Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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VII

Eberhard hatte seine Freiwilligenzeit abgemacht und war nach Berlin gegangen, um dort weiterzustudieren. Gleichzeitig fast mit seinem Weggange war Kurt, der sich bisher in Bädern aufgehalten hatte, ins Vaterhaus zurückgekehrt.

Wer Kurt Reimers gekannt hatte, als er vor etwa vier Jahren nach Südamerika gegangen, mußte, wenn er ihn jetzt wiedersah, eine erschreckende Veränderung finden in Erscheinung und Haltung des jungen Mannes. Als lebensvoller, kräftiger, blühender Mensch war er ausgesegelt, als jugendlicher Greis kehrte er zurück. Das Haar war ausgegangen, die Haut erschlafft, das Auge erloschen.

Kurt war der Lieblingssohn seines Vaters, ihm am meisten ähnlich. Auf ihn hatte Herr Reimers große Hoffnungen gesetzt.

Aber gerade, weil der Junge ihm so ans Herz gewachsen war, scheute der Vater davor zurück, sich über ihn die volle Wahrheit einzugestehen; er wollte nicht sehen, daß sein Ältester nicht viel mehr sei als eine Ruine.

Reimers ging mit Kurt zu verschiedenen Ärzten. Sie gaben ihm übereinstimmend hoffnungslose Auskunft. Bis er einen fand, der gewissenlos genug war, zu erklären: er getraue sich, den Kranken wieder herzustellen. Das war der Mann für Reimers senior; ihm wurde Kurt übergeben.

Angeblich füllte Kurt Reimers im väterlichen Geschäft die Stelle aus, die Bruno Knorrig vordem innegehabt hatte. Der Vater erzählte jedem, der es hören wollte, sein Kurt arbeite angestrengt und ersetze ihm einen Buchhalter.

In Wahrheit bestand Kurts Tätigkeit auf dem Kontor im Rauchen von Zigaretten. Bestenfalls versenkte er sich in eine ausländische Zeitung.

Reimers senior pflegte seinen Frühschoppen in einem altrenommierten Bräu einzunehmen. Außerdem gehörte er einem Klub an, in dessen behaglichen Räumen er seine gesellschaftsfreien Abende zubrachte.

Die Männer, mit denen Reimers des Vormittags sein Bier vertilgte, waren gutsituierte Bürgersleute, man hätte ihnen mit der Bezeichnung »Philister« nicht unrecht getan. Seine Klubfreunde, mit denen er des Abends zusammenkam, dagegen waren Leute von ganz anderem Schlage. Unter ihnen herrschte das künstlerische Element vor. Maler, Schriftsteller, Musiker, Schauspieler, auch einige pensionierte Militärs waren darunter. Beim Frühschoppen ging es harmlos gemütlicher zu, des Abends ausgelassener, geistreicher und geschmackvoller.

Reimers stand an beiden Tischen seinen Mann. Er war weit in der Welt herumgekommen, hatte mancherlei erfahren, durchgemacht und beobachtet und verstand vor allem zu erzählen.

Ein mitteilsamer Mann ist am Stammtische stets beliebt. Er erspart soundsovielen anderen das Reden und Nachdenken. Man erwartet aber auch von ihm, daß er stets etwas auf Lager hat: eine Anekdote, einen Witz, eine Geschichte. Er muß es sich gefallen lassen, gewissermaßen als Automat behandelt zu werden, der stets das Verlangte herausgeben soll. Dafür ist er beliebt und populär; sein Fehlen wird als Lücke empfunden.

Reimers durfte es sich daher erlauben – was einem andern vielleicht nicht so leicht durchgegangen wäre –, einen so wenig erfreulichen Gast, wie seinen Sohn Kurt, an den Stammtisch und in den Klub mitzubringen. Man sah es dem jungen Menschen nach, daß er mißmutig und öde dasaß, weil er einen so anregenden, kreuzfidelen Alten hatte. Reimers aber nahm seinen Sohn an diese Orte mit, weil dieser nach Ausspruch des Arztes Zerstreuung haben sollte, und weil er ihn auf diese Weise aus seiner Lethargie und schlechten Laune aufzurütteln hoffte.

Kurts Rückkehr hatte auch im Hauswesen einen Umsturz verursacht. Herr Reimers hielt es für besser, daß Vally und sein Ältester nicht unter einem Dache lebten. Kurt war nun einmal auf Krankendiät gesetzt; und Vally – das durfte der Onkel sich nicht verhehlen – paßte nicht zur Krankenpflegerin.

Vally kehrte zu ihrer Mutter zurück; der gütige Onkel hatte ihr jedoch als Lohn für ihr Wohlverhalten ein hübsches Taschengeld in Aussicht gestellt.

Jutta war nicht unglücklich über Vallys Scheiden. Seit jenem Zerwürfnisse um Eberhards willen hatten sich die beiden immer weiter voneinander entfernt.

Für den Verkehr mit der Cousine fand Jutta reichlichen Ersatz durch ihren Bruder Kurt. Früher hatte der Unterschied der Jahre eine fast unüberbrückbare Kluft bedeutet zwischen den Geschwistern. Jetzt waren sie einander ganz von selbst nähergerückt.

Jutta hatte ihren großen Bruder in Erinnerung als imponierende Persönlichkeit. In der Kinderstube galt Kurt für eine Macht, gegen die einfach nicht aufzukommen war. Jutta hatte seinen Spott und seine schlimmen Streiche und Neckereien gefürchtet. Dazu des Vaters Vorliebe für Kurt, im Bewußtsein deren er sich alles herauszunehmen getraute! Wie war das alles gewandelt!

Innigstes Mitleid empfand Jutta mit dem unglücklichen Bruder. Sie fühlte vor allem das Tragische seines Geschickes heraus. Die Frage, ob er selbst an seinem Zustand schuld sei, kam für sie gar nicht in Betracht.

Kurt wiederum, der draußen in der Welt beinahe vergessen hatte, daß er daheim auch eine Schwester besitze, fühlte zunächst Befremden, als ihm in Jutta eine Person entgegentrat, die Anspruch erheben durfte, zu den Erwachsenen gezählt zu werden.

Jutta hatte sich zu einer jener Gestalten entwickelt, die man auf der Straße nicht übersieht, der die jungen Männer unwillkürlich nachblicken, und die in Gesellschaft, ohne ihr Zutun, das Interesse sofort auf sich lenken.

Kurt empfand es zunächst geradezu als Beleidigung, daß die kleine Schwester ihm so über den Kopf gewachsen war; daß sie, frisch, blühend, gesund, ihm täglich vor Augen hielt, was er eingebüßt hatte. Er war launisch, leicht gereizt und äußerst empfindlich. Es dauerte einige Zeit, bis es Jutta gelang, sein Mißtrauen zu besiegen.

Auch gegen den Vater, der ihn von jeher vorgezogen und verwöhnt hatte, revoltierte etwas im tiefsten Grunde von Kurts Seele. Er wußte dem Alten für seine Affenliebe wenig Dank. Vielleicht ahnte Kurt, daß sein Scheitern im Mangel an väterlicher Zucht die letzte Ursache habe.

Das Geschwisterpaar, Jutta und Kurt, ging öfters gemeinsam spazieren. Der Kranke sollte sich viel Bewegung machen in frischer Luft. Dann wunderten sich die Leute über dieses Paar. Das Mädchen von herrlichem Wuchs, mit strahlenden Augen, leuchtendem Haar und jenem zarten Schmelz, wie ihn nur die eben erschlossene Knospe entwickelt. Dazu die elastischen, mühelos graziösen Bewegungen, die an das junge Reh erinnerten. Der Reiz des Unberührten, der in irgend etwas Undefinierbarem, dem Gang, der Haltung, der Art des Augenniederschlags lag. – Und daneben der Mann, dem zum Greise nur der Ehrenschmuck des grauen Haares und die von Arbeit und Sorge eingegrabenen Furchen fehlten.

Hin und wieder machten sie auch gemeinsame Besuche; das gehörte zu den Zerstreuungen, die Kurt ärztlicherseits vorgeschrieben waren. Man besuchte vor allem die weitverzweigte Sippe der Habelmayers.

Jutta fand wenig Unterhaltung dabei. Gerade unter ihren Verwandten fühlte sie sich immer so fremd, so gebunden, so unnatürlich. Ihr war's, als sei sie selbst ein ganz, ganz anders geartetes Wesen als diese braven Leute, und doch wußte sie eigentlich nicht recht, worin der Unterschied bestehe. Auch hatte sie deutlich das Gefühl, daß sie von den Muhmen und Basen wie ein fremder, andersgefiederter Vogel betrachtet werde: man paßte auf alles auf, was sie sagte und tat, und sie vermutete, daß man sie hinterher nicht gerade freundlich durchhechele.

Diese Damen waren für Jutta mehr oder weniger lächerlich mit ihren Gesprächen über Haushaltung, ihrem Klatsch von Verlobungen, Heiraten, Kinderkriegen und Familienskandalen. Noch komischer aber wirkten die dazugehörigen Männer. Die älteren waren phlegmatisch und stumpfsinnig. Man sah ihnen an, daß sie sich überhaupt nur noch über eine schlecht brennende Zigarre oder einen nicht bis zum Eichstrich gefüllten Maßkrug aufregen konnten. Und die jüngeren, die in bezug auf Körperfülle den Alten bereits würdig nachstrebten, mußten sich ordentlich selbst einen Rippenstoß versetzen, um in Gesellschaft die gegen Damen nun einmal für nötig erachtete Galanterie an den Tag zu legen. Es kam Jutta vor, als ob sich diese wohlbeleibten Jünglinge in ihrer Gegenwart noch ganz besonders in Ekstase versetzten. Sie hätte ihnen gern die Anstrengung erspart; die verliebten Augen der Vettern und ihre geschraubte Sprache wirkten schließlich nur auf ihre Lachmuskeln.

Vorteilhaft von der übrigen ziemlich spießbürgerlichen Sippschaft hob sich allein ab Vallys Bruder Luitpold. Er hatte wenigstens Geschmack, war nicht ganz ohne Geist; mit ihm konnte man eine Unterhaltung führen, da er mancherlei gesehen hatte und sich für vieles interessierte.

Luitpold Habelmayer, der »schöne Habelmayer«, wie er auch genannt wurde, hatte es mit mehr als einem Berufe bereits versucht. Unter anderem war er Fähnrich gewesen; aber schon auf der Kriegsschule endete seine militärische Laufbahn; wegen Hasardspiels war er entlassen worden. Dann hatte ihn sein Onkel angestellt als Reisenden. Dazu paßte Luitpold nicht schlecht, er war eine stattliche Erscheinung, hielt viel auf das Äußere, pflegte mit großer Liebe seinen kohlschwarzen Bart und seine weißen Hände. Besonders stolz fühlte er sich, wenn er für einen Offizier in Zivil gehalten wurde. Seine Beredsamkeit war nahezu ebensogroß wie seine Unverfrorenheit. Den Leuten Ware aufzuschwatzen, die sie nicht haben wollten, war von ihm, wie von manchem seiner Kollegen, zur Kunst erhoben worden. Im stillen aber lebte Luitpold der Ansicht, daß der Beruf des Handlungsreisenden tief unter seiner Würde sei. Sein Ideal war: Rentier sein, das hätte seiner Bequemlichkeit und seinem Geschmack am besten entsprochen. Er hatte allerhand kostspielige Passionen, zu denen das Glücksspiel, Sport. Weiber, Kunst, kurz der Schmuck des Lebens gehörten. Diese noblen Liebhabereien konnte er natürlich von seinem Salär nicht bestreiten. Schulden waren die Folge.

Aus dieser schwierigen Lage rettete sich Luitpold, indem er durch Prokuration ein Fräulein heiratete, das um fünf Jahre älter als er, wenig schön und überdies kränklich war, ihm dafür aber eine Mitgift brachte, die vollauf genügte, daß er den Reisenden an den Nagel hängen und fortan das Leben eines Nichtstuers führen konnte.

Jutta ahnte nichts davon, welcher Art das Vorleben ihres Vetters Luitpold gewesen sei. Ihr gefiel er nur, weil er nicht ganz so langweilig war wie die andern. Schon als Kind hatte sie ihn gern gemocht: er verstand es, anschaulich zu erzählen, auch war er im Gegensatz zu manchem andern stets höflich und zuvorkommend. Als sie noch im Backfischalter gestanden, hatte er sie bereits wie eine Dame behandelt; und das vergißt ein Mädchen nicht so leicht.

Warum er diese Frau eigentlich geheiratet habe, konnte sie nicht begreifen. Cousine Elwire war die denkbar unglücklichste Erscheinung, eckig, mit spitzem Gesicht, gelblichem Teint. Sie glich dem personifizierten Mißvergnügen. Bösartig war sie nicht, aber sie machte ihrer Umgebung das Leben schwerer, als eine boshafte Person es vermocht hätte, durch ihre Nörgelsucht. Stundenlang konnte sie predigen über die unbedeutendsten Dinge, mit einer Stimme, die durch ihren unangenehmen Klang allein schon die Nerven aufrieb.

Jutta konnte diese Cousine nicht ausstehen. Schnell fertig mit dem Urteil und unduldsam, wie junge Menschen sind, fand sie Elwiren eine »abscheuliche, widerwärtige und überhaupt gänzlich unerlaubte Person«. Elwirens Kränklichkeit hielt sie für Schauspielerei. Selbst hatte sie niemals Siechtum kennengelernt und meinte: es komme eben nur darauf an, sich zusammenzunehmen, dann könne man alles überwinden.

Den Vetter aber bedauerte sie, daß er an eine solche Frau gekettet sei. Und Luitpold hatte eine Art und Weise, sich in Gegenwart Dritter in das larmoyante Wesen seiner Frau zu schicken, sich als Opferlamm ihrer Launen aufzuspielen, die schon erfahrenere Leute getäuscht hatte als seine kleine Cousine.

Noch etwas anderes gab es, was zwischen Jutta und dem Vetter Habelmayer eine unsichtbare Verbindung herstellte: die Kunst. Luitpold hatte nämlich in seiner wechselreichen Laufbahn auch mal ein Vierteljahr in einem Maleratelier gearbeitet. Er war nicht ohne Talent, aber die Ausdauer fehlte. Er freilich stellte das Scheitern seiner Künstlerlaufbahn so dar, als habe den Lehrern für seine Eigenart das rechte Verständnis gefehlt. Jetzt, wo er Zeit dazu gehabt hätte, tat er auch nichts, um diese Eigenart zu entwickeln. Hingegen spielte er gern den Mäzen. In seinem Hause verkehrten Künstler. Seine Wohnung hatte er vom Gelde seiner Frau mit den Erzeugnissen moderner Kunstindustrie ausgestattet. Auch besaß er einige nicht ganz schlechte Bilder, die er mit der Handelsbegabung, die ihm von seiner früheren Tätigkeit her eigen war, unter dem Preise erworben hatte.

Luitpold war der einzige in der Verwandtschaft, der für Juttas Talent Interesse an den Tag legte. Infolgedessen war auch er der einzige, der etwas von ihren Sachen – mit denen sie sehr geheim tat – zu sehen bekam.

Der Vetter nahm vor Juttas Bildern den Mund ziemlich voll. Er fand die Sachen »höchst beachtenswert und originell«, sprach von »Proben eines hervorragenden Talents«. Es war nicht zu verwundern, daß Jutta glaubte, was sie nur zu gern hörte. Welcher Anfänger besäße soviel Selbstkritik, um stark aufgetragenes Lob auf das richtige Maß zurückzuführen.

Des Vetters Anerkennung bestärkte Jutta in einem langgenährten Wunsche. Schon längst hatte das junge Mädchen ihrem Vater in den Ohren gelegen, ein Meisteratelier besuchen zu dürfen. Aber Herr Reimers wollte davon nichts wissen. Weitherzig wie er sonst war, teilte Reimers darin doch die Auffassung vieler Männer der höheren Stände: ein junges Mädchen sollte sich beileibe nicht mit etwas befassen, was dem Broterwerb auch nur von weitem ähnlich sah. Für sich malen, zum Zeitvertreib, das wollte er seiner Tochter gern gestatten, aber ernsthaft, als Lebensberuf gewissermaßen, die Kunst erfassen, das widersprach seinen »Prinzipien«.

Jutta allein würde es niemals gelungen sein, dieses Vorurteil ihres Vaters zu besiegen, um so weniger, als er sich niemals darauf einließ, den Fall ernsthaft mit ihr zu diskutieren. »Es schickt sich nicht!« das war die Quintessenz seiner Erwiderungen.

Da kam dem Mädchen Vetter Luitpold zu Hilfe. Mit ihm stand Reimers auf vertrautem Fuße. Besonders seitdem Luitpold eine gute Partie gemacht und damit bewiesen hatte, daß er ein praktischer Kopf sei und mehr könne als Schulden machen, hatte er bei dem Onkel einen Stein im Brett.

Luitpold Habelmayer machte dem alten Herrn klar, daß Juttas Begabung keine alltägliche sei und daß es ein Jammer wäre, wenn sie ohne die nötige Ausbildung bliebe. Er faßte ihn bei der väterlichen Eitelkeit, stellte es ihm verlockend dar, wenn seine Tochter sich einen Namen erwerbe als berühmte Künstlerin. Und seiner zudringlichen Beredsamkeit gelang es, dem widerstrebenden Reimers die Einwilligung abzuringen, daß Jutta die Malklasse eines bekannten Professors der Akademie und Kunstmalers besuchen durfte.

*

Die Schülerinnen der Malklasse, wohl dreißig an Zahl, stellten eine bunt durcheinandergewürfelte Gesellschaft dar. Da gab es alte und junge Frauenzimmer, die verschiedensten Stände und Begabungen aller Art waren vertreten. Manche von ihnen betrachteten die Kunst wie eine Art Sport, andere wollten einen Erwerb daraus machen. Dementsprechend waren auch der Eifer und die Leistungen verschieden.

Jutta, eine der jüngsten in der Zahl, hatte ihre Staffelei neben einer Person, deren Alter und Stellung auf den ersten Blick schwer zu entscheiden war. Sie mochte Ende der Zwanzig sein, vielleicht auch älter. Jutta glaubte anfangs, daß sie es mit einer Verheirateten zu tun habe; das ausgearbeitete Gesicht und die fertige Gestalt ihrer Nachbarin riefen unwillkürlich diesen Eindruck hervor. Aber der Professor nannte sie »Fräulein Blümer«.

Die Bekanntschaft zwischen den beiden Mädchen war schnell geschlossen. Man half sich gegenseitig mit Rat und Tat. Bald hatte Jutta Reimers, bald Fräulein Blümer etwas Wichtiges daheim gelassen, Farbe oder Öl war ausgegangen. Tausend Kleinigkeiten brachten einen jeden Augenblick zusammen und führten eine gewisse Kameradschaftlichkeit herbei. Man verglich auch seine Leistungen; Fehler, die man im Eifer des Schaffens gemacht, fand das Auge des andern schneller heraus als das eigene.

Sehr bald kannten sich die Damen leidlich genau untereinander, wenigstens was das Äußere betraf. Vor allem stellte es sich nach einiger Zeit heraus, wer etwas könne, wer nur mittelmäßig begabt und wer hoffnungslos sei. Die Art, wie Professor Wälzer die Damen behandelte, gab dafür den Maßstab. Wo er, um zu korrigieren, am längsten verweilte, das waren die Schülerinnen, die ihn am meisten interessierten, die hatten Talent; andere fertigte er kürzer ab; an manchen Leistungen ging er mit mitleidigem Lächeln vorüber.

Jutta Reimers gehörte zu denen, an deren Staffelei er länger zu verweilen pflegte, mit Fräulein Blümer gab er sich nicht so lange ab. Zum Ausgleich bekam Jutta von dem Lehrer öfters ziemlich scharfe Wahrheiten zu hören, während er mit ihrer Nachbarin sanfter verfuhr.

Die Begabung der beiden Mädchen war eine sehr verschiedene. Jutta faßte ungemein schnell, ihr Vortrag war kühn, ihr Strich energisch, aber die Phantasie spielte ihr öfters mal einen Streich. Neben Vortrefflichem fand man bei ihr geradezu kindliche Fehler.

Fräulein Blümers starke Seite war unbedingte Ehrlichkeit. Fehler aus Einbildungskraft kamen bei ihr nicht vor. Sie war mehr anschmiegend als originell in dem, was sie gab. Sie wußte, daß sie ungenial sei, kannte ihre Grenzen. Ihr Wunsch ging nicht weiter, als gute Kopien nach alten Meistern liefern zu können, während Juttas Ehrgeiz darauf gerichtet war, selbst zu komponieren.

Lieschen Blümer war eine zarte Person von milchweißer Hautfarbe mit glänzend schwarzem Haar, das sie, der Mode entgegen, glatt nach hinten gestrichen trug, so daß die feine Form ihres Schädels voll zur Geltung kam. Der Blick der großen Augen wechselte zwischen Traumverlorenheit und Melancholie, kam oft wie aus weiter Ferne zurück, der Mund war der eines Kindes. Dieses Gesicht, nicht besonders auffällig in seinen schlichten Reizen, bekam geheimnisvolles Leben, wenn sie lächelte. Solch intimes, resigniertes Lächeln, das dem Weinen verwandt war und unendlich viel mehr sagte als lautes Lachen oder noch so viele Worte.

Sie konnte von weitem bei schonender Beleuchtung für jung genommen werden, aber wenn man näher zusah, erkannte man jene kaum merklichen Fältchen um die Mundwinkel, jene feinen Riefen in der Stirn, jene eben angedeuteten Schatten unter den Augen, die davon sprachen, daß diese zarte Person sich mit dem Leben gemessen habe.

Es fand sich, daß Lieschen Blümer nicht weit von Jutta wohne, allerdings in einem äußerst beschränkten und ärmlichen Quartier, unter dem Dach. Das eine Zimmer mußte ihr gleichzeitig zum Schlafen, Wohnen und Arbeiten dienen.

Sie hatten also den nämlichen Weg von und zur Malklasse, holten einander oft ab und gingen gemeinsam fort aus dem Atelier. Das »Du« hatte sich bald ganz von selbst zwischen ihnen eingefunden.

Jutta erfuhr nach und nach einiges über den Lebenslauf ihrer Freundin.

Lieschen Blümer stammte aus Thüringen, war aber schon vor Jahren nach München eingewandert. Die Mutter hatte an des Gatten Seite bessere Zeiten gesehen; vor einigen Jahren war sie ihm im Tode gefolgt. Lieschen, welche ursprünglich geträumt, Künstlerin zu werden, hatte, da das kein sicheres Brot versprach, das Lehrerinnenexamen gemacht, war auch eine kurze Zeit lang Volksschullehrerin gewesen. Was sie bewogen habe, diese Stellung aufzugeben, erzählte sie ihrer jugendlichen Freundin nicht.

Man begann nun auch, sich gegenseitig in seiner Häuslichkeit aufzusuchen. Herr Reimers legte der Freundschaft nichts in den Weg, obgleich es ihn wundernahm, daß sich Jutta eine so einfache, der Kleidung nach sogar ärmliche Person zum Umgang ausgesucht habe. Ein Umstand aber sprach in seinen Augen für dieses Fräulein Blümer: sie war nicht mehr ganz jung und hatte nichts Verführerisches. Er war nämlich nach wie vor um Kurts willen besorgt, musterte alle Frauenzimmer, die das Haus betraten, mit strengen Augen daraufhin, ob sie seinem Ältesten etwa gefährlich werden könnten.

Fräulein Blümer nun war die Bescheidenheit und Zurückhaltung in Person. Herren vor allem schienen sie ängstlich und verlegen zu machen. Herr Reimers übte seinen Witz an diesem verschüchterten Wesen. »Wie ein kleines verängstigtes Hühnchen kommt sie mir vor!« meinte er zu Jutta. Die verteidigte ihre Freundin mit Eifer, sagte so viel Warmes und Gutes von ihr, daß der Vater lächelnd bei sich dachte: »Wenn du von einem jungen Manne so sprächest, würde mich die Sache bedenklicher machen!«

Herr Reimers unterschätzte den Ernst der Neigung, welche seine Tochter für Lieschen empfand. Jutta hatte bisher eine wirklich intime Freundin nicht besessen; in ihrem Leben hatte jene verzückte Schwärmerei, welche Mädchen oft für Mädchen fühlt, keine Rolle gespielt.

Zu Lieschen Blümer, die an Jahren soviel ältere, zog sie ein Gefühl starker Sympathie, das vielleicht seinen tiefsten Grund in der Achtung hatte, die sie vor dem wahren, reinen und tapferen Menschen empfand, der in dieser unscheinbaren Person steckte.

Instinktiv fühlte Jutta, daß Lieschen, das »verängstigte Hühnchen«, wie ihr Vater sie getauft hatte, und das Weib, welches energisch und konsequent um seine Existenz kämpfte, zwei ganz verschiedene Wesen seien. Das unbedeutende, was an ihrer Freundin in die Augen fiel, war nur die Hülle einer ungewöhnlichen Persönlichkeit, eines Herzens von seltener Größe, eines durchaus vornehmen Charakters.

Bei den Frauen ist das Fühlen ohne Hilfe der Sinne stark entwickelt. Sie fühlen sich angezogen oder abgestoßen aus scheinbar unerklärlichen Gründen. Eine innere Stimme warnt sie oder lockt sie, schnell ist eine sichere Leitung hergestellt zu einem befreundeten Wesen. Während bei uns alles erst die Oberinstanz des Intellekts passieren muß.

Jutta, so jung sie war, ahnte, nein, sie wußte es für sicher, ohne daß Lieschen je ein Wort darüber hatte fallen lassen, daß die Freundin Außerordentliches durchgemacht habe und daß dieses Außerordentliche keinen andern Namen haben könne als: Liebe. Das aber machte diese Persönlichkeit für das junge Mädchen nur noch anziehender, geheimnisvoller und liebenswerter.

Ohne daß Jutta gedrängt hätte, das Geheimnis der andern zu erfahren, tat Lieschen hier und da Äußerungen, die einem Bekenntnisse nahekamen. Und schließlich, mit wachsender Vertrautheit, eröffnete sie sich der jungen Freundin ganz: sie hatte einen Geliebten. Gleich ihr war er arm, gleich ihr von auswärts nach München gekommen, um sich hier in der Kunst auszubilden. Sie kannten und liebten sich schon seit Jahren. Xaver war Bildhauer von Beruf. Vor einem halben Jahr etwa hatte er München mit Paris vertauscht. Dort wollte er versuchen, Geld zu verdienen, was ihm in München bis dahin nicht gelungen war.

Jutta hörte das und war begeistert. Sie, die von Nahrungssorgen nichts wußte, sah nur das Heroische dieses Vorhabens. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, daß Xaver Pangor – so hieß der Bildhauer mit vollem Namen – Erfolg haben müsse. Er würde gewiß baldigst zurückkehren, berühmt und reich, und dann würden die beiden vereinigt sein.

Lieschen Blümer war sich dessen wohl bewußt, daß sie es in Jutta Reimers noch mit einem sehr jungen Mädchen zu tun habe. Sie liebte dieses Kind, wie man eine seltene hoffnungsvolle Knospe liebt; liebte die vielen Möglichkeiten, die in diesem reich veranlagten Wesen schlummerten. Neidlos sah sie die Genialität der Jüngeren, neidlos auch die Schönheit und das Glück der äußeren Umstände, alle jene Gaben, die Jutta ohne Verdienst zugefallen waren.

Durch das Leben zur Resignation geführt, ahnte Lieschen, daß die Freundschaft, wie sie jetzt zwischen ihnen bestand, ein liebliches Fest sei, das irgendwann einmal sein Ende finden werde; während Jutta in jugendlichem Enthusiasmus von dem ewigen Bestande ihres Treuebundes überzeugt war.

Jutta gab sich ihrer Liebe freudig und ohne Rückhalt hin, während Lieschen haushälterischer war; sie wußte, daß man der Freundschaft keinen Dienst leistet, wenn man sich blind an den anderen Teil verliert.

Lieschen übte auch jetzt noch eine gewisse Zurückhaltung in dem, was sie Jutta von sich mitteilte. Nicht alles aus ihrem Leben war geeignet, von dem jungen Mädchen verstanden und richtig gewürdigt zu werden. Ein großes Geheimnis vor allem behielt Lieschen für sich, da sie dafür die Freundin noch nicht für reif hielt: Lieschen war Mutter gewesen. Kurze Zeit nur hatte ihr dieses höchste Glück des Weibes geblüht, um dann mit dem kleinen Sarge, den sie hinausgetragen hatten, in sich zusammenzufallen.

Das war es, was Lieschens, dem Weinen so nahe verwandtes Lächeln, was ihre weltfremden, träumerischen Blicke zu bedeuten hatten. Ein Teil ihres Wesens und ihres Lebens war nicht mehr von dieser Welt.

Lieschen fürchtete sich nicht etwa vor Juttas moralischer Entrüstung; sie war stolz auf ihre Mutterschaft. Sie fühlte sich nicht ehrlos, weil sie ein in Liebe empfangenes Kind geboren hatte, mochte sie auch aus diesem Grunde ihre Stellung als Lehrerin eingebüßt haben. Aber der große Schmerz ihres Lebens, der Tod des geliebten Kindes, war für sie so erhaben und heilig, daß sie es nicht über sich brachte, davon zu sprechen; er würde breitgetreten, profaniert worden sein. Sie haßte jene weitverbreitete unfeine Sitte: sich an der Wollust des Schmerzes so lange zu erlaben, bis er schließlich dem Vergnügen ähnlicher sieht als der Wehmut.

Wenn Jutta von des Bildhauers Rückkehr sprach, von Hochzeit und anderen lustigen Dingen, dann schnitt es Lieschen ins Herz, und sie bereute, einen Teil ihres Geheimnisses aufgedeckt zu haben, da sie doch das Wichtigste nicht sagen durfte.

»Warum bist du so traurig?« fragte Jutta dann wohl. »Du siehst aus, als ob du innerlich weintest. Was ist das? Kann man als Braut traurig sein?« –

Darauf erhielt sie keine Antwort, nur jenes Lächeln, das sagen zu wollen schien: quäle mich nicht! –

Im Herbst war die Bekanntschaft der beiden Mädchen in der Malklasse angeknüpft worden. Der Winter hatte ihre Freundschaft gesehen. Im Frühjahr, kurz vor dem Osterfeste, erhielt Jutta eines Abends, wo sie Lieschen bei sich erwartete, einen Brief folgenden Inhalts:

»Liebste Jutta! Habe ein Telegramm erhalten aus Paris. Xaver schwer erkrankt. Ich reise noch heut. Wenn Du dies liest, bin ich bereits fort. Denke an mich und bete für uns! Du wirst kaum ahnen, in welchem Zustande ich bin. Wenn es ihm wieder gut geht, schreibe ich Dir, wenn nicht – – dann hat auch das keinen Sinn mehr. Deine Freundin Lieschen.«

 


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