Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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XV

Der Erfolg, der so lange auf sich hatte warten lassen, war mit einem Male über Nacht zu Xaver Pangor gekommen.

Es hatte sich nämlich mit der Zeit in den tonangebenden Kreisen der Künstlerschaft herumgesprochen, daß da ein vergessener Kollege sei, der seine besonderen Wege gehe, der seine eigene Technik habe und ungewöhnliche Ziele verfolge. Frühere Mitschüler von der Akademie entsannen sich dieses wunderbaren Heiligen, der sich's in den Kopf gesetzt hatte, alle Eselsbrücken moderner Bildhauertechnik zu verschmähen. Neugier trieb die Leute in Pangors Atelier. Ein Händler, der Nase hatte für das, was auf dem Wege war, Mode zu werden, kaufte ein paar Arbeiten von ihm an und stellte sie aus. Der Herausgeber einer angesehenen Kunstzeitschrift ließ Aufnahmen davon machen und publizierte sie. Ein Kritiker, der das Gras wachsen hörte, schrieb Artikel über Xaver Pangor, in welchen er sich als Entdecker dieses neuen Sternes aufspielte. Ein anderer Kritiker, der, weil er der entgegengesetzten Clique angehörte, prinzipiell alles befehdete, was jener schrieb, erließ eine geharnischte Entgegnung. Kurz, der Name »Xaver Pangor« kam nicht mehr zur Ruhe. Es war unter den Eingeweihten Mode geworden, von ihm zu sprechen. Er gehörte fortan zu den Persönlichkeiten, die nicht mehr totgeschwiegen werden konnten.

Xaver selbst lächelte über den Kampf, der mit einem Male um seine Person entstanden war. Er hatte sich früher nicht um die öffentliche Meinung groß gekümmert; jetzt, wo er die Kinderschuhe ausgetreten und schon eine ganze Strecke Wegs selbständig vorangeschritten war, konnte sie ihn erst recht nicht beeinflussen oder gar beirren in seinem Schaffen.

Aber jemand war, der sich über seinen Erfolg innig freute: Lieschen. Es tat ihrem Herzen doch wohl, ihren Freund nun endlich auch von der Öffentlichkeit anerkannt zu sehen.

Das Mißgeschick wollte, daß Lieschen gerade in jener Zeit ans Bett gefesselt war; so konnte sie an seinem Triumphe nur von weitem teilnehmen.

Über ihr schlechtes Befinden sprach Lieschen nicht gern, nannte es »Schwäche«, die bald vorübergehen werde. Selbst Jutta erfuhr nicht, daß es ein Rückfall sei in ein schweres inneres Leiden, das sie vor Jahren sich zugezogen, als sie zu zeitig das Wochenbett verlassen hatte.

Jutta war viel bei Lieschen, suchte ihr die Zeit zu vertreiben durch Erzählen und Vorlesen. Zur besonderen Aufgabe hatte sie es sich gemacht, alles, was in den Blättern über Xaver erschien, aufzustöbern und der Freundin mitzuteilen. Sein Name spielte fortgesetzt eine große Rolle in den Gesprächen der beiden.

Pangor hatte neuerdings ein paar Arbeiten vollendet: den Entwurf zu einem Monumentalbrunnen und ein Grabdenkmal. Die Werke waren in seinem Atelier ausgestellt zur Besichtigung. Lieschen hätte nur zu gern gesehen, was er geschaffen, hoffte von Tag zu Tag auf Besserung; aber ihre Niederlage zog sich diesmal ungewöhnlich lange hin und verbot ihr jeden Gedanken ans Ausgehen.

Lieschen hatte Jutta schon wiederholt gebeten, daß sie sich Xavers neueste Arbeiten ansehen möge. Aber Jutta wollte nicht allein gehen. Selbst Lieschens Einwand, daß jetzt sein Atelier ein öffentlicher Ort geworden sei, den jedermann unbedenklich aufsuchen könne, wieviel mehr eine Freundin, verfing nicht. Jutta erklärte, warten zu wollen, bis Lieschen ganz hergestellt sei, dann müsse der erste Ausgang dem Freunde gelten. Mit ihr wolle sie gern gehen, allein sei es nur halber Genuß.

Bis schließlich Xaver, als er sie eines Tages bei Lieschen traf, selbst bat, Jutta möge kommen, wenn sie das Grabdenkmal noch sehen wolle; der Besteller habe die Überführung an seinen Platz bereits verlangt. Jutta konnte nun nicht mehr ausweichen; ihr Besuch wurde für den nächsten Tag zu bestimmter Stunde verabredet.

Das Atelier war aufgeräumt. Jutta konnte sich nicht entsinnen, es so gesehen zu haben. Die Diele schien frisch gescheuert, der schlimmste Staub entfernt. Der Bildhauer machte scherzend darauf aufmerksam, daß mit der Berühmtheit auch die Ordnung bei ihm eingezogen sei.

In schöngeformter Vase standen ein paar auserlesene Orchideenstengel. Xaver nahm sie vorsichtig heraus. »Die sind für Sie!« sagte er und überreichte die Blumen.

»Ich werde sie Lieschen bringen!« erwiderte Jutta.

»Nein, für Lieschen habe ich Rosen. Die hier sind besonders für Sie ausgesucht, weil ich weiß, daß Sie Orchideen zu schätzen wissen.«

Jutta mußte die Blumen annehmen. Wenn's auch gut gemeint war von ihm, er hätte das doch nicht tun sollen! Es kam Jutta wie ein Unrecht vor gegen Lieschen; sie wunderte sich, daß er das nicht auch so fühlte.

Aber der anfänglich peinliche Eindruck wurde schnell verwischt durch das, was sie nun zu sehen bekam. Der Künstler zeigte ihr seine Arbeiten. Jutta fand auch hier die Eigenschaften wieder, die sie an allem, was von seiner Hand stammte, so sehr bewunderte: die große, ruhige Linie, den kühnen Vortrag, die wuchtige Kraft, und dabei die Einfachheit, die jedem seiner Werke den Stempel der Selbstverständlichkeit aufdrückte, daß man sich sagte: so und nicht anders durfte es sein.

Übrigens schuf Pangor längst wieder an einem neuen Werke. Ein Ringerpaar, nackte Männer in Lebensgröße für Marmor berechnet, war's diesmal. Er machte das ohne Bestellung, wie er sagte, für sich selbst, um seiner Freude an der Bewegung, dem schwellenden Muskelspiel, der ganzen lebendigen, blühenden Schönheit des menschlichen Körpers Genüge zu tun.

Ein mächtiger, erst teilweis bearbeiteter Marmorblock lag da. Der Bildhauer machte Jutta aufmerksam auf die Schönheit des Steines, die Feinheit und Gleichmäßigkeit seines Kornes, den weichen Schimmer seiner Tiefen, das Licht, welches gleichsam von seiner Oberfläche ausstrahlte.

»In solchem Material arbeiten, ist das Höchste, was ich kenne!« rief er, und seine Augen leuchteten. »Was ist dagegen Holz, Gips, selbst Bronze! Marmor allein gibt eine Ahnung von der geheimnisvollen Schönheit des nackten Leibes, von seiner transparenten Leuchtkraft, seiner kernigen Schmiegsamkeit, von der ganzen Intimität seiner Reize. Für mich ist solcher Stein lebendig; Gestalten schlummern darin; ich muß sie zum Dasein befreien!« –

Xaver sprach begeistert. Der Eifer des Künstlers kam über ihn. Er griff nach Meißel und Klöpfel und begann mit starken, sicheren Schlägen eine Schulterpartie aus dem Steine herauszuholen. Das fertige Tonmodell der Ringergruppe stand vor ihm; aber er nahm sich nicht erst die Zeit zum Nachmessen und Punktieren. Bei solch ängstlichem Rechenwerk gehe ihm zuviel Stimmung verloren, erklärte er.

Jutta hatte das Gefühl, einen anderen, größeren Menschen vor sich zu haben, wie sie ihn so bei der Arbeit sah. Hier kam der Mann in seiner ganzen, für gewöhnlich verhaltenen Kraft zur Geltung. Hier beherrschte er als souveräner Herr sein eigenstes Gebiet.

Er sprach kein Wort mehr. Alle Aufmerksamkeit war auf Stein und Instrument konzentriert. Die Blicke waren fliegend, gleichsam greifend. Auf dem Gesicht mit der hohen, vorspringenden Stirn, den finster zusammengezogenen Brauen, den fest aufeinandergepreßten Lippen lag bedeutsamer Ernst.

»So!« rief er nach einiger Zeit. »Jetzt haben Sie einen Begriff. Nicht wahr? Hierbei gilt's, alles, was einem der liebe Gott mitgegeben hat, zusammennehmen; da muß hinter jedem Schlage der ganze Kerl stehen. Radieren, Übermalen, Korrigieren wie bei euch Malern kennen wir nicht. Ein einziger falscher Schlag, und das Ganze ist verdorben. Ich liebe es, so zu arbeiten, im steten Gefühle der Verantwortlichkeit, im Bewußtsein der Gefahr. Das ist Männerarbeit. Man kann's oder man kann's nicht! Mit Kunstgeschmack und gutem Willen allein ist unsere Arbeit nicht getan. Vor Dilettantismus sind wir sicher. Gott sei Dank!«

Er legte sein Werkzeug beiseite, ging an die Wasserleitung und wusch sich die Hände.

»Ich bin ein merkwürdiger Wirt!« sagte er. »Entschuldigen Sie nur!«

Mit einem Male war aus dem großen Künstler wieder der harmlose, einfache Xaver geworden.

»Setzen wir uns!« rief er und schob ihr einen Hocker zu. »Denken Sie, Lieschen wäre bei uns, und lassen Sie uns ein wenig plauschen.«

*

Jutta holte ihren lange Zeit hindurch vernachlässigten Stickrahmen wieder hervor. Auserlesene Stoffe wurden mit schimmernden Fäden bestickt. Ein Rückfall schien's in Jugendliebhaberei. Aber viel kräftiger und kühner waren jetzt Linie, Form und Farbe.

Unwichtig, spielerisch, weiblich unbedeutend wäre ihr solches Tun noch vor einem halben Jahre erschienen, aber nun hatte Xaver sie gelehrt, daß keine Tätigkeit so unbedeutend sei, um nicht von der Kunst geadelt zu werden. Beständig waren ihr seine Worte darüber gegenwärtig, der Gedanke an sein Vorbild führte ihr die Hand. Zeigen, was sie arbeitete, wollte sie ihm nicht. Sein Lob war ihr nicht vonnöten; wenn nur das, was sie tat, seiner würdig war.

Ihr Vater überraschte sie einige Male bei derartiger Arbeit. Er lächelte verständnisvoll. »Ach, für deine Ausstattung!« – und ein andermal: »Das wird für Brunos Zimmer, ich wette!«

Ausstattung, Hochzeit, Bruno! – Wie fremd das anmutete! Oft vergaß sie gänzlich, daß sie Braut sei. Wenn ein Wort, ein Ereignis, eine Frage sie daran erinnerte, berührte sie's wie körperlicher Schmerz.

Und wenn ein Brief von Bruno ankam, konnte sie sich lange nicht entschließen, ihn zu öffnen. Um an ihn zu schreiben, mußte sie sich geradezu einen Stoß geben. Sie schrieb dann mechanisch ganz kindische, einfältige Sachen, las das Geschriebene nie wieder durch. Das Herz auf keinen Fall, kaum der Verstand hatte damit etwas zu tun.

Alle Welt nahm natürlich stillschweigend an, daß sie sich auf nichts mehr freue, als auf Brunos Rückkehr. Ihr Vater fragte sie, wie oft, scherzweise: »Nun, kleine Jutta, wieviel Tage sind es noch?« –

Die Hänseleien des Vaters waren schrecklich! Mußte sie denn immer und immer wieder an die größte aller Unklugheiten erinnert werden! –

Wie hatte sie nur gekonnt? Welch böser Dämon hatte hinter ihr gestanden? War sie denn blind gewesen, nicht bei Sinnen, oder betäubt?

Sie konnte sich nicht mehr vorstellen, in welcher Verfassung des Gemütes sie sich befunden, als sie Bruno ihr Jawort gegeben hatte.

Die Jutta von damals und die Jutta von heute, das waren eben zwei ganz verschiedene Wesen. Eine neue Welt war ihr seitdem aufgegangen, eine Welt voll großer, herrlicher Dinge, hinter denen sie noch größere ahnte.

Sie hatte sich selbst jetzt erst eigentlich gefunden. Fähigkeiten entdeckte sie an sich, Möglichkeiten der Entfaltung, die sie früher nicht geträumt hatte. Wie verdoppelt kam sie sich vor. Wozu hätte sie sich das Vermögen nicht zugetraut! In manchen Stunden war ihr zu Sinne, als müsse sie fliegen. Verzaubert war sie. Wie in einem Wundergarten lebte sie; alle Dinge, selbst die alltäglichsten, sprachen ihre eigene, besondere, geheimnisvolle Sprache zu ihr. Die Welt hatte in ihren Augen tiefere Farben angenommen. Über allem lag ein goldener Schimmer, wie von einem Gestirn, das, aufgehend, seine Strahlen weit voraussendet. Alles war größer, schöner, bedeutungsvoller in diesem Lichte.

Aber so fühlte Jutta nur in besonders glücklichen, geweihten Stunden, wenn sie allein war, tief in ihre Gedankenwelt eingesponnen. Der Alltag mit seiner Nüchternheit sorgte dafür, daß sie immer wieder unliebsam aufgeweckt wurde aus solchen Träumen. Und je höher die Einbildungskraft den Flug genommen hatte, desto tiefer war dann der Sturz zurück in die unerquickliche Wirklichkeit.

Am stärksten wurde dieser bittere Gegensatz fühlbar, wenn Jutta allerhand demütigende Lügen ersinnen mußte, um ihre häufigen Besuche bei Lieschen Blümer zu entschuldigen. Herr Reimers kannte ja die Freundin seiner Tochter von früher her; er begriff jetzt noch weniger als damals, was Jutta von dieser, in seinen Augen gänzlich untergeordneten Person eigentlich habe. Es sei höchste Zeit, daß dieser unpassende Verkehr nun endlich mal aufhöre, fand er. Von der Existenz des Bildhauers ahnte er überhaupt nichts, sonst würde er ein für allemal ein energisches Veto eingelegt haben, aus Gründen der »Moral«.

Jutta war daher zur höchsten Vorsicht verurteilt, wenn sie nicht wollte, daß ihr das Beste, was sie besaß, der Umgang mit den einzigen Freunden, abgeschnitten werde.

Das Ausgehen im größeren Kreise zwar war Jutta erspart geblieben im letzten Winter, vom Verkehr innerhalb der Familie jedoch konnte sie sich nicht gänzlich ausschließen.

Die Familie fand, daß Jutta sehr zurückhaltend geworden sei und still; auffällig still für eine Braut! Besonders kluge Tanten wollten Melancholie lesen in den Mienen des Mädchens.

Auch mit Luitpold Habelmayer traf sie manchmal zusammen. Er hatte noch immer sein ironisches Verhalten ihr gegenüber, erkundigte sich überlegen lächelnd nach dem Befinden des »guten Bruno«. Im übrigen belästigte er Jutta nicht. Im Familienkreise mußte Luitpold sich in acht nehmen, da fühlte er zuviel beobachtende Blicke auf sich gerichtet.

Außerdem verfolgte der Brave eine ganz besondere, feine Politik, die hieß: Abwarten! Er sah, daß Jutta augenblicklich in einer Krise stehe. Was sich daraus entwickeln werde, schien zurzeit nicht deutlich erkennbar. Die Hauptsache war in solchem Falle, nichts übereilen, beobachten und zur Stelle sein, um, wenn sich eine günstige Gelegenheit ergab, zugreifen zu können. Von Bruno Knorrig hatte er für das endliche Gelingen seines Planes niemals viel gefürchtet. Im Gegenteil, wenn etwas geeignet war, ihm die schöne Cousine schließlich in die Arme zu treiben, so war es diese ihre unbegreifliche Geschmacksverirrung.

Daß er es jetzt mit einem ganz anderen, unendlich stärkeren Rivalen bei dem Mädchen zu tun habe, ahnte der Kluge bei all seinem Raffinement nicht.

Wenn sie mit Menschen wie Luitpold Habelmayer zusammenkam, wurde es Jutta erst klar, was sie an Lieschen und Xaver besitze. Da begriff sie den Gegensatz, der zwischen zwei großen Welten klaffte. Hier das gesättigte, aufgeblasene, selbstzufriedene Spießbürgertum, dort jene Welt, die vom Banausen verächtlich als »Boheme« bezeichnet wurde. Auf wessen Seite war die größere Ehrlichkeit, die höhere Sittlichkeit? Da, wo unter dem Deckmantel von Anstand und Ehrbarkeit die gröbste Genußsucht herrschte, oder dort, wo man frei und mutig das Herz zum obersten Richter machte? –

Jutta hatte sich längst entschieden in ihrem Herzen, auf welcher Seite sie stehe.

Tiefste Verachtung erfüllte sie vor dem öden Philistertum, dem geist- und geschmacklosen Protzentum, dem zynischen Materialismus, der sich in ihrer Umgebung breitmachte. Was hatte sie eigentlich mit ihrer Familie noch gemein? Anderer Geschmack, andere Bedürfnisse, andere Anschauung! Wie ein Fremdling kam sie sich vor in diesem Kreise.

Und das waren die Menschen, unter denen sie in Zukunft leben sollte! Würde sie das ertragen? War es da nicht besser, einfach auf und davon zu gehen? Aber wohin? – Sie war ja doch geschmiedet an diesen Block des Familienlebens, das für sie längst überhaupt kein Leben mehr war; das, wenn sie es länger ertrug, ein allmähliches Absterben und Versumpfen werden mußte.

Das Schrecklichste war das Bewußtsein, sich selbst daran ausgeliefert zu haben, sich gebunden zu haben durch ein Wort, das man in unbewachter Stunde gegeben, zu einer Zeit, wo man nicht bei sich selbst gewesen, wo man sich weggeworfen aus Verdruß, aus Gleichgültigkeit, weil man's nicht besser gewußt hatte.

Und nun, wo man endlich erkannt, was das Leben sein könne, war's zu spät.

Niemanden ließ sie etwas merken von ihren Seelenkämpfen, selbst Lieschen Blümer nicht. Ja, sie hatte das Gefühl, als müsse sie vor Lieschen ihr Geheimnis ganz besonders wahren. Die sollte ihr nicht raten, nicht zureden, vor allem sie nicht bemitleiden. Lieschen war ja glücklich. Bei Lieschen fielen Liebe und Besitz zusammen in eines.

Jutta fühlte es manchmal wie brennendes Gefühl des Schmerzes, wenn sie das Glück aus den Zügen der Freundin strahlen sah. Es war die Empfindung des Menschen, der hungert, dem gegenüber, der sich sättigen darf. Das läßt sich nicht niederkämpfen, bei allem Stolze nicht.

Sie wollte ja nicht ihr Geschick mit dem der Freundin vergleichen. War es denn nicht gerecht, daß Lieschen, der in anderem das Glück so kärglich zugemessen war, in diesem einen Größten wenigstens bevorzugt wurde? – Verdiente sie denn nicht, was sie besaß? – Jutta wollte den Neid nicht in sich aufkommen lassen. Neid war so etwas Häßliches, Erniedrigendes! Sie gab sich Mühe, ihr Herz zum Schweigen zu bringen.

Denn Lieschen machte Xaver doch glücklich! Es konnte kein Zweifel darüber sein. Aus hundert kleinen Zügen merkte man seine Liebe. Es wäre ja auch unnatürlich gewesen, hätte er sie nicht geliebt, er, der ihr für Großes Dank schuldig war, der ihrer Aufopferung das Leben dankte.

Von Herzen schlecht wahrhaftig hätte man sein müssen, wollte man der Freundin nicht gönnen, was tausendfach ihr Eigentum war.

Lieschen hatte sich ihr Leben selbst gemacht. Sie hatte ihr Herz wählen lassen, hatte Bequemlichkeit, Ruhe, gesicherte Stellung, Achtung der Menschen hinter sich geworfen, hatte die Liebe auf sich genommen mit all ihren Dornen, es war nur gerecht, daß sie auch ihre Süße auskostete.

Auch Jutta hatte ja gewählt. Sie war Braut. Aber es bäumte sich etwas auf in ihr, wenn sie an ihr Los dachte, das äußerlich soviel glänzender, geordneter war als das der Freundin. Sie würde heiraten, eine brave, gutsituierte Hausfrau werden mit allem, was dazu gehörte: Geld, Ehrbarkeit, Kinder. –

Wie sie den Gedanken haßte, ja fürchtete! Ein Phantom wurde daraus, das ihr Tag und Nacht keine Ruhe ließ.

Wie ein Stein fiel es ihr daher vom Herzen, als ihr der Vater eines Tages schonend die Mitteilung machte, in Venezuela drohe wieder mal Bürgerkrieg. Ihre Plantagen, Lager und Häuser seien drüben sehr schwer bedroht, und es wäre vorläufig unbedingt notwendig, daß Bruno an Ort und Stelle bleibe, bis das Schlimmste vorüber sein würde.

Herr Reimers wunderte sich, wie ruhig Jutta diese ernste Nachricht aufnahm. Er hatte Weinkrämpfe oder dergleichen erwartet. Im stillen bewunderte er seine Tochter. Schneid hatte das Mädel, wenn's drauf ankam! –

Jutta aber fühlte sich wie von schwerem Alp befreit. Gott sei Dank, das war ein Aufschub!


 


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