Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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VIII

Eberhard kam für die Osterferien nach München. Da er zu Weihnachten in Berlin geblieben war, hatte er Kurt noch gar nicht gesehen, seit dieser wieder im Lande weilte.

Die Zeit war noch nicht allzu lange her, wo Kurt das Recht des Stärkeren rücksichtslos gegen den jüngeren Bruder ausgebeutet hatte. Eberhard ließ zwar dem älteren nichts merken, daß sich das Blatt inzwischen gewendet habe, im Gegenteil, er versuchte, zuvorkommend und liebenswürdig zu sein gegen den Kranken; aber gerade das reizte Kurt. Er fühlte mit den geschärften Sinnen des Unglücklichen heraus, daß Eberhards Großmut nichts anderes sei als innerer Triumph. Er glaubte seine Freundlichkeit zu durchschauen; sie glich der Schadenfreude auf ein Haar.

Selbstverständlich mußte Eberhard den Seinen gelegentlich von Berlin erzählen, von seinen Erlebnissen im letzten Halbjahr. Als stummer, mißmutiger Gast saß Kurt dabei. Er hatte das Gefühl des Depossedierten, über den man jetzt gleichgültig hinwegschritt. Das ist schließlich der Gang der Dinge überall in der Welt; die Grausamkeit für ihn lag darin, daß er das, was sonst dem Alter widerfährt, schon in jungen Jahren schmecken mußte.

Kurt war ein von Natur begabter Mensch. In glücklichen Verhältnissen geboren und aufgewachsen, verwöhnt von Eltern und Erziehern, hatte er sich früh daran gewöhnt, keinen anderen Maßstab an die Dinge zu legen als: Eigenwillen und Genuß. Solange er in der Heimat war, hielten ihn Herkommen und Sitte wenigstens äußerlich in Schranken; aber in einem nur halb zivilisierten Lande, unter dem Einflusse eines den Willen erschlaffenden und die Sinne anreizenden Klimas, unter einer aus allen Rassen zusammengeflossenen Populace, der das Laster als das Natürliche und die Beherrschung der Triebe als das Ungewöhnliche gilt, hatte er, ein Mann, dem Schönheit, Macht und Geld zur Seite standen, Orgien gefeiert, welche die kräftigste Konstitution zuschanden machen mußten.

Nach seinem körperlichen Zusammenbruch hatte er drüben in einem Hospital von zweifelhafter Güte gelegen, war dort von Kurpfuschern behandelt worden. Was damals versäumt, war jetzt nicht wieder gutzumachen.

An seinem inneren Menschen waren die Schmerzen, der Ekel, die Furcht, all die bangen Sorgen durchwachter Nächte, nicht spurlos vorübergegangen. Zwar in das seelenstärkende Bad wirklicher Reue war Kurt Reimers niemals hinabgestiegen; nur Ärger, Wut, bitterste Enttäuschung empfand er. Das Leben hatte ihm gelogen, die Menschen ihn getäuscht. Er klagte nicht sich selbst an als den Urheber seiner Leiden, sondern die anderen: die Weiber, die Ärzte. Er haßte vor allem alle Männer, die gesund waren. Wie kamen sie dazu, gesund zu sein, während er so furchtbar leiden mußte? – Erwischen hatten sie sich nur nicht lassen, das war ihr einziges Verdienst. Bodenlos ungerecht schien ihm eine Weltordnung, welche den einen büßen ließ, während sie Hunderten von Missetätern gestattete, frei und unbehelligt ihrem Vergnügen nachzugehen.

Da waren ihm zum Beispiel von seinem jungen Bruder nette Streiche zu Ohren gekommen! Reimers senior hatte nämlich in einer schwachen Stunde Kurt andeutungsweise von dem Abenteuer erzählt, das Eberhard ein Jahr zuvor durchgemacht hatte. Für Kurt war das eine bittere Pille gewesen. Was! Dieser grüne Junge stieg den Weibern nach, machte Glück bei ihnen! – Was wurden in der Krankenphantasie des zerrütteten Menschen da für Reminiszenzen aufgeführt! Eifersucht erwachte gegen den Bruder, die ihre Nahrung sog aus dem Gefühl der eigenen Ohnmacht.

Die feindliche Gesinnung, welche Kurt gegen seinen Bruder hegte, kam eines Tages ganz unvermittelt zum Ausbruch. Die Brüder waren allein miteinander. Eberhard hatte soeben einen Brief von Bruno Knorrig aus Venezuela erhalten. Der Freund schilderte ihm eine Reise, die er zum Teil per Dampfer, zum Teil zu Pferde in das Innere unternommen hatte. Eberhard las aus dem Briefe laut vor, ohne zu merken, daß sich darüber die Mienen Kurts mehr und mehr verdüsterten. Eberhard war im Augenblicke nicht gegenwärtig, daß für jenen die Erinnerung an den jungen Knorrig, der ja Kurts Ersatzmann da drüben war, nichts Erfreuliches haben könne.

Bis ihn Kurt jäh unterbrach: er solle aufhören mit diesem »kindischen Zeug«; das sei alles »blasse Renommage«!

Eberhard schwieg beleidigt und las seinen Brief für sich weiter.

Das Schweigen des anderen war Kurt auch nicht recht, er wollte seinen lange mühsam zurückgehaltenen Groll loswerden.

»Möchte das Bürschchen mal auf seinen Touren sehen!« rief er. »Naturschwärmen ist was rechtes. Da drüben muß einer Haare auf den Zähnen haben. Aber der gute Bruno! . . .«

Eberhard hielt es für seine Pflicht, den Freund nicht unverteidigt zu lassen.

Kurt, dadurch erst recht gereizt, höhnte weiter: »Ihr seid einander wert, du und dein Ehren-Bruno. Grünschnäbel! Kerls, die noch nicht hinter den Ohren trocken sind und dabei den großen Mund haben. Denkt ihr etwa, mir zu imponieren? Du mit deiner törichten Aufschneiderei aus Berlin! Ich lache über sowas! Es kommt mir vor, als erzähle mir ein kleiner Junge Räubergeschichten.«

»Mit Erlebnissen, wie du, kann ich allerdings nicht aufwarten«, meinte Eberhard, nun auch die Ruhe verlierend. »Ich sehne mich offengestanden auch nicht nach deinen Erfahrungen.«

»Willst wohl Moralpauken halten, Kleiner? Steht dir gut an. Weißt du, ich habe eine Geschichte von dir erfahren, die an den Wänden hinaufklettert! Was mir passiert ist, das ist einfach Pech; dafür kann man nichts. Aber deine Affäre, wie du dich hast einlappen lassen von einem Frauenzimmer, das ist Dummheit, haarsträubende Blamage. An deiner Stelle würde ich also fein stille sein!«

Eberhard blickte den Bruder verdutzt an. Er war überrumpelt durch die Wendung, die Kurt dem Streit gegeben hatte. An seiner wundesten Stelle fühlte er sich getroffen.

Aber noch mehr überraschte ihn der Ausdruck von Kurts Gesicht. Diese verzerrten Züge, diese glühenden Augen! – Das war ja Haß, eingefleischter Haß!

Es wallte etwas auf in dem Gemüte des Jüngeren, etwas Zurückgedrängtes. Die Empörung aus jener Zeit, wo er sich oft unter mühsam verschluckten Tränen geschworen hatte, Kurt einstmals alle Quälereien heimzuzahlen.

Aber wie er die Häßlichkeit dieses vom selbstverschuldeten Leiden entstellten Gesichtes sah, die Haltlosigkeit, wie jenem die Glieder schlotterten, wie sein Zorn zur Grimasse wurde, da fühlte er sich mit einem Male ganz ruhig.

Mit dem da sich zu messen, war keine Kunst, und Ehre dabei nicht zu holen. In diesem Augenblicke empfand er unverfälschtes Mitleid für den Unglücklichen.

*

Die Auseinandersetzung zwischen den Brüdern hatte einen unerwarteten Erfolg: Eberhard beschloß, seine im stillen längst gehegte Absicht nun wirklich auszuführen, er wollte Fanny Spänglein aufsuchen.

Nicht, daß er Verlangen gehabt hätte, das Liebesverhältnis zu erneuern! Die Erinnerung daran war ihm nur peinlich. Es war aus jener Periode seines Lebens etwas zurückgeblieben, das ihn drückte wie ein heimlicher Dorn im Fleisch. Er konnte das Gefühl einer großen Demütigung nicht los werden. Und wenn Kurt von »Dummheit« und »Blamage« gesprochen, so hatte er damit eigentlich nur dem Ausdruck verliehen, was Eberhard im Grunde selbst empfand.

Er wollte wenigstens die äußeren Spuren davon auszulöschen suchen. Fanny besaß ja noch den Ring, den er ihr geschenkt, die Briefe, die er ihr geschrieben hatte. Vor allem aber wollte er sich in den Augen des Mädchens selbst von der Lächerlichkeit befreien, die er auf sich geladen hatte. Sie sollte sehen, daß sie es nicht mehr mit dem dummen Jungen zu tun habe, den in ihre Netze zu ziehen ihr damals ein leichtes gewesen war.

Eberhard hatte nicht ohne Nutzen ein Jahr in Berlin zugebracht. Er war untergetaucht in das Leben der Millionenstadt und hatte sich aus der grauen kühlen Woge ein waches Bewußtsein und größere Nüchternheit mitgebracht. Vor nichts fürchtete er sich jetzt mehr als davor: für harmlos, unerfahren oder gar für gefühlvoll gehalten zu werden; lieber wollte er für hart, stolz und abgebrüht gelten.

Wie er sich Fanny gegenüber zu verhalten habe, wußte er ganz genau. Sie sollte mal etwas zu sehen bekommen von Überlegenheit. Erkennen sollte sie, daß er sie verachte. Er wollte sie auffordern, ihm ihren Preis zu nennen für Briefe und Ring, wollte ihr das Geld dann vor die Füße werfen.

Im voraus gehoben in der Erwartung des Strafgerichts, das er abhalten würde, und dabei doch etwas beunruhigt im Hinblick auf die Neuheit der Situation, begab er sich zunächst nach Fannys früherer Wohnung. Die Hausmeisterin hatte gewechselt, und es fiel schwer, festzustellen, wohin Fräulein Spänglein verzogen sei. Endlich gelang es ihm, ihre jetzige Adresse zu erkunden.

Während Eberhard die Treppe hinabschritt, dachte er darüber nach, wie er vor Jahresfrist mit liebebeflügeltem Schritt oftmals hier hinaufgeeilt war. Wenn damals jemand behauptet hätte: seine Geliebte sei nicht das treue, hingebungsvolle, reine Wesen, für das er sie hielt! Wenn ihm jemand den Gang vorausgesagt hatte, den er heute vorhatte! –

Es war gut, daß alles das anders gekommen, als er es gedacht! War er nicht sehr viel weiser und klüger jetzt als damals? –

Und weil er mit sich selbst zufrieden war, fühlte er sich mit einem Male auch sehr viel milder gestimmt gegen Fanny, und beschloß bei sich, das Strafgericht nicht härter ausfallen zu lassen als unbedingt notwendig war.

Fanny Spängleins neue Wohnung sollte sich in Schwabing befinden, in einer Gegend, die schon kaum noch Stadt zu nennen war. Eberhard wunderte sich, daß sie sich da hinaus gewendet habe; das entsprach eigentlich gar nicht ihren Gewohnheiten. Sie hatte ihm wiederholt erklärt, daß sie sich nichts daraus mache, »am Land« zu leben.

Die Straße war nur auf einer Seite mit villenartigen Häusern besetzt, jedes von einem kleinen Garten umgeben. Die Wohnungen machten einen behaglich traulichen Eindruck.

Eberhard ging auf der häuserleeren Seite an einer Wiese hin, auf der Wäsche gebleicht wurde. Zwischen Sandhaufen und Holzstößen spielten Kinder auf dem grünen Plane. Er hatte, ganz an die Stadt gebannt, noch gar nicht recht gemerkt, daß wieder mal Frühjahr war. Drüben die Ziersträucher in den Vorgärten zeigten mit ihrem Blütenschmuck, daß nun, wo der Menschen-Fasching vorüber war, die große Maskerade der Natur beginnen sollte.

Das kleinste, aber auch geschmackvollste Haus der ganzen Straße trug die Nummer, unter der ihm Fannys Wohnung bezeichnet worden war. Es lag in seinem niedlichen Garten etwas zurück, eine Veranda mit Glasdach und Stufen führte vom Parterre ins Freie. Vor dem Gartentore hielt eine Droschke. Der Kutscher war ganz in seine Zeitung vertieft, als wisse er, daß er sobald nicht in Anspruch genommen werden würde.

Also hier wohnte sie! – Eberhard staunte. Eine solche Wohnung kostete Geld. Wer mochte jetzt wohl der Kavalier sein, der ihr Miete und Schneiderrechnungen bezahlte? – Ob sie es noch mit dem Kahlköpfigen hielt, der damals seine Eifersucht erregt hatte? – Verrückte Zeiten! –

Er konnte sich nicht sofort entschließen, hineinzugehen. Es kamen ihm Zweifel und Bedenken. War er nicht etwa drauf und dran, sich von neuem lächerlich zu machen? –

Während er noch unschlüssig auf- und abschritt, bemerkte er an der Bewegung, die plötzlich in die Glieder des zeitungslesenden Kutschers kam, daß der Fahrgast sich nähere. Ob Fanny etwa selbst ausfahren wollte? Er war doch neugierig!

Hinter den Glasscheiben der Veranda sah er ein paar Menschen, hörte auch Stimmen von dort. Dann kam ein Mann die Stufen herab, in welchem Eberhard den eigenen Vater erkannte.

So gänzlich überrascht war Eberhard, daß er im Augenblicke den Zusammenhang gar nicht verstand. Wie kam sein Vater hierher? Was wollte er hier?

Während Herr Reimers langsam die Stufen hinabschritt, sich dabei den Überzieher zuknöpfte und die Handschuhe über die Finger zog, trat hinter ihm eine weibliche Gestalt heraus, die Eberhard nur zu gut kannte, unbedeckten Hauptes, im Schmucke ihres goldblonden Haares stand Fanny Spänglein da, über das ganze Gesicht lächelnd. Der Vater wandte sich noch einmal um und winkte ihr mit der Hand, ebenfalls lächelnd.

Dreißig Schritt höchstens von dem jungen Mann entfernt, jenseits der Straße, geschah das. Nichts entging ihm von ihrem Mienenspiel, ihren Bewegungen. Er sah ganz deutlich das Muster ihres Kleides: unauslöschlich prägte sich selbst solche Kleinigkeit seinem Gedächtnisse ein.

Der Vater trat aus der Gartentür, rief dem Kutscher etwas zu, sprang in die Droschke, die sich gleich darauf in Bewegung setzte. Fanny stand noch einen Augenblick auf der Veranda, dann wandte sie sich und verschwand im Hause.

Das hatte sich im Laufe weniger Minuten abgespielt: für den jungen Mann bedeutete es ein Ereignis, das mit dem Maße der Zeit überhaupt nicht gemessen werden konnte. Der Boden schien Eberhard unter den Füßen zu schwanken, ihm war's, als sei dicht vor ihm eine Flamme jäh aufgezüngelt, das Vorhandensein unterirdisch verderblicher Gewalten in seinem Dasein kündend.

Es kommt für jeden Mann einmal der Augenblick, wo er sich mit seinem Vater, sei es mit dem lebenden oder mit dem toten, auseinandersetzen muß: wo er das, was ihm bisher höchste Autorität gewesen, kritisieren, vielleicht als überlebt beiseiteschieben wird. Wohl dem Vater, wohl dem Sohne, wenn die Trennung keinen Bruch bedeutet, wenn die Autorität abgelöst wird von pietätvoller Schonung!

Schrecklich ist es, sich des eigenen Vaters schämen zu müssen. Es streitet gegen die Natur, es stellt die Weltordnung auf den Kopf, es legt die Axt an die Wurzel des Daseins, erniedrigt uns vor uns selbst, indem es die Quelle trübt, aus der unser Lebenslauf entsprungen ist.

Welch erschreckende Helle dieses Ereignis verbreitete! So furchtbar klar und nüchtern war alles, und alltäglich. Eine gewisse Komik sogar lag darin, daß der Vater, nachdem er den Sohn aus der Schlinge befreit hatte, nun selbst von der verbotenen Frucht naschte.

Aber das Lachen verging einem, wenn man der Sache auf den Grund ging. Dem jungen Manne graute, wie man erwachend vor einer Scheußlichkeit erschrickt, die man im Traume begangen hat.

Eberhard begriff mit einem Male mancherlei Erscheinungen: das Schicksal seines Bruders, Züge in seinem und seiner Schwester Charakter, Erlebnisse aus früher Jugend, manches, was er schon mit Kinderaugen kritisiert zu haben sich entsann, Worte und Taten des Vaters, das ganze Familienleben. Alles das bekam einen anderen Hintergrund, zeigte in dieser neuen häßlichen Beleuchtung ein gänzlich verändertes Gesicht.

Er wollte nicht weiter darüber nachgrübeln. Was nutzte überhaupt hier alle Erregung? Konnte damit etwas gutgemacht werden? Würde er seinen Vater ändern? Hatte es irgendwelchen Sinn, den Alten merken zu lassen, daß man ihn aufgefunden habe? Eine widerwärtige Szene wäre der einzige Erfolg gewesen, gegen die sich das Gefühl auflehnte.

Besser, man ließ alles wie es war, suchte als Philosoph darüber hinwegzukommen. Die Welt war nun mal voll von Perversität! Bei seinem Studium, im Kolleg, aus Büchern, am Seziertisch hatte er die traurige Wahrheit entdeckt; nun lehrte sie ihn das eben in noch krasserer Weise.

Heute war abermals ein gut Stück abgebröckelt von seinen Illusionen.

 


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