Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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XVIII

Seit einem Vierteljahre war Jutta Reimers in Berlin. Das, was Eberhard von ihrem Kommen Gutes erhofft, hatte sich alles erfüllt und einiges, was er nicht voraussehen konnte, noch darüber.

Die Weßlebensche Art übte starken Einfluß, wie auf Eberhard, so auch auf Jutta. Es war etwas durchaus Neues und Ungewohntes für jemanden, der von Jugend auf in der linden Atmosphäre sybaritischen Wohlbehagens gelebt hatte, Menschen kennenzulernen, deren ganzes Dasein aufgebaut schien auf den Begriffen von Arbeit, Selbstzucht und Pflicht. Kalt wie die Farben, trocken wie die Luft, arm wie der Boden war hier das Leben. Nüchterner die Menschen, sachlicher die Gedanken, härter die Köpfe, zäher der Sinn.

Jutta fühlte sich nicht abgestoßen, sie stand nur staunend davor, wie vor einer neuen Welt. Sie wunderte sich über Menschen, die so existieren konnten ohne die ästhetischen Genüsse, ohne den Schmuck des Lebens, die ihr von der Heimat her selbstverständlich waren. Sie wunderte sich auch über die gemessene Würde, in der man miteinander verkehrte, den zurückhaltenden Ton selbst in der Familie, die logische Art, wie man jede Frage unter die Lupe des Verstandes nahm. Gewiß, das war alles höchst trocken, steif und umständlich, aber es entbehrte nicht einer gewissen herben Größe.

Ähnlich wie vor den Menschen, stand Jutta zunächst wunderlich überrascht und benommen vor dieser Stadt. Für ihr schönheitsverwöhntes Auge gab es hier wenig Erfreuliches. Die hohen grauen Häuser, die langen, rechtwinklig aufeinanderstoßenden Straßen, das dunkle, träge fließende Wasser, die pedantisch abgezirkelten Anlagen, das ungemütliche Hetzen der Menschen in den Geschäftsteilen, alles, alles war ihrem Geschmack im Grunde zuwider. Und doch konnte man sich der Wucht des Gesamteindruckes nicht entziehen. Hier war Kraft und Fülle des Lebens, und darum Schönheit des Ganzen, die das Häßliche im einzelnen erträglich und verzeihlich erscheinen ließen.

Nachdem Jutta ein paar Wochen lang unter Eberhards Führung und von Agathen begleitet, geschaut hatte, was Berlin an Sehenswürdigkeiten bietet, und dabei, gegen ihren Willen beinahe, eingesehen hatte, daß es auch hier Werke der Kunst gab und Stätten vor allem, wo man um Kunst ringt, erklärte sie den beiden, daß sie nun vom Schauen genug habe. Und auf Eberhards Frage: womit sie fernerhin ihre Zeit auszufüllen gedenke, meinte sie: es mal wieder mit dem Malen versuchen zu wollen.

Das Zimmerchen, in welchem Jutta bei den Weßlebens wohnte, war nicht groß, gerade daß man eine Staffelei aufstellen konnte; aber es hatte wenigstens günstiges Licht. Auch lag ein gewisser Reiz darin für die Künstlerin, mal unter schwierigeren Verhältnissen, als den gewohnten, an die Arbeit zu gehen.

Es war Eberhard anfänglich bange gewesen, wie sich seine Schwester in den Ton des ganzen Hauses finden werde. Als er Jutta zum ersten Male im Weßlebenschen Familienkreise sah, wurde ihm erst klar, wie groß die Gegensätze seien. Es war ein Experiment, das er gewagt hatte. Wie würde sich Jutta, die im katholischen Bekenntnis aufgewachsene, mit dem ausgesprochenen Luthertum abfinden, das in dieser Familie jedem Brauch, jeder Ansicht seine Prägung aufgedrückt hatte.

Zwar, daß die Schwester mit dem alten Pfarrer gut verkommen werde, konnte Eberhard ruhig annehmen. Er hatte Vater Weßleben als einen Mann von milder Gesinnung kennengelernt; aber die Frau Pastorin war enger in ihren Anschauungen und minder zur Duldung eines fremden Bekenntnisses geneigt.

Frau Weßleben stammte aus einer Familie, die der Landeskirche mehrere Superintendenten, Konsistorialräte und sogar einen Hofprediger geschenkt hatte. Das war der ganze Stolz der guten Frau. Sie hielt sich als Mitglied einer so bevorzugten Rasse für befugt, ja geradezu für berufen, in ihrem Kreise über der Reinheit des Bekenntnisses zu wachen. In diesem einen Punkte war sie nicht mal ganz einverstanden mit ihrem Gatten; sie fand Weßleben viel zu tolerant der römischen Irrlehre gegenüber.

Und nun mußte sie es erleben, daß ihre Tochter eine katholische Schwägerin bekommen sollte. Schon daß Eberhard aus einer Mischehe stammte, war nicht nach Frau Weßlebens Sinne. Es kam ihr vor, als ob dadurch ihr eigener evangelisch reiner Stammbaum verdorben würde, als ob die verstorbenen Superintendenten, Konsistorialräte und der Hofprediger sich aus ihren Gräbern erheben müßten, um gegen solchen Abfall zu protestieren.

Zu diesem Gefühle des Abscheus stand in merkwürdigem Gegensatz die Befriedigung und innige Freude, welche diese Dame im Herzen ihres Herzens empfand, einmal über die Tatsache, daß ihre Tochter Braut war, und auch über den Bräutigam. Denn Eberhard besaß das Wohlgefallen der zukünftigen Schwiegermutter.

Jutta gegenüber verhielt sich Frau Weßleben zuwartend. Manches sprach in ihren Augen für das Mädchen; so vor allem, daß sie vom ersten Tage ab an den Morgen- und Abendandachten der Familie teilnahm. Vielleicht, so dachte die Predigersgattin, würde durch die Einwirkung der unverfälschten Lehre, welche die ärmste, in römischer Häresie befangene Seele hier zum ersten Male kennenlernte, ein Licht fallen in das Dunkel ihres Aberglaubens. Ja, die Dame würde es gern gesehen haben, wenn ihr Pastor in seinen Ansprachen, die er auf Grund des Bibelwortes an die Seinen hielt, recht scharf den protestantischen Standpunkt hervorgekehrt hätte; ein starkes Wörtlein gegen römische Anmaßung wäre ihr ganz am Platze erschienen, wenn man einmal solch eine Art Heidenkind unter sich hatte. Aber Pfarrer Weßleben war dafür nicht zu haben. Man müsse es römischen Priestern überlassen, mit unlauteren Mitteln Andersgläubige zu sich zu ziehen, erklärte er. Noch weiter trieb Martin, der zweite Sohn, die Toleranz. Er deutete seiner Mutter an: ein guter Katholik sei besser als ein zweifelhafter Konvertit, und man dürfe die Gastfreundschaft nicht dazu mißbrauchen, um jemanden an seinem Glauben irre zu machen.

Ein so laxes Zeugentum, eine so laue Betonung des Bekennergeistes war Frau Weßleben ein Greuel. Sie fühlte sich gekränkt in der Seele ihrer Vorfahren. Fürchterlich war es ihr, als sie eines Sonntages herausfand, daß Jutta den katholischen Gottesdienst besucht habe; am liebsten würde sie daraufhin ihre entweihte Wohnung auf irgendeine Weise von etwaigem Spuk und Unrat gesäubert haben, die ihr von dort aus eingeschleppt worden sein mochten. Beinahe wäre es darüber zu einer Verstimmung gekommen zwischen der Hausfrau und dem Gaste. Aber Jutta vermied es, dem Bruder zuliebe, sich zu einem Konfessionszwist hinreißen zu lassen. Sehr bald gelang es ihr, das Herz der bis auf diesen einen Punkt durchaus gutmütigen Frau zu versöhnen.

Es wurde im Weßlebenschen Kreise eifrig gesammelt und gearbeitet für einen Basar, der zugunsten der Heidenmission demnächst unter hoher Protektion stattfinden sollte. Agathe stickte und nähte schon seit Monaten dafür, und selbst Frau Weßleben strengte ihre, nicht mehr ganz geschmeidigen Finger zugunsten des frommen Werkes an.

Jutta, die anfangs eine ziemlich große Leinwand auf der Staffelei hatte, stellte das angefangene Bild beiseite und fing mit einem Male an, eine ganze Anzahl kleiner Bilder in Aquarell zu komponieren: Genre, Landschaft, Stilleben. Man fand die Sachen reizend und staunte vor allem die Schnelligkeit an, mit der ihr die Arbeit von den Händen flog. Das Staunen der Weßlebens wuchs, als sie zu diesen Bildern, deren sie wohl ein Dutzend in weniger als vierzehn Tagen zustande gebracht, nun auch selbst die Rahmen anfertigte. Sie schien alles zu können, jede Technik spielend zu beherrschen. Wie ein Wunder erschien das Entstehen solcher Werke aus dem Nichts für Leute, die mit der lebendigen Kunst noch kaum in Berührung gekommen waren. Als aber Jutta ihre kleine Ausstellung samt und sonders für den Basar zur Verfügung stellte, da war die Freude wirklich groß. Der Frau Pastorin kam im stillen der Gedanke – fast wie eine Ketzerei von ihr betrachtet – daß auch von katholischer Seite mal etwas Gutes kommen könne.

Juttas Bilder fanden auf dem Basar reißenden Absatz. Zwei davon wurden durch eine Hofdame sogar für die allerhöchste Protektorin des Vereines angekauft.

Jutta Reimers ward im Weßlebenschen Hause mehr und mehr zum Mittelpunkte des Interesses. Niemand, selbst die widerstrebende Frau Pastorin nicht, konnte sich der Liebenswürdigkeit des Gastes entziehen. Die Unterhaltung bei Tisch war belebter. Der alte Herr ließ sich gern von dem jungen Mädchen unterrichten über die herrschenden Anschauungen in der Kunstwelt, die, wie er staunend erfuhr, gar nicht so unvernünftig und frivol waren, wie sie ihm die Blätter, welche er las, dargestellt hatten. Die beiden Söhne, der Jurist und der Diakonus, kamen jetzt fast regelmäßig des Abends zu den Ihren; auch auf sie übte der außergewöhnliche Besuch im Hause begreifliche Anziehungskraft aus.

Juttas größte Verehrerin aber war und blieb Agathe. Ihre Begeisterung war so augenfällig, daß Eberhard anfing eifersüchtig zu werden. Er behauptete, für seine Braut überhaupt nicht zu existieren, wenn die Schwester in der Nähe sei.

Früh war Agathens erster Blick in das Zimmer neben dem ihren, ob Jutta gut geschlafen, ob sie irgendeinen Wunsch habe. Tagsüber, wenn Jutta arbeitete, war Agathe kaum von der Staffelei der Freundin wegzubringen. Jedes Wort von Jutta beglückte sie, eine Liebkosung machte sie selig. Für Juttas Ansichten, wenn diese sich mit den Herren unterhielt, trat Agathe unbedingt ein. Des Abends, sobald alles schlief, schlich sie sich an das Bett der Freundin und war überglücklich, wenn sie noch ein Stündchen mit der Angebeteten verplaudern durfte.

Eberhard trat darüber wirklich etwas in den Hintergrund.

Für ihn kam nun die Zeit, wo er alle Kräfte zusammennehmen mußte, auf die nahe bevorstehende Prüfung los. Seine Besuche waren gegen früher flüchtiger. Oft war er auch abgespannt; die rechte Bräutigamsstimmung kam nicht in ihm auf. Da blieb er lieber bei Büchern und Kollegheften auf seinem Junggesellenzimmer. So gar lange konnte es ja nicht mehr währen, daß es für ihn keine einsamen Abende mehr geben würde.

Nachdem Jutta die Bilder für den Basar vollendet hatte, faßte sie die Idee zu einer neuen Arbeit. Weihnachten stand in nicht allzu weiter Ferne. Sie plante eine besondere Überraschung für ihre Wirte. Pastor Weßleben hatte in einem seiner Kunstgespräche die Bemerkung fallen lassen: ihm scheine die Kunst dann am vollkommensten ihrem höheren Zwecke nachzukommen, wenn sie uns biblische Stoffe menschlich nahebringe. Dabei hatte er erwähnt, daß von allen neueren Bildern, die er kenne – er gab selbst zu, daß deren Zahl beschränkt sei – ihm am ergreifendsten erscheine ein Bild in der Nationalgalerie, welches die Auferweckung von Jairi Tochter darstelle.

Jutta hörte dem alten Herrn gern zu, obgleich die Ausdrücke, in denen er von Kunst sprach, ihrem Ohre etwas altmodisch klangen. Sie hegte für Vater Weßleben besondere Zuneigung. Sein edles, bleiches, vom Leiden verklärtes Angesicht entzückte ihren Künstlersinn, seine abgeschlossene Weltanschauung und milde Würde nötigten sie zur Bewunderung.

Sie hatte sich ausgedacht, das von ihm geliebte Bild zu kopieren und ihn damit zu Weihnachten zu überraschen.

Die Aufgabe war keine kleine. Denn das weit über Lebensgröße gemalte Original mußte, um ein Staffeleibild von erträglichem Umfange zu gewinnen, auf mindestens ein Fünfteil seines Umfanges zurückgeführt werden. Andererseits reizte gerade diese Arbeit, bei der man viel für Augenmaß und Technik profitieren konnte.

Jutta ging von da ab an den Tagen, wo kopiert werden durfte, schon des Morgens nach der Nationalgalerie. Nur Agathe wußte um das Geheimnis.

Die Überraschung am Weihnachtsfeste war groß. Das Bild beherrschte den ganzen, im übrigen äußerst schlichten Bescherungstisch. Juttas Einfall war das, was der alte Pastor einen »echten Herzensgedanken« nannte. Das Bild sollte fortan in seiner Studierstube hängen, auf dem besten Platze, wo sein Blick hinfiel, wenn er im Lehnstuhl saß.

*

In der Familie Weßleben, die einen so einheitlichen und geschlossenen Eindruck machte, gab es manche geheimen Gegensätze. Zwar trugen diese Menschen einen bestimmten, unverlöschbaren Typus als äußeren Stempel, aber dennoch stellte jedes einzelne Glied ein Wesen für sich dar, mit eigenen Fähigkeiten und besonderer Entwicklung, auseinanderstrebend wie die Äste eines Baumes, die zwar auch von gleicher Art und Bildung sind, nach einem ihnen innewohnenden Gesetze aber jeder für sich einer anderen Himmelsrichtung zuwächst.

Von den vier Geschwistern – zwei früh verstorbene lagen auf dem Dorffriedhof von Pudelsee – war der Missionar ein Mann nicht über den Durchschnitt begabt, einseitig, zur Schroffheit neigend, aber zähe, energisch und voll Unerschrockenheit; ein echter Norddeutscher. Für ihn gab es nur eine mögliche Weltanschauung; das war der Glaube der Kirche, in welcher er geboren war. Für den Glauben hätte er aber auch gern sein Leben gelassen. Er war einer von den Christen, denen es nicht' genügt, im stillen ihrer Überzeugung zu leben, die vielmehr von dem unwiderstehlichen Drange getrieben werden zum Bekennen und Zeugen vor der Öffentlichkeit. Solchen genügt die alltägliche Kleinarbeit im Weinberge nicht, sie dursten nach persönlicher Gefahr, wollen Qual und Not empfinden, um sich genug zu tun und sich vor Gott zu rechtfertigen.

Der älteste war der Mann nach dem Herzen der Mutter. »Mein Missionar« nannte sie ihn, während sie von Martin nur »der Diakonus« zu sagen pflegte. Otto aber war in ihren Augen eigentlich entartet, weil er, die Tradition der Familie durchbrechend, sich einem anderen als dem geistlichen Stande zugewendet hatte.

Der begabteste von den Brüdern war entschieden Otto. Sein scharfer Verstand und sein logisches Denken war ja das gewesen, was auf Eberhard, als sie sich kennenlernten, den stärksten Eindruck gemacht hatte. Aber es entging Eberhard nicht, daß der Freund ein anderer sei, wenn im Kreise der Seinen, ein anderer, wenn man ihn allein hatte. Daheim schien ihn eine gewisse Rücksicht zu binden, es war, als wage er es nicht, sich frei zu geben, ganz aus sich herauszugehen.

Mit der Zeit begann Eberhard diese Erscheinung zu begreifen, obgleich Otto ihm ein wirkliches Geständnis nicht ablegte. Der Freund stand auf dem Boden einer andern Weltanschauung als die Seinen, hatte sich emanzipiert von dem Glauben, der dort gehütet wurde als das kostbarste Lebensgut. Er wollte die Eltern seinen inneren Abfall nicht merken lassen. Als ehrlicher Mensch jedoch litt er schwer unter dem Heuchelnmüssen. Schamhaft, wie im Grunde solche äußerlich selbständige Naturen oft sind, brachte er es nicht über sich, irgend jemandem sich anzuvertrauen. Otto scheute weniger das Geständnis – denn einer eigentlichen Schuld war er sich nicht bewußt –, aber er fürchtete sich vor den Bekehrungsversuchen, die dann mit ihm angestellt werden würden. Auch wußte er, wie schmerzlich die Erkenntnis, einen Abtrünnigen in der Familie zu haben, auf seine Eltern wirken müsse. So nahm er die ihm selbst innig verhaßte Rolle auf sich, äußerlich umschlungen zu halten, was ihm im Innersten längst entfremdet war. Aus Pietät mußte er Pietät heucheln.

Die komplizierteste Natur von den dreien war Martin. Er hatte sich spät entwickelt, das Lernen fiel ihm sauer; die Examina hatte er stets nur unter Angstschweiß bestanden. Obgleich Geistlicher, wurde ihm das öffentliche Sprechen ungeheuer schwer; er mußte jede seiner Reden wörtlich memorieren. Auch im alltäglichen Leben war es ihm nicht leicht gemacht, seine Ansichten frei und gefällig zu äußern.

Er glaubte, in einem ganz besonderen persönlichen Verhältnis zu seinem Erlöser zu stehen, war ein großer Beter. Das innerste Wesen seines Glaubens hielt sich nicht frei von einer gewissen Mystik. In schwierigen Fällen, wenn ihn die Vernunft im Stiche ließ, pflegte Martin Weßleben die Bibel zu Rate zu ziehen; diejenige Stelle, auf die beim Aufschlagen zuerst sein Blick fiel, mußte ihm als Orakel dienen.

Unter Menschen hatte der junge Theologe leicht etwas Scheues; ehe er auftaute, dauerte es lange. Innerlich erlebte er vieles, was nie an die Oberfläche seines Wesens kam. Auf Martin lastete die Armatur von Zurückhaltung, Korrektheit und Würde, die in seiner Familie zur Tradition gehörte, am schwersten. Er empfand am tiefsten und unmittelbarsten, fühlte das Bedürfnis, sich hinzugeben und war am wenigsten gemacht, auszudrücken, was er empfand, sich von der Last zu befreien, die er unsichtbar mit sich herumschleppte.

Die Liebe, mit der er seinen Glauben umklammert hielt, hatte etwas an sich von weiblichem Hingabebedürfnis. Er haßte und fürchtete die Weltlichkeit, suchte Rettung in einem mönchischen Einsamkeitsideal. Glaubenszweifel, wie sein Bruder Otto hegte, hatte er nie gehabt, aber ihn quälten andere Nöte im Gemüt. Und auch dieser Mann war zu schamhaft, um vor sich selbst Rettung zu suchen in der Mitteilung an andere. Den Seinen vertraute er von seinen innersten Regungen nichts an.

So erfuhr denn auch niemand etwas von dem Sturm, welcher dieses Gemüt in letzter Zeit von Grund aus aufwühlte. Niemand sah dem stillen Menschen an, daß seine Seele in einen Wirbel hineingerissen war von Hoffen und Verzagen, Glücksgefühl, Pein und Zweifel; mit einem Worte, daß Martin hoffnungslos liebte.

Die Frauen waren so gut wie gar nicht in sein Leben getreten. Er kannte eigentlich nur Mutter und Schwester. Instinktiv hielt er sich dem andern Geschlechte fern, das ihm, weil er es nicht kannte, unheimlich dünkte. Seine Phantasie war rein geblieben wie sein Wandel.

Und nun auf einmal trat ein Wesen in seinen Gesichtskreis, das ihm durch das Neue seiner Art, durch das Außerordentliche seiner Erscheinung und seiner Gaben zunächst völlig den Atem benahm. Staunend stand er da und vermochte nur zu schauen. Und als dann Jutta, bestrebt, gegen ihn wie gegen jedes andere Mitglied der Familie freundlich zu sein, allmählich das Fremde und Erschreckende für ihn verlor, da wirkte das Verheißungsvolle, Sehnsuchtweckende, geheimnisvoll Einladende, was das Wesen der Jungfrau für den Jüngling hat, um so berauschender auf den unverdorbenen jungen Menschen.

Ein Gefühl zog bei ihm ein, das ihn durch seine Kraft und Ausschließlichkeit erschreckte, ihm wie Sünde erschien und Abfall von den bisherigen Idealen. Er kämpfte, wie ein Mensch gegen eine überlegene Macht kämpft, verzweifelt; trieb sich den Stachel, den er entfernen wollte, nur immer tiefer ins Herz.

Nicht sanft und freundlich hatte ihn die Liebe angefaßt; sie nahm von ihm Besitz wie eine siegreiche Armee, der sich alles unterwerfen muß. Er lernte das unerhörte Gefühl kennen des Sich-Verlierens an eine Leidenschaft. Menschliche und göttliche Autorität, alles, was uns bisher lieb und gewohnt gewesen, versinkt davor. Sie macht den Menschen sich selbst fremd, bringt ihn dazu, Dinge zu tun und Gedanken zu denken, die seiner ganzen Sinnesart entgegengesetzt sind. Sie duldet keine Götter kleinerer Art neben sich. Und dagegen gibt es kein Sträuben. Zerstreuungen, Arbeit, Gebet helfen nichts; unentrinnbar ist der liebende Mensch dieser Herrscherin verfallen. Glücklich der, dem in solchem Zustande Hoffnung winkt, und sei sie noch so schwach. Aber verzweifelt ist die Lage des Unglücklichen, der sich hoffnungslos nach Gegenliebe sehnt.

Martin Weßleben wußte, daß seine Gefühle niemals Erwiderung finden konnten. Juttas Konfession mußte ihm, dem im orthodox protestantischen Pfarrhause aufgewachsenen Diener des Evangeliums, als ein unüberwindliches Hindernis erscheinen für ihre äußere Vereinigung. Aber darüber hinaus fühlte er deutlich, daß zwischen Juttas Natur und der seinen eine nicht zu überbrückende Kluft bestehe, tiefer und bedeutungsvoller als der Unterschied der Konfessionen.

Eine qualvolle Ahnung sagte ihm außerdem, wie sie manchmal arglosen Gemütern deutlicher wird als den gewitzigten, daß das Herz des Mädchens nicht frei sei.

 


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