Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

XXIV

Während der nächsten Tage schloß sich Jutta in ihrem Zimmer ein. Niemanden wollte sie sehen. Ihr Vater war in Geschäften verreist. Mit den Habelmayers, Mutter und Tochter, machte sie keine großen Umstände. Sie sei nicht wohl, ließ sie den Damen sagen, und wünsche ihre Mahlzeiten für sich einzunehmen.

In Lieschen hatte sie mehr verloren als eine Freundin. Lieschen war für sie Vertraute gewesen, Ersatz für Mutter und Schwester, ein Wesen, das sie sich selbst erwählt, dessen Freundschaft sie sich verdient hatte. Zwischen ihnen bedurfte es keiner Beteuerungen und Liebesschwüre; mit einem Lächeln hatte man sich oftmals besser verständigt als mit Worten. Sie hatten einander ihre Seelen gezeigt, so wie nur Wesen desselben Geschlechtes es tun. Nicht das mächtige Angezogenwerden, einander Abstoßen und wieder Suchen, die Qual und Wonne, welche Mann und Weib sich zufügen in der Liebe, hatte zwischen ihnen geherrscht; für sie war die Freundschaft ein ruhiger Port gewesen mit tiefem, durchsichtigem Wasser ohne heimtückische Antiefen, trügerische Wetter und gefährliche Klippen.

Das hatte sie nun verloren, endgültig. Der erste wirkliche Verlust, den ihr das Leben zufügte. Hier war nicht bloß ein Mensch von ihr gegangen, ein lieber, wertvoller, unersetzlicher Mensch: hier war ein Stück von ihr selbst abgefallen, vernichtet. Nicht das Sterbensehen eines geliebten Menschen ist so schwer – im Innersten wissen wir ja doch, daß jener das bessere Teil erwählt hat – bitterer schmeckt das Bewußtsein, daß wir um soviel ärmer geworden sind. Was uns das Leben auch noch bringen mag, gewisse Verluste kann es nicht gutmachen, sie klaffen als Lücken, die nicht auszufüllen sind.

Sie haßte alles, was zwischen sie und ihren Schmerz treten wollte, ingrimmig. Und mehr als Haß, Abscheu, empfand sie vor allem, was der Freundin Andenken stören, was in Vergangenheit oder Gegenwart die Reinheit ihrer Beziehungen trüben wollte.

Was würde sie darum gegeben haben, hätte sie die Gedanken an Xaver, die Erinnerung an ihn, ganz aus ihrem Gedächtnis wegwischen können! Es kam ihr vor, als sei er an Lieschens Tode schuld und sie seine Mitschuldige.

An Szenen dachte sie aus jener ersten Zeit, als Xaver ihr Lehrer geworben war, an den Besuch in seinem Atelier, an jenes Wiedersehen in Berlin. In ganz verändertem Lichte erschien ihr das alles jetzt, wie eine Kette bewußter, verantwortlicher Handlungen. Waren nicht Blicke zwischen ihnen gewechselt worden, Worte gefallen, Gefühle aufgestiegen und genährt worden, die Untreue bedeuteten gegen Liebe und Freundschaft? Versündigung über Versündigung! Ein dunkler Schatten stand drohend zwischen ihm und ihr. Und je heller in der Erinnerung das Bild der Freundin leuchtete, je mehr ihre Züge Verklärung annahmen, desto unklarer, verwerflicher und fürchterlicher erschien ihr das eigene Verhalten.

Und nichts konnte daran der Gedanke ändern, daß Lieschen selbst es gewesen sei, die sie mit Xaver zusammengeführt, daß Lieschen in übermenschlicher Selbstlosigkeit die Neigung gefördert hatte, die sie zwischen den beiden geliebtesten Menschen keimen sah.

Von allem war das vielleicht das Schlimmste, daß es so weit hatte kommen können, daß Lieschen hatte erfahren müssen, wie der Mann, der ihr alles verdankte, dem sie alles geopfert, sich von ihr abwandte. Was bedeuteten alle Gründe, welche die Sterbende selbst zu seinen Gunsten angeführt? Es waren und blieben matte Entschuldigungen. Kalt und hart blieb die Tatsache stehen: an ihr war Verrat geübt worden, Verrat von Freunden.

Zwar hatte ihr Gesicht gelächelt, noch im Tode gelächelt; und ihr letztes, nicht zu Ende gesprochenes Wort dem Glück gegolten der Freunde. Aber wer konnte sagen, wie es in ihrem Inneren dabei ausgesehen habe! Was mochten diese feinen Lippen lächelnd für Geheimnisse mit ins Grab nehmen? –

War vielleicht die Erkenntnis, daß sie dem Geliebten nicht mehr genüge, für dieses zartbesaitete Wesen der Todesstoß gewesen? – War Lieschen an dem Wunsche gestorben, nicht im Wege zu stehen? – – –

Fürchterlich, sich in diese Gedanken zu versenken! Niedrig, verzerrt, besudelt kam einem alles vor, was man bisher für das Edelste, Schönste und Wertvollste gehalten hatte im Leben.

Sie verabscheute sich selbst, aber ihren Mitschuldigen, Xaver, haßte sie.

Das Schrecklichste war, daß man ihn wiedersehen würde, mit ihm würde sprechen müssen. Bei Lieschens Begräbnis konnte man einander ja nicht aus dem Wege gehen.

Wenn er sich's etwa beikommen ließ, sich nach Lieschens letzten Augenblicken zu erkundigen, bei ihr, der einzigen Zeugin! –

Lieschens letzte Worte! – –

Das Geheimnis sollte er ihr nicht entreißen; und wenn sie sich die ärgsten Lügen ausdenken müßte.

Niemals würde Lieschens Auftrag an ihn ausgerichtet werden. Denn nichts auf der Welt, selbst der Wunsch einer Verstorbenen nicht, konnte einen binden, Worte zu sagen, welche demütigten. Nicht einmal denken wollte sie fernerhin an das, was die Freundin mit ihrem »Ihr beide!« gemeint haben könne.

Zum Begräbnis fuhr Jutta auf den Kirchhof. Wie sie erwartet hatte, war nur Xaver da. Lieschens Verwandte lebten weit entfernt und hatten sich, seit das Mädchen in ihren Augen zu den Gefallenen gehörte, nicht mehr um sie gekümmert.

Die Geistlichkeit war nur durch einen kleinen, unsauberen Priester vertreten, der mit seiner gefühllosen Geschäftsmäßigkeit dem Akt der Einsegnung jede Weihe nahm.

Jutta und Xaver schritten Seite an Seite hinter dem Sarge drein. Ihr war, als sie einander begrüßt hatten, nur aufgefallen, wie verändert er aussehe. Sein Gesicht hatte etwas Verstörtes, der Gang erschien müde; fremd nahmen sich auch die schwarzen Sachen an ihm aus.

Das Grab befand sich weit draußen am anderen Ende des Friedhofs. Xaver hatte es ausgesucht. Als die Träger den Sarg neben der Grube niedergestellt hatten, begann der Priester seine lateinischen Gebete herabzuleiern: der Ministrant schwenkte dazu das Weihrauchfaß. Jutta hörte, als sie neben Xaver am Sarge niederkniete, wie er still vor sich hinweinte.

Nachdem alles vorüber war, schritten die beiden den langen Kirchhofsgang, den sie eben gekommen waren, wieder hinab.

»Darf ich ein Wort mit Ihnen sprechen?« fragte er. Und da sie ihm nicht wehrte: »Warum ist mir nicht gesagt worden, wie es mit Lieschen stehe?«

»Sie hat es nicht gewollt.«

»Konnte mir nicht wenigstens erspart bleiben, sie völlig unvorbereitet so zu finden?« – Er stöhnte in der Erinnerung des furchtbaren Erlebnisses.

Jutta schwieg. Sie hatte sich vorgenommen, ihr Herz nicht vom Mitleid berücken zu lassen.

»Wenn ich nur eine Ahnung gehabt hätte, nur eine schwache Ahnung, daß sie uns verlassen sollte! – Was hätte ich ihr nicht alles antun wollen! Wie vieles hätte man einander noch zu sagen gehabt! Sie war ein so treues Herz, ein so guter, tapferer Kamerad! Was bin ich ohne sie? – Habe ich das verdient? Oh, es ist zuviel!«

Er schluchzte fassungslos, und Jutta sah, wie der große Bursche zitterte und bebte. Aber sie gedachte dessen, was sie sich vorgenommen.

»Sie sind bei ihr gewesen bis zuletzt – nicht wahr?« fragte er, sobald er sich etwas gefaßt hatte.

»Ja!«

»Hat sie meiner gedacht in ihrer letzten Stunde?«

»Sie hat von Ihnen gesprochen.«

»Wie? In welcher Weise?«

»Voll Frieden.«

»Läßt sie mir nichts sagen? Kein einziges Wort des Trostes, der Liebe?«

»Lieschens letzte Worte waren kaum noch zu verstehen, Herr Pangor.«

Jutta sagte es kühl. Sie hatte ja Zeit gehabt, sich auf diese Fragen vorzubereiten.

»Sie hatten ihr mein Kruzifix auf die Brust gelegt, nicht wahr?« fragte er nach einer Pause. Und als Jutta bejahte: »Jetzt hat sie's mit im Grabe.«

Den Rest des Weges legte man schweigend zurück.

Ehe sie sich trennten an dem Portale des Kirchhofs, blieb er mit niedergeschlagenem Blicke vor ihr stehen. »Ich hätte Ihnen noch so vieles zu sagen. Aber heute, das fühle ich, schickt sich's nicht. Werden Sie zu mir kommen? Oder darf ich Sie aufsuchen?«

»Nein, das geht nicht!« sagte Jutta gepreßt.

»Aber . . .«

»Ich bitte Sie, Herr Pangor, suchen Sie mich nicht auf! Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«

Damit schritt sie in nicht mißzuverstehender Weise nach der anderen Straßenseite.

*

Eine Woche etwa war vergangen, seit Jutta durch Lieschens Tod den herbsten Verlust erlitten hatte, als der Vater ihr eine außerordentliche Mitteilung machte. Herr Reimers eröffnete der Tochter, daß er wieder zu heiraten gedenke, und zwar sei Vally Habelmayer seine Auserwählte.

Vally ihres Vaters Braut! Vally Nachfolgerin ihrer Mutter! – Der Gedanke war unerhört, empörend, widerlich!

Das Mädchen hielt es nicht für nötig, seine Gefühl zu verbergen, sagte dem Vater ins Gesicht, was sie von seiner Wahl halte.

Herr Reimers war sehr erstaunt oder tat wenigstens so. Er hätte geglaubt, Jutta werde sich freuen, Vally sei doch ihre Freundin und Cousine. Viel angenehmer, als wenn er eine Fremde in die Familie gebracht hätte, wäre es doch für alle Teile, daß er in der Verwandtschaft der seligen Mutter bleibe. Er verstieg sich sogen zu der Behauptung, daß die Heirat im Sinne der Entschlafenen sei, die von Vally und ihrer Mutter stets viel gehalten habe. Außerdem schaffe er damit Vally eine gesicherte Lebensstellung und schenke seinen Kindern eine Mutter. Alle diese Erwägungen erleichterten ihm den Schritt, den er nicht ohne reiflichen Vorbedacht tue.

Übrigens schien sein Gewissen doch nicht ganz rein zu sein. Das ging schon daraus hervor, daß er Jutta bat, sie möge Eberhard die Sache mitteilen: ihm falle, wie sie ja wisse, das Briefschreiben schwer.

Jutta schrieb an den Bruder, machte ihm die peinliche Mitteilung. Gleichzeitig fragte sie Eberhard, was er ihr da zu tun anrate. Um keinen Preis wolle sie noch länger unter einem Dache bleiben mit dem Vater und Vally. Am liebsten würde sie ins Ausland gehen.

Eberhard schrieb ihr zurück: er habe soeben sein Staatsexamen glücklich bestanden. Ihren Plan, dem Vaterhause den Rücken zu wenden, müsse er unter so traurigen Umständen gutheißen. Gern würde er ihr einen Ersatz für das Verlorene anbieten in seinem Heim: aber erst müsse er geheiratet haben und als Arzt approbiert sein. Im übrigen mache er sie darauf aufmerksam, daß sie als mündiges Kind das Recht habe, das mütterliche Erbteil vom Vater herauszuverlangen.

Alles das bot er an, persönlich zu ordnen; denn er habe vor, demnächst nach München zu kommen.

Jutta entschloß sich jedoch, die Ankunft des Bruders nicht erst abzuwarten. Der Boden im väterlichen Hause brannte ihr unter den Füßen. Dort fingen sie jetzt an, Brautpaar zu spielen, und Vally machte von ihrem Rechte, vor der Öffentlichkeit zärtlich zu sein, ausgiebigen Gebrauch. Juttas Anwesenheit war ihr dazu eher ein Sporn als ein Hindernis.

Stärkere Gründe aber noch, als der peinliche Anblick, den Vater in solchen Stricken verfangen zu sehen, trieben das Mädchen von München fort. Niemand ahnte, wie von ganzem Herzen sie sich wegsehnte.

Sie wollte zunächst nach der Schweiz, um den Rest des Sommers am Genfer See zu verbringen. Im Winter sollte es dann nach Italien gehen. Näheres hatte sie noch nicht überlegt. Florenz lockte in Gedanken.

Zur Reisebegleitung hatte sich Jutta Frau Hölzl ausersehen, die gleich ihr durch das Habelmayersche Regiment aus dem Hause verdrängt worden war. Diese Alte konnte schlimmstenfalls als Schutz ihrer Jugend gelten; und andererseits wußte Jutta doch, daß Frau Hölzl viel zu unbedeutend sei, um durch selbständige Meinungen schwierigzufallen.

Alles in ihrem Leben und in den Geschicken der Ihren schien mit einem Male zum bedeutsamen Abschlusse zu drängen. Aus Amerika kam die Nachricht, daß Bruno Knorrig geheiratet habe, eine eingewanderte Deutsche, mit der er sehr glücklich sei. Daraus, daß Vater Knorrig mit der Wahl seines Sohnes zufrieden schien, durfte man mit einiger Sicherheit schließen, daß die Braut nicht vermögenslos sei. Jutta nahm die Kunde mit Genugtuung auf; niemand konnte Bruno sein Glück inniger gönnen als sie.

Auch eine traurige Nachricht traf die Familie. Elwire, Luitpold Habelmayers Gattin, war in Südfrankreich, wo er schon über ein halbes Jahr zur Kur mit ihr weilte, ihrem Leiden erlegen. Vally, welche das Telegramm erhalten hatte, teilte, von Tränen überfließend, die Todesnachricht den anderen mit. Luitpold war mit der Leiche unterwegs. Elwire hatte gewünscht, in heimischer Erde begraben zu sein.

Ein Grund mehr für Jutta, schleunigst von München zu gehen. Diesem Begräbnisse wollte sie nicht beiwohnen. Luitpold den trauernden Witwer spielen zu sehen, wäre für sie das widerwärtigste aller Schauspiele gewesen. Schon allein Vally darüber schwatzen zu hören, wie sie von dem Tode der Schwägerin als von einer »Erlösung« redete, für die man Gott nicht genug danken könne, und wie sie in gleichem Atem ihren Bruder als »schwergeprüft« und »gebrochenen Herzens« hinstellte, mußte auf den Kenner dieser Ehe peinlich wirken.

Da Jutta, Eberhards Rat befolgend, den Vater um Auszahlung ihres mütterlichen Erbteils gebeten hatte wurde ihr eine größere Summe angewiesen. Sie war nun also auch nach dieser Richtung hin selbständig.

Wie eigentümlich das Gefühl war, mit sich selbst anfangen zu können, was man wollte! Sein Leben einrichten zu dürfen, wie es einem paßte; nach eigenem Geschmack und Bedürfnis. Nicht mehr Aussicht nehmen zu müssen auf die Verhältnisse. Überhaupt einmal zu leben in Unabhängigkeit!

Jutta war ernst gestimmt durch das eben Durchgemachte. Ihr Seelenzustand glich einer Abendstimmung im Gebirge nach einem Tage voll Unwetter. Noch ziehen die niedrig hängenden Wolken an den Bergen hin, noch brauen die Nebel, keine Aussicht, keine Klarheit, keine Farbe und Ferne; aber schon hebt sich hier und da ein Zipfel des grauen Gewandes, von unsichtbaren Händen gelüftet, und ein Schimmer durch eine ferne Lücke versichert uns, daß hinter den düsteren Schleiern die Sonne noch immer lebt.

 


 << zurück weiter >>