Strümpfe hervor. Das Konterfei war gut; es gab das Mädchen wieder in seiner ganzen, frühzeitig fertigen, zugleich herben und lieblichen Eigenart.

Eberhard betrachtete das Bildchen lange. Es übte auf ihn eine ungewohnte Wirkung aus: es rührte ihn.

»Wollen Sie das haben?« fragte Agathe. »Finden Sie es gut genug, es Ihrer Schwester zu zeigen?«

»Agathe!« erwiderte er, und suchte alles, was er fühlte, in die paar armen Worte zu legen. »Ich bin so beglückt! – Darf ich Jutta sagen, daß es von einer Schwester kommt?« –

Er sah, wie ein Zittern über ihren jungen Leib ging. Die kleine Lampe beleuchtete nur unklar den Raum, aber ihm genug: ihr Gesicht. Das war mit einem Male sehr ernst; nichts Herbes, nichts Abweisendes lag mehr darin. Schlicht und ernst war sie, wie Menschen in großen Augenblicken werden. So stand sie ihm eine Weile gegenüber. Dann zuckte ein leises Lächeln um ihren Mund. Mit der natürlichsten Bewegung reichte sie ihm die Hand und sagte: »Ja!«

 


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