Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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XXVI

Jutta hatte den Sommer in der Schweiz zugebracht. Ohne festen Reiseplan war sie mit ihrer Begleiterin, Frau Hölzl, von einem schönen Orte zum anderen gezogen. Ihre Malerei hatte sie begleitet. Eine Anzahl Skizzen waren entstanden. Sie hoffte, im kommenden Winter diese Studien zu ein oder dem anderen größeren Bilde verwerten zu können.

Am Schlusse der Saison war sie des Herumziehens, der Hotelkost und des Pensionslebens herzlich überdrüssig. Gründlich satt hatte sie auch die Zudringlichkeit der Männer, vor der sie sich durch Frau Hölzl nicht im geringsten geschützt sah. Ein Deutscher hatte sie heiraten wollen, und ein Franzose war ihr vier Wochen lang nachgereist.

Die alte Geschichte! Es schien nun mal ihr Geschick zu sein, Hoffnungen beim Manne zu erwecken, die sie nicht erfüllen konnte und wollte. Jutta war jetzt soweit, daß sie dergleichen Erfahrungen nicht mehr tiefer beunruhigten; aber lästig war's doch, und es störte einen in der Freiheit der Bewegung.

In Florenz, wohin sie zu Beginn des Winters reiste, ging sie nicht ins Hotel, auch eine der fashionablen Pensionen vermied sie – es würde ja dort sehr bald dieselbe Sache gewesen sein –, sondern sie zog zu ein paar alten Schweizer Fräuleins, von denen sie durch Zufall gehört hatte. Dort wohnte sie mit Frau Hölzl ganz allein. Hier würde sie Ruhe finden zur Arbeit.

Zunächst aber wurde es nichts mit dem Arbeiten. Denn wie so vielen, hatte auch ihr's die Arnostadt sehr bald angetan. Jutta kam vor Schauen und Staunen und wieder Schauen nicht zum Schaffen, überwältigt von dem Zuviel der Schönheit, welche an dieser einzigen Stätte von Natur angehäuft und von Menschenhand vermehrt ist.

Schließlich, als ihre Augen doch müde geworden waren vom Schauen, und ihre vibrierenden Nerven gebieterisch nach Ruhe verlangten, zog sie sich zurück vom Schwelgen. Zum Genießen allein war sie doch nicht hierher gekommen. Sich selbst hatte sie den Beweis liefern wollen, daß sie etwas könne. Daß sie Künstlerin sei von Gottes Gnaden, daß sie vor allem ein freier Mensch sei, der nach dem Höchsten greifen durfte. Darum hatte sie sich losgemacht vom Einflusse der Familie, hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen, sich auf eigene Füße gestellt.

Aber es wollte nicht recht gehen mit dem Schaffen. Es fehlte die Stimmung. Wie kam das nur? Voriges Jahr in Berlin, in der nüchternsten Umgebung, da war's gegangen, da hatte sie Inspiration gehabt. Und hier in der schönsten Stadt der Welt, umgeben von erhabenen Vorbildern, versagte ihr der Mut.

Was nützte einem nun die Freiheit, wenn man sie nicht zu gebrauchen verstand? Was die Unabhängigkeit von der Familie, wenn sie einen nur fühlen ließ, wie einsam man sei? – Menschen hätte sie haben mögen, Menschen, nur um der Menschen willen; bei ihnen zu sein, unter ihnen leben zu dürfen! –

Was hatte sie denn jetzt? Sich selbst! Stolz durfte sie sich sagen, daß das etwas sei. Aber doch war es zuwenig zum Glück.

Früher hatte Jutta nicht gewußt, daß es Grenzen gäbe; hatte es nicht wissen wollen. Furchtbarste Demütigung wäre es ihr erschienen, sich einzugestehen, daß man aus eigener Kraft nicht alles vermöge. Jetzt mußte sie widerwillig die Grenzen erkennen, die ihr das Geschlecht, ihre Anlagen und die eigenen Taten steckten.

Man hatte, wenn man einsam und still lebte, wie sie jetzt, soviel Zeit zum Nachdenken. Da erwachten ganz wunderliche Erinnerungen; man sah sich in der Vergangenheit wie eine fremde Person, erlebte das Leben noch einmal, aber umgedeutet, verwandelt, durchschienen von Reflexion und Selbstkritik. Man sah, wie man sich durch sein eigenes Streben, durch Tun und Nichttun, durch Wünsche und bloße Gedanken den Weg endgültig festgelegt hatte, auf dem man jetzt schritt.

Erquicklich waren solche Gedanken nicht; und um sie loszuwerden, stürzte sich Jutta von neuem mit Eifer in die Arbeit. Wenn sie vor der Staffelei stand, war ihr doch am wohlsten. Dann gingen die Stunden hin, man wußte nicht wie! Die grauen Gespenster der Unzufriedenheit und Selbstkritik konnten nicht aufkommen gegen das Hochgefühl, mit dem einen das eigene Schaffen erfüllte. Was sie hier leistete, das konnte ihr niemand nehmen; hier war sie souverän. Was sie von Einfällen auf die Leinwand bannte, das waren ihre Kinder, Selbstgespräche in Farben, die niemanden etwas angingen.

Nun wollte sie mal etwas Großes, Originelles schaffen, ganz aus der eigensten Anschauung heraus. Viel zu sehr war sie bisher abhängig gewesen von Geschmack und Rat anderer. Durch fremde Augen hatte sie gesehen, unter fremdem Einflusse gestanden all die Zeit über.

Sie bestellte sich eine große Leinwand. Eine Alpenlandschaft sollte es werden: Fels, Himmel, Wolken, einige Baumriesen, sonst wenig Vegetation, gar keine menschliche Staffage. Die Natur sollte ihre großen, einfachen, herben Linien enthüllen, so wie Jutta während des vorigen Sommers sie in glücklichen Augenblicken gesehen hatte.

Die Grundlinien waren schnell hingeworfen; dabei halfen ihr die Farbenskizzen. Die Beleuchtung, die Lüfte machten ihr jedoch schon Schwierigkeiten. Ihr schwebte ein ganz bestimmtes, gedämpftes Licht vor, wie es etwa kurz vor Ausbruch eines Gewitters herrscht, wo alle Formen näher, größer, bedeutsamer und unheimlicher erscheinen.

Ganz deutlich sah die Künstlerin ihr Bild vor sich; aber wenn sie es auf die Leinwand brachte, wie matt und klein wirkte da, was ihrer Vorstellung so groß und packend erschienen war.

Wochen hindurch quälte sie sich mit dem Bilde, immer wieder ändernd und übermalend. Eine Art Verzweiflung packte sie davor. Es mußte werden! Furchtbar wär's gewesen, wenn sie hier versagt hätte! Es wäre dem Geständnis gleichgekommen, daß ihr Malen Stümperei sei.

Als sie schließlich den Pinsel weglegte, sich sagend: nun soll es genug sein, besser würde es doch nicht werden, und sie sich nun ihr Werk betrachtete, als sei es nicht von ihr, sondern von einem fremden Menschen gemalt, da kam's ihr vor, als ob etwas darin fehle, etwas Wichtiges: sie konnte es nicht bezeichnen, was.

Was sie hier gegeben hatte, konnte schließlich jeder geben, wer Anlagen hatte, Geschmack und Maltechnik. Um eine konventionelle Arbeit zu liefern, welche die Zensur »brav« verdiente, lohnte es sich für sie doch wahrlich nicht eines solchen Aufwandes von Zeit.

Ihrem neuesten Werke fehlte die Seele. Es war ein Geschöpf des Verstandes, empfangen ohne Begeisterung, gezeugt ohne Liebe. Darum war es verfehlt. Jetzt endlich begriff sie es. Sie hatte dabei an niemanden denken wollen, hatte versucht, unpersönlich zu schaffen, unabhängig sein wollen von jedem Einfluß. Ja selbst die Erinnerung hatte sie aus ihrem Herzen zu bannen getrachtet, damit sie ihr das Konzept nicht verderbe.

Und nun war ein verpfuschtes Werk daraus geworden.

Sie haßte dieses Bild. Es bedeutete Demütigung für sie. Es predigte ihr deutlicher als irgendetwas ihre Grenzen. Es sagte ihr, daß es ein vager Traum gewesen, daß sie Unmögliches gewollt habe, als sie sich frei gemacht, sich ganz auf sich selbst gestellt hatte. Was nützte ihr die äußere Unabhängigkeit nun? Es gab eine Gebundenheit, die mehr bedeutete als alle Freiheit, wenn es für den Stolz auch eine harte Probe war, sich das einzugestehen.

Unser Herz ist unser Schicksal; ihr Herz aber war nicht frei.

*

Eine große Freude half Jutta über die Enttäuschung der letzten Zeit hinweg; Eberhard und Agathe schrieben ihr von Venedig aus, wo sie sich auf der Hochzeitsreise befanden, daß sie nach kurzem Ausfluge über Verona, Mailand, Genua nach Florenz zu kommen gedächten, um dort einige Wochen mit ihr zu verbringen.

Das war nun wirklich etwas, worauf man sich freuen konnte! Ihren Bruder wiedersehen als jungen Ehemann. – Sie konnte sich ihn gar nicht denken in dieser Eigenschaft. Und Agathe nun ihre Schwägerin! Schließlich waren die beiden doch diejenigen Menschen, die ihr am nächsten standen auf der Welt.

Man würde eine herrliche Zeit zusammen verleben. Eben brach ja hier das Frühjahr an. Ausflüge würden sie unternehmen in die Umgegend, die Jutta selbst auch noch wenig kannte. In der Stadt konnte sie ihnen Führerin sein.

Kindisch geradezu freute sie sich. Wie ehemals auf die Ferien zu, zählte sie jetzt die Tage, die noch bis zum Kommen der Geschwister vergehen mußten.

Jutta nahm für das Paar Quartier in einem Hotel, das ihrer Wohnung schräg gegenüberlag. Zur angegebenen Zeit fand sie sich auf dem Bahnhofe ein, um Eberhard und seine Frau zu empfangen. Sie hatte Blumen mit für die Schwägerin.

Wie sie wohl ausschauen würde, die kleine Agathe? Wenn man dachte: dieses halbe Kind! – Und nun Frau, die Frau ihres Bruders.

Agathe sah gut aus. Viel mochte dazu auch die nette Reisetoilette beitragen. Sie war ganz Dame.

Ihren Bruder fand Jutta männlicher geworden. In dem letzten Jahre hatten sich für ihn ja auch die wichtigsten Dinge vollzogen. Er wußte jetzt, wo er hingehörte, nannte Beruf, Gattin und Heim sein eigen.

Eberhard hatte, bald nachdem er im vorigen Frühjahre sein Examen bestanden, eine Stelle als Assistenzarzt angenommen, die ihm durch einen seiner Lehrer, welcher dem jungen, strebsamen Mediziner wohlwollte, verschafft worden war. Da er die Stellung um keinen Preis einbüßen wollte, hatte er für seine Hochzeitsreise nur sechs Wochen Urlaub genommen, während deren er vertreten wurde. Vier Wochen davon waren schon verstrichen, man hatte also knapp vierzehn Tage vor sich, die sollten gründlich ausgenutzt werden, wie Eberhard gleich nach der Ankunft in Florenz der Schwester verkündete.

Nun kamen schöne Tage. Das junge Paar überließ Jutta die Führung. Eberhard war noch nicht in Florenz gewesen; Agathe natürlich erst recht nicht. Für sie war die Hochzeitsreise überhaupt die erste Reise. Beide zeigten sich des Italienischen nicht mächtig, das sich Jutta im Laufe des Winters bis zu leidlicher Geläufigkeit angeeignet hatte.

Zunächst zeigte Jutta den Geschwistern die Stadt. Paläste, Kirchen, öffentliche Gebäude, eine Anzahl Bildergalerien wurden besucht. Doch gab man das bald als ermüdend auf. Sie waren ehrlich genug, Interessen nicht zu erheucheln, die ihnen nun einmal nicht eigen waren. Man schenkte sich also das übrige, unternahm fortan nur noch Ausflüge ins Freie.

Eberhard und Agathe stellten nicht das junge Paar auf Hochzeitsreise dar, wie es nur zu oft Gegenstand des Schreckens ist und des Spottes der Mitreisenden. Sie hatten Freude und Teilnahme an anderen, nicht nur an sich; benahmen sich überhaupt wie vernünftige Leute.

Am meisten staunte Jutta über ihre Schwägerin. Die stand so fest und sicher in ihrer Rolle der Gattin, als sei sie nicht seit vier Wochen, sondern seit manchem Jahre schon verheiratet. Ohne jemals in Schroffheit zu verfallen oder in Eigensinn, behauptete sie ihrem Manne gegenüber Stellung, Eigenart und selbständiges Urteil. Das Verheiratetsein hatte ihr Wesen nicht aus dem Geleise geworfen, höchstens bestärkte es sie in dem, was sie schon vordem gewesen, brachte ihre gesunde, heitere, selbstsichere Natur noch deutlicher und klarer heraus.

Eberhard hatte gut gewählt. Er war einer der wenigen Glücklichen, die in dieser fraglichsten aller Lotterien das rechte Los ziehen. Für diese beiden brauchte einem nicht bange zu sein.

Jutta hatte das richtige Empfinden, wenn ihr an ihrem Bruder die Männlichkeit als etwas Neues auffiel. Ein Weib nehmen bedeutet für einen Mann nicht minder eine einschneidende Wendung als für die Frau, einem Manne angetraut werden. Von dem Augenblicke, wo wir uns unseres Geschlechtes bewußt geworden, klafft in unserer Natur eine schmerzlich empfundene Lücke, die nur durch ein Weib ausgefüllt werden kann. Vorher unfertig, werden wir durch dieses unscheinbare Band erst zu dem ergänzt, was wir sein sollen.

Eberhard war kein Neuling in der Liebe, als er in die Ehe trat. Aber die Abenteuer seiner Jünglingszeit waren für ihn längst zu anderen, abgestreiften Hüllen herabgesunken. Tiefer angefressen war seine Natur davon nicht worden. Gegen Rückfall war er gefeit; denn wer einmal echte Steine erkennen gelernt hat, läßt sich nicht wieder betrügen vom erborgten Glanz des Similidiamanten.

Er wußte jetzt, daß ihm gänzlich unverdient ein großes Glück in den Schoß gefallen sei. Nicht ahnen hatte er können die Fülle von Liebe, Güte, Seelenanmut und Herzensreichtum, der sich hinter Agathens Schlichtheit des äußeren Menschen verbarg. Er stand noch immer davor überwältigt wie vor einem Wunder.

Agathe, seine Braut, und Agathe, seine Frau, das waren für ihn zwei grundverschiedene Wesen. Wie nach einem einzigen warmen Regen im Frühling, der die wartende Natur entzaubert, waren mit einem Male bei ihr über Nacht tausend Blüten aufgebrochen, und tausend andere standen als hoffnungsvolle Knospen da.

Was würde da alles noch werden? Daß das innerste Wesen der Frau Wandlungsfähigkeit ist, hatte er nicht gewußt, daß sie wie Schatzkästlein sind mit unzähligen verborgenen Fächern, auch nicht. Jeder kann sie schließlich erbrechen, aber nur der wird zu ihren innersten, kostbarsten Geheimnissen vordringen, dem sie selbst den Schlüssel in die Hand drücken aus freiem Willen.

Das war ja sein Glück, sein Stolz, daß sie alle ihre Schätze aufbewahrt hatte für ihn, damit er sie fände. Nun segnete er die jungfräuliche Spröde, die den eigentlichen Kern ihres Wesens umhegte wie ein Mantel von Stahl. Alles hatte sie aufgespart für ihn, nicht ein Atom ihrer ursprünglichen Liebeskraft war vergeudet.

Aber nun, wo der gekommen, den ihr Herz als den Rechten erkannt hatte, verwandelten sich die Stacheln in Rosen. Für ihn blühten sie, ihm erschlossen sich alle diese Kelche, ihm spendeten sie den feinen Duft, mit dem ihre Natur bisher haushälterisch umgegangen war, ihm brachte sie freudig das große Opfer der Schamhaftigkeit.

Als Junggeselle hatte Eberhard nicht gerade hoch von der Ehe gedacht. Jetzt erst fing er an zu begreifen, was es heiße, ein Leben für alle Zeiten mit dem seinen verbunden zu haben. Das war eine Verdoppelung aller Fähigkeiten und Möglichkeiten. Einen Menschen ganz sein eigen nennen und ihm zu eigen zu sein aus beiderseitig freiem Entschluß! Einen Freund besitzen im höchsten Sinne! Und dieses Verhältnis besiegeln dürfen durch die natürlichsten Vertraulichkeiten, die es zwischen zwei Wesen geben konnte! – Es war das wohl die höchste Betätigung der Menschlichkeit, die uns beschieden war auf der Welt! –

Als Arzt hatte er die Frauen kennengelernt, und nicht gerade von der erhabenen Seite. Eine Zeitlang war er in bezug auf die Weiber geradezu Zyniker gewesen. Wie mußte er auch darin umlernen. Am Seziertisch, in der Klinik, bei den traurigen Erfahrungen der Praxis ging einem manche Erkenntnis auf, aber Seelenkunde lernte man da nicht. Die letzten Geheimnisse von der Natur des Menschen lernte man nur durch das liebende Weib.

Wenn man das gewonnen hatte, dieses Höchste, dann besaß man einen unversieglichen Born der Labung. Die Früchte dieses Baumes schienen sich durch geheimnisvolle Kraft zu ergänzen. Für jede, die man pflückte, wuchsen zwei neue nach. Und sie waren von stets wechselnder Farbe und mannigfaltigem Geschmack, aber immer frisch.

Eberhard stand noch ganz am Anfange der Erfahrungen, hatte nur die ersten Seiten des großen Buches »Liebe« gelesen, aber mit Schauern der Ehrfurcht ahnte er, daß er sein Leben lang daran lesen und niemals zur letzten Seite kommen würde.

*

Eberhard war nicht so sehr durch seine junge Frau in Anspruch genommen, daß er sich nicht auch um andere Menschen gekümmert hätte. Er freute sich über seine Schwester. Es kam ihm vor, als sei sie in den letzten Jahren milder geworden, liebenswürdiger, ohne etwas von ihrer Eigenart eingebüßt zu haben. Wie ihre reifende Erscheinung, so schien ihm ihr ganzes Wesen nunmehr in Blüte zu stehen.

Sein alter brüderlicher Stolz war erwacht. Er sprach, wenn er mit Agathe allein war, gern über Jutta in Ausdrücken der Bewunderung. Agathe sagte nicht viel dazu. Das fiel ihm mit der Zeit auf. Wäre es denkbar, daß sie eifersüchtig sei? –

Agathe empfand der Schwester ihres Mannes gegenüber etwas ganz anderes als Eifersucht. Sie sah, daß Jutta sich wohl verändert habe, seit man sich nicht gesehen. Aber diese Veränderung mußte mit Sorge erfüllen. Das Mädchen hatte eine Enttäuschung erlebt, an ihr zehrte eine unerfüllte Hoffnung, eine Sehnsucht, etwas, das sie vor fremden Augen verbarg. Die liebenswürdige Milde, die sie zur Schau trug, ihre Gelassenheit und Ruhe waren erkünstelt, vielleicht mit Resignation verwandt. Sie übertäubte einen Kummer auf diese Weise.

Eberhard stutzte, als ihm Agathe ihre Ansicht über Jutta frank heraus sagte. Er hatte seine kleine Frau schon mehr als einmal als erstaunlich gute Beobachterin kennengelernt. Hinter dem frischen Eindrucke von Agathes Urteil sah er sich seine Schwester genauer an.

Da fiel ihm allerdings dies und das auf, was er anfangs nicht beobachtet hatte. War es Nervosität? Gewisse Züge verrieten dem Blicke des Arztes innere Erregung. Ihr Auge gefiel ihm nicht und die Art, wie sie leicht die Farben wechselte. Mehr jedoch konnte er nicht sehen. Hatte sie einen Kummer, wie Agathe glaubte, dann verstand sie es meisterhaft, sich zusammenzunehmen.

Er gedachte eines halben Geständnisses, das Jutta ihm einst gemacht hatte in jener kritischen Periode, als sie im Begriffe war, ihre Verlobung mit Bruno Knorrig aufzulösen. Sollte es diese alte Geschichte etwa sein? – Sie hatte damals keinen Namen genannt. Die Sache war seinem Gedächtnisse so gut wie entschwunden gewesen. Jetzt brachten ihn die Umstände wieder darauf.

Er glaubte ein Recht zu haben, die Wahrheit festzustellen. Als Bruder bot er seine Hilfe, seinen Rat an.

Aber Jutta ließ ihn nicht ausreden. Ihre Erregung bestätigte ihm die Richtigkeit von Agathes Vermutungen. Wie gern hätte er geholfen. Aber er mußte seiner Frau auch darin recht geben, wenn sie sagte, daß man für Jutta nichts tun könne und daß in Angelegenheiten des Herzens sich selbst die nächsten, liebsten Menschen nicht einmischen dürften; da stehe ein jeder für sich selbst. –

Das junge Paar reiste wieder ab. Vorher hatte Eberhard wenigstens so viel bei seiner Schwester erreicht, daß sie in Aussicht stellte, nach Berlin zu kommen und einige Zeit bei den Geschwistern zu leben, sobald man erst in seiner Häuslichkeit ein wenig eingerichtet sein würde.

Für Jutta aber kam nach diesem Abschied ein bitterer Rückschlag. Das Zusammensein mit den Geschwistern, auf das sie sich so sehr gefreut, hatte sie unendliche Kräfte gekostet. Nichts strengt eine vornehme Natur mehr an, als Verstellung üben zu müssen. Die beiden hatten ihren wahren Seelenzustand nicht durchschauen sollen. Sie gönnte ihnen ja ihr Glück, war nicht neidisch. Und doch, und doch! – Mußte ihr's denn so vor Augen geführt werden, was sein konnte und was ihr niemals zuteil werden würde! –

Sie hatten es ihr so recht vorgelebt, welche Wunder die Liebe wirkt, daß sie des Lebens wahres Element ist. Ohne dem glich das Dasein einem blutarmen Körper, der nur vegetiert und eine schwächliche Nachahmung darstellt des echten, starken, freudigen Lebens.

Gerade daß sich Agathe und Eberhard in ihrer Gegenwart mit Zärtlichkeiten zurückgehalten hatten – was Jutta nicht entgangen war –, bedeutete doppelte Demütigung. Darin hatte unausgesprochen gelegen, daß man um ihren Zustand wisse, daß man sie bemitleide, sie als der Schonung bedürftig betrachte.

Schrecklich war das! Sah man ihr's an der Stirn an, daß sie liebte? – Wodurch verriet sie sich denn? –

Sie hatte doch ihre Gefühle so tief in sich vergraben! Hatte schwere Steine auf dieses Grab gewälzt: Haß und Verachtung. Hatte den Stolz als Wächter davorgestellt.

Es war umsonst gewesen; wie sie sich selbst eingestehen mußte. Das Herz ist keine Tafel, von der man die Eindrücke leicht wegwischen kann. Gewisse Erlebnisse lassen dort so tiefe Spuren zurück, daß sie nur mit dem Stillstehen des Ganzen verschwinden.

Gefühle von wirklicher Kraft und Tiefe sind unsterblich. Man kann sie weder unterdrücken noch heimschicken, ebenso wie man sie nicht rufen kann. Sie kommen und gehen wie Jugend und Alter, wie Sommer und Winter, nach großen Gesetzen, die wir nicht beherrschen.

 


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