Wilhelm von Polenz
Liebe ist ewig
Wilhelm von Polenz

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XIV

Mit verjüngter Schaffenslust und Arbeitskraft war Xaver Pangor nach München zurückgekehrt. Er hatte in den Monaten, die er auf dem väterlichen Hofe zugebracht, keineswegs die Hände in den Schoß gelegt. In seiner Entwicklung war der Künstler wieder mal zu dem zurückgekehrt, wovon er seinen Ausgang genommen: zum Handwerk. Mit einer wahren Wollust hatte er in der Werkstatt des Onkels, wo er ehemals die Lehrzeit verbracht hatte, wieder mit Hobel, Säge, Hammer, Winkelmaß und Schmiege hantiert. Wie die Arbeit fleckte! Nicht in Museen freilich würden die Werke, die man da schuf, begafft werden, sie sollten dem höheren Zwecke dienen, von Menschen benutzt zu werden. Noch nach Generationen, wenn der Meister längst tot war, sollten sie den Nachkommen erzählen von Liebe, Sorgfalt und Tüchtigkeit dessen, der sie ersonnen und ausgeführt hatte. Das war auch Kunst!

Pangor hatte niemals seine Vergangenheit vergessen oder sich ihrer geschämt. Der Akademie war es nicht gelungen, ihm durch das Studium der Antike, durch Modellieren nach Gips und Ornamentzeichnen, durch Kunstgeschichte oder Stillehre die Freude an dem schlichten Handwerk auszutreiben, dem er ehemals gedient hatte.

Wie jede echte Künstlernatur, hatte auch Xaver Pangor schon als Kind sich vorbereitet für seinen künftigen Beruf, unbewußt, mit schlummernden Augen, wie die Pflanze Stoffe und Säfte aufnimmt aus dem Erdreich zur Entfaltung späterer Blüten und Früchte.

Früh hatte er gelernt, sich mit einfachen Instrumenten zu behelfen, mit der Sprödigkeit schwierigen Materials zu ringen, und dadurch sich gewöhnt, auf den eigenen Verstand und auf die eigenen Fäuste sich zu verlassen. In der Dorfwerkstatt war von ihm so ziemlich jede Arbeit verlangt worden. Auch in die Kunst des Schmiedes und Schlossers hatte er hineingeguckt, hatte gelernt, mit Metall in glühendem, flüssigem, erkaltetem Zustande umgehen, hatte hämmern, pochen, löten, ausbeulen, biegen, raspeln, legieren müssen. Vieles davon kam ihm jetzt zugute. Holzschnitzen, Bronze bosseln, Metallgießen, Ziselieren war ihm ebenso vertraut wie in Stein meißeln.

Diese Vielseitigkeit verleitete ihn nicht zum überhasteten Produzieren. Pangor gab nichts aus der Hand, was er nicht von Anfang bis zu Ende selbst geschaffen hatte. Die Bildhauerkollegen verlachten ihn zwar, daß er nicht von den Hilfsmitteln Gebrauch machte, die sie benutzten. Wer würde sich denn mit dem langweiligen Marmor herumschlagen; das überließ man untergeordneten Handwerkern; genug, wenn man das Modell aus Wachs, Ton oder Gips hergestellt hatte. Ja, sie verachteten ihn wegen seiner schwerfälligen Gründlichkeit.

Ihrer Verachtung lag Unvermögen zugrunde; die wenigsten besaßen jene Kenntnisse und jene Ausdauer, die er sich in früher Jugend erworben hatte. Er galt im Kreise der Altersgenossen als ein eigensinniger Sonderling, ein verrückter Kauz, weil er oft Monate über einem Werke zubrachte, das sie in wenigen Tagen modellierten und dann von Fremden übertragen ließen.

Pangor gehörte nicht zu jenen Künstlern, die zu ihrem Schaffen unbedingt des Resonanzbodens der öffentlichen Meinung bedürfen. Er schuf aus innerem Bedürfnis. Gestaltete mit seinen Händen einfach die Formen und Gebilde, die aus Gott weiß welchen unergründlichen Tiefen der Seele emporstiegen. Selten genügte er sich selbst. Auch er war von jenem Drange beseelt, von jener scheinbaren Unrast, die Rassezeichen ist für den echten Kunsttrieb, welche dazu treibt, wenn man kaum eine Stufe erklommen hat, diese sofort wieder als überwunden zu verlassen, um sich neuen Zielen zuzuwenden.

Seine Entwicklung war bisher eine unregelmäßige, vielfach unterbrochene, scheinbar inkonsequente gewesen. Einmal war er erstaunlich schnell vorwärts geschritten auf seiner Bahn, dann wieder hatte er sich verzögert, schien gar zum Ausgangspunkt zurückkehren zu wollen.

Sein äußerer Erfolg war bisher gleich Null gewesen. Nur wenige Leute wußten von seinem Schaffen, und diese schüttelten die Köpfe. Die Kritik beschäftigte sich nicht mit ihm, die Händler gaben wenig für seine Sachen. Er war noch nicht entdeckt.

Nur eine Person hatte ihn auch als Künstler erkannt. Lieschen Blümer glaubte an ihn, wie eben nur eine Frau an einen Mann glaubt.

*

Jutta war viel bei ihrer Freundin zu finden. Diese beiden, Lieschen und Xaver, interessierten sie mehr als alle anderen Menschen; was sie sagten und taten, erschien ihr wichtiger als alles, was bei ihr zuhause vorging.

Wenn sie in Lieschens kleiner Dachstube saß, oder wenn sie mit der Freundin in Pangors Atelier zu Besuch war, kam es ihr oft vor, als sei dies die Welt, in der zu leben es sich allein verlohne; als gehöre sie zu diesen Menschen und nicht zu den Reimers, den Knorrigs oder gar zu der weitverbreiteten Sippe ihrer mütterlichen Anverwandten: den Habelmayers.

Lieschen Blümer erkundigte sich oftmals nach Juttas Malerei. Sie fand es unrecht, daß das junge Mädchen ihre Arbeit aufgegeben habe. Fleißig und ausdauernd, wie sie selbst war, begriff sie nicht, wie man durch ein einziges ungünstiges Urteil sich derart den Mut rauben lassen könne. Sie redete Jutta zu, ihre Arbeiten vom vorigen Sommer wieder hervorzuholen, zum mindesten sie einmal Xaver zu zeigen, der ihr sagen würde, was daran sei.

Jutta empfand vor dem Bildhauer eine gewisse Scheu, die sie sich selbst nicht erklären konnte. Vielleicht war es das Neue, das Ungewohnte dieses Menschen, dessen Existenzbedingungen und Voraussetzungen sie noch nicht recht begriffen hatte, was sie Lieschens Freunde gegenüber zunächst unsicher machte.

Xaver Pangors gesellige Talente waren eben nicht groß. In einem Bauernhause aufgewachsen, hatte er keine Gelegenheit gehabt, sich im Salonton zu üben. Seine Welt war das Atelier. Da fühlte er sich Meister, da war er Feldherr, da stand er als ein Held.

Jutta sah, daß er ein echter Künstler war. Seine Sicherheit in allem, was er angriff, wie er jeden Stoff meisterte, wie er seine Gedanken zu Gebilden von ergreifender Wahrhaftigkeit gestaltete, kurz, seine ganze männlich energische Künstlerpersönlichkeit machte tiefen Eindruck auf sie. Niemals noch hatte sie seinesgleichen gesehen.

Dagegen verstand sie nicht die andere Seite seines Wesens: seine Lebensfremdheit, die Unbefangenheit, mit der er sich häufig über alle Regeln der Etikette und Konvention hinwegsetzte. Gerade diese Züge an ihm, das Kind im Manne, gewissermaßen, das aus seinen träumerischen Blicken, seinem treuherzigen Lächeln hervorging, seine Weltunerfahrenheit – alles Eigenschaften, die ihn für Lieschen zum Gegenstand steter Sorge und einer fast mütterlichen Obhut machten – befremdeten Jutta. Sie begriff nicht den Zusammenhang; der Mensch schien ihr in zwei Hälften auseinanderzufallen. Sie sah nicht, daß die Harmlosigkeit, die er sich gewahrt hatte, der Nährboden war seiner Künstleroriginalität.

Xaver Pangor war unter Menschen meist schweigsam. An großwichtigen Debatten über Kunst, wie sie seine Kollegen mit Leidenschaft ausfochten, beteiligte er sich nicht. Er war kein Dialektiker. Er gehörte zu den Künstlern, die in Formen denken, denen die Einfälle beim Arbeiten kommen: aber dann stark, plötzlich, mit einer Wucht, die sie selbst gleichsam zum Instrumente macht ihres Genius. Aber öffentliche Rechenschaft zu geben über seine Absichten, seine Ideen, wäre ihm schwer gefallen.

Dagegen war Pangor ein guter Beurteiler fremder Werke. Sein Urteil, meist knapp, traf den Nagel auf den Kopf. Weil sein Blick durch Schulmeinungen und Theorien nicht getrübt war, weil er vor allem keiner Clique angehörte, konnte er mit dem schnellen Auge des Naturmenschen erkennen, was echt und wertvoll, was gefälscht, unbedeutend, windig sei.

Jutta hatte bisher nie gewagt, Pangor merken zu lassen, daß ihre Hand Stift und Pinsel zu führen verstünde. Sie konnte sich nicht denken, daß ihre Arbeiten jemals Gnade vor seinen Augen finden könnten. Sie fürchtete, daß er vielleicht aus Nachsicht schweigen werde, um sie zu schonen; das wäre ihr noch schrecklicher gewesen als Professor Wälzers Tadel.

Aber Lieschen war stolz auf Jutta, sie wünschte, daß Xaver die Freundin auch als Künstlerin würdigen lerne.

Durch vieles Bitten wußte Lieschen Jutta die Studienmappe endlich abzuschmeicheln. Und als sich ein paar Tage darauf die Freundinnen wiedersahen, rief Lieschen schon von der Türschwelle: »Er hat deine Sachen gesehen und findet viel Talent darin!«

»Halt mich nicht zum besten!« rief Jutta, »das glaube ich dir nicht!«

»Doch! – Hör' ihn nur selbst darüber! Ich habe mich so gefreut!«

Jutta war hochrot geworden, sie fühlte ihr Herz gewaltig klopfen. Die Freundinnen umarmten einander.

Als die drei das nächstemal beisammen waren, befand sich Jutta in fieberischer Ungeduld. Würde er sprechen? Würde sie von ihm selbst erfahren, was er von ihren Sachen hielt? –

Aber es wurde zunächst von allerhand anderen Dingen gesprochen. Lieschen sah Juttas Unruhe. Sie legte es dem Bildhauer nahe, sein Urteil abzugeben.

Xaver Pangor senkte den Kopf, wie es seine Art war, wenn er nachdenken wollte. Dann nach einer Pause, die für Jutta eine Ewigkeit schien, sagte er:

»Die Sachen sind gut und schlecht, je nachdem! Schlecht sind sie als Studien, ›verhaut‹, wie wir Bildhauer sagen. Und wenn Professor Wälzer gesagt hat, es wäre keine Ehrfurcht darin vor der Natur, so hat er recht. Und trotzdem ist sein Urteil einseitig; es erschlägt das Wertvolle mit dem Wertlosen. Es ist etwas, was Zukunft hat, in Ihren Sachen. Das hat der Herr nicht gesehen; er ist wahrscheinlich Fanatiker irgendeiner Richtung oder Schule. Alles, was in so eine Kategorie sich nicht einordnen läßt, wird verworfen, existiert überhaupt nicht; ich kenne diese Professoren-Scheuklappen! ›Ehrfurcht vor der Natur!‹ ein schönes Wort, aber es trifft hier gar nicht den Kernpunkt. Mit Ehrfurcht allein kommt man nicht aus. Wenn wir bloß ehrfürchtig wären, dann würden wir aus Andacht niemals zum Schaffen kommen. Nämlich der Künstler muß auch unverschämt sein können! Und etwas von dieser göttlichen Unverschämtheit finde ich in Ihren Sachen, Fräulein Reimers. Die Natur ist vergewaltigt, aber wer von uns täte das nicht. Sie haben Erfindungsgabe, haben Phantasie, starke Phantasie! Das Temperament ist Ihnen durchgegangen, aber ich habe das lieber beim Anfänger, als peinliche Korrektheit oder gar altkluge Routine. Bravour ist hoffnungsvoller als Objektivität. Ihre Begabung liegt nach der Seite des stark Subjektiven. Sie können, wie mir scheint, gar nicht anders, als etwas von sich selbst in die Dinge hineinlegen, werden immer nur Selbsterlebtes zur Darstellung bringen, selbst in der Landschaft, selbst wenn Sie versuchen zu kopieren. Ihre Art deshalb zu verdammen, zeugt von Borniertheit, wie sie eben nur so ein Professor zustande bringt, der, am Pfahle seiner fixen Idee festgepflockt, im Kreise umgeht. Und außerdem haben Sie etwas, das auch nicht jeder besitzt: Freude an der Farbe. Da waren ein paar Blätter dabei, dekorative Landschaften gleichsam, mit starken, kühnen Farbenkontrasten . . .«

»Dem würde ja entsprechen, was du mir erzählt hast, Jutta!« fiel hier Lieschen ein. »Daß du lange, ehe du ans Zeichnen dachtest, mit allerhand farbigem Material phantastische Dinge gebildet hast. Ich habe sogar noch einige Überreste davon bei dir entdeckt!«

»Hör' auf!« rief Jutta. »Niemals hätte ich dir die scheußlichen Dinger gezeigt, wenn ich gewußt hätte, daß du davon sprechen würdest!«

»Verachten Sie nur diese Anfänge nicht!« meinte Xaver. »Die sind wahrscheinlich viel mehr wert als alles, was Sie in der Malklasse erlernt haben. In den kindlichen Versuchen des jungen Menschen spricht sich mit elementarer Kraft das Bedürfnis aus nach dem, was ihm das Naturgemäße ist. Wir sind Künstler von Geburts wegen. Die Schule kann herausholen aus uns, was in uns ist, sie kann unsere technischen Kenntnisse fördern, uns Erfahrung geben; aber größer und tiefer als wir sind, kann sie uns nicht machen. Aus uns selbst müssen wir's schöpfen! Zwei Dritteil von uns kommen nicht zur Entwicklung, weil sie einen falschen Weg einschlagen, nicht ihrer guten Anlage folgen, oder gar von den Lehrern zu etwas dressiert werden, was sie nicht können. Wenn mich ein Anfänger fragen sollte, was ich ihm zu tun riete, dann sage ich ihm als erste Grundregel: folge deinem innersten Wesen! Wenn es dich treibt, Ziegel zu streichen, so ist das viel fruchtbarer, als wenn du Bilder malst ohne Originalität. Die Befriedigung, mit der man eine Sache tut, wird einen immer noch am besten belehren, ob man auf dem rechten Wege ist. Nach dem was ich von Ihnen gesehen habe, würde ich Ihnen raten, lassen Sie Leinwand Leinwand sein! Erforschen Sie sich erst mal selbst, dann arbeiten Sie! Und wenn Sie arbeiten, nur aus wirklichem Drange! Denn das ist die zweite Kardinalregel in der Kunst: Tue nur das, wonach es dich in allen Fingern juckt!«

*

Lieschen Blümer war für Xaver mehr als Geliebte. Schwester, Mutter, Braut, Freundin, Gattin in einer Person stellte sie ihm dar.

In zehnjährigem Zusammenleben hatte er sich gewöhnt, in allen Fragen sich an sie zu wenden. Es gab kein Geheimnis, das er ihr nicht offenbart hätte. Er besaß das Vertrauen zu ihr, welches ein Kind zur Mutter hegt. Wozu etwas verbergen? Sie kennt uns ja doch! Warum sich fürchten? Sie wird uns verzeihen.

Er wußte, daß sie klüger sei als er, lebenserfahrener, weiser. Aber auch das wußte er, daß sie ihm ergeben sei bis in den Tod, daß er ihrer Liebe jedes Opfer zumuten könne, daß es nur eines Wortes, eines Winkes bedurfte von seiner Seite, um sie herbeifliegen zu machen.

Zwischen Lieschen und Xaver war nie ein fremdes Wesen getreten. Das Kind, welches sie ihm geboren hatte, war, kaum erschienen, wieder verschwunden. Nichts hatte die Innigkeit ihres Verhältnisses jemals gestört, keine Eifersucht, kein Streit, kaum einmal eine Meinungsverschiedenheit. Sie gaben das Beispiel zweier Naturen, die nahezu restlos ineinander aufgingen.

Lieschen Blümer war geboren für die Liebe; sie besaß eine seltene Eigenschaft: die Genialität der Liebe. Seit sie das Glück gehabt, den Mann zu finden, der diese Eigenschaft in ihr auslöste, existierte sie nur für den Geliebten, lebte sie nur durch seine Liebe. Seine Gegenwart war ihre Lebensluft.

Sie hatte aber auch alles dran gegeben an die Liebe. Ihr Körper war nur noch ein Schattenbild von dem, was er gewesen. Gesundheit, Kraft, Frische, Schönheit, alles hatte sie geopfert auf dem Altare der grausamen Gottheit, der sie diente.

Auch in ihrem Geschicke kam jene furchtbare Konsequenz zur Geltung, jene herbe, unerbittliche Tragik, die dem Liebesleben der ganzen Welt zugrunde liegt. Mensch, Tier, Pflanze, alles in Gottes Natur, schmückt sich mit den schönsten Farben, umgibt sich mit betäubenden Düften, entwickelt die höchste Form für einen kurzen Augenblick des Rausches. Der wird genossen, dann bleichen die Farben, der Duft schwindet, die Form verfällt: und wo keine Frucht geblieben ist, zeigen bald nur noch fallende Blütenblätter an, daß hier die gewaltigsten und vergänglichsten aller Gefühle ihre Stätte gehabt haben.

Es gibt Frauen, welche diesen schmerzlichen Zeitpunkt hinauszuschieben wissen, durch tausend Mittelchen die schwindende Jugend und Schönheit zurückzuhalten verstehen, den Genuß verlängern über das Bedürfnis hinaus. Nicht so Lieschen! Sie war dazu zu ehrlich, zu vornehm und zu herzensstolz. Um die Liebe zu fälschen, hegte sie eine zu gewaltige Ehrfurcht vor der Liebe.

Über diese Dinge hatte man keine Macht, das wußte sie. Sie gingen gleichsam über den Wolken vor sich: das was hier unten auf Erden zwischen den Menschen sich abspielte, war nur ein mattes Widerspiel von größeren Geschehnissen, die der Ewigkeit angehörten.

Sie war religiös. Der Priester zwar würde ihr die Bezeichnung einer gut katholischen Christin verweigert haben, weil sie nie in den Beichtstuhl und selten zur Kirche ging: aber ihr Glaube an einen guten Gott und an die Unsterblichkeit der Seele war fest gegründet. Sie glaubte auch an ein Wiederfinden befreundeter Wesen im Jenseits.

Gerade dadurch, daß das Mädchen nichts getan, den Freund künstlich an sich zu fesseln, daß sie ihm die volle Freiheit gelassen hatte, war es ihr geglückt, ihn mit unsichtbaren Ketten an sich zu fesseln.

Niemals belästigte sie ihn mit den kleinlichen Nöten des Alltagslebens, nie klagte sie ihm vor. Wenn er zu ihr kam, fand er sie heiter und aufgeräumt. Stets war sie bereit, auf seine Interessen einzugehen. Seine Pläne, Ideen, Entwürfe fanden bei ihr gleichzeitig kluge und warmherzige Aufnahme.

So war sie aus seiner Geliebten allmählich seine Freundin geworden. Und Xaver hatte die Wandlung kaum bemerkt, so sanft und sicher war die Hand gewesen, die ihn den Weg von der Leidenschaft zur Kameradschaft geführt hatte.

Xaver Pangor dachte selten über sein Verhältnis zu Lieschen nach. Er war Augenblicksmensch, genoß, was sich bot, mit der Naivität des Knaben, der nicht danach fragt, ob sein Genießen schädigt oder gar vernichtet. Auch dachte er nie darüber nach, was die Zukunft bringen könne, ob sie gar Rechenschaft fordern werde über Tun oder Unterlassen der Gegenwart. Lieschen war für ihn Lebensbedürfnis geworden. Ehemals war's ihre Schönheit gewesen, ihre Jugend, ihre Hingabe, die er gebraucht, jetzt war's ihre Freundschaft, ihr Rat, ihre Stütze, deren er nicht entraten konnte. Abends nach getaner Arbeit mußte er sie sehen, wollte ihre Stimme hören, die ihm die schöne Vergangenheit ins Gedächtnis zurückzauberte, durch den bloßen Klang. Im vertrauten Nest wollte er sich ausruhen von den Plackereien des Berufes, wollte die linde Tröstung der Freundin vernehmen, wenn er Zweifel hatte, wenn er mit sich und seiner Kunst uneins war.

Daß er Lieschen ganz für sich allein habe, ihre Neigung ungeteilt besitze, war für ihn nachgerade selbstverständlich geworden. Der erste Mensch, der ihm Lieschen streitig machen zu wollen schien, war Jutta Reimers.

Als Xaver nach längerer Abwesenheit nach München zurückkehrte, fand er diese Freundschaft bereits im vollen Gange. Zunächst betrachtete er die Fremde mit wenig freundlichen Blicken. Eifersucht kam über ihn. Sollte er auf einmal teilen? –

Lieschen hatte ihm bereits früher vorgeschwärmt von der Freundin. Xaver war darin Bauer, daß er gegen alles, was ihm angepriesen wurde, fürs erste sich mißtrauisch verhielt. Mit den Frauen kannte er sich wenig aus. Die sogenannten »Damen« nun gar waren ihm unberechenbare, unheimliche Wesen. Er wußte nicht recht, wie er sich Fräulein Reimers gegenüber benehmen sollte. Sie war ihm unbequem, er empfand sie als Störenfried.

Als er aber gar von Lieschen erfuhr, daß Jutta Reimers Künstlerin sei, da wuchs sein Mißtrauen. Er glaubte nicht an den Kunstberuf der Frau. Seine Ansicht war, daß sie im besten Falle die Gabe zur Nachahmung besäße. Und Lieschens Schaffen, das nie über das Kopieren fremder Werke hinauskam, hatte ihn in dieser Theorie bestärkt.

Als ihm nun aber Juttas Arbeiten vorgelegt wurden, mußte er fast widerwillig zugeben, daß hier etwas drinstecke, daß Jutta Reimers Einfälle habe, originelle Einfälle, daß sie etwas ausbilden zu wollen schien, wie einen eigenen Stil, und daß man darum über ihre Begabung nicht so ohne weiteres hinweggehen könne.

Er fing an, etwas milder über Lieschens Freundin zu denken. Außerdem sah er, daß er eigentlich nichts verliere, wenn sie jetzt häufig zu dreien statt wie bisher zu zweien beieinander waren. Die Unterhaltung hatte dadurch an Leben gewonnen. Jutta war nicht hochmütig, nicht blasiert, worauf er sie anfänglich taxiert hatte, weil sie aus einer ihm fremden Sphäre kam. Sehr schnell hatte sie sich seinem und Lieschens Ton angepaßt.

Er fand in Jutta Reimers ein junges, lernbegieriges Wesen, das seinen Rat suchte für ihre Kunst, dem jedes seiner Worte die Bedeutung des Evangeliums hatte. Und wem täte es nicht wohl, einen Menschen von sich abhängig zu sehen, bedeutete es nicht Befriedigung, die Entwicklung einer fremden Begabung in die Hand nehmen zu dürfen.

Jutta saß fortan zu seinen Füßen als gelehrige Schülerin. Er erteilte ihr keinen Unterricht; seinem Rate zufolge rührte sie Stift und Pinsel nicht an. Und doch fühlte sie sich unendlich gefördert in ihrer Kunst. Es war die innere Anschauung, die sich bildete, das Urteil, das geschärft wurde, der Horizont, der sich weitete durch seinen Einfluß.

Sie lernte von ihm, daß die Kunst nichts außerhalb des Lebens Stehendes sei, daß sie eine höhere Form sei des Lebens selbst. Und die sogenannten Kunstwerke hatten nur dann Berechtigung, wenn sie abfielen wie die reife Frucht, zwanglos, als ureigenstes Erzeugnis unserer Kräfte und Säfte. Überall konnte sich Kunst betätigen, im Kleinsten wie im Größten. Wem einmal dafür die Augen aufgegangen waren, dem formte sich alles ganz von selbst zu harmonischer Schönheit. Der empfand freilich auch die Disharmonien des alltäglichen Lebens um so härter, den konnte eine schreiende Farbenzusammenstellung kränken wie den Musiker ein falscher Ton. Solch ein Mensch lebte doppelt und dreifach. Er suchte aber auch anderen von dem Überfluß abzugeben, der seine Seele erfüllte. Wie fromme Leute die Übung des Gebetes, so bedurfte der echte Künstler den Kultus des Schönen. Sein tägliches Brot war das. Da gab es kaum Unterschiede im Bewerten dessen, was man tat und schuf. Wenn wir unseren Hausrat zweckmäßig und edel gestalteten, so war das ebensoviel, vielleicht mehr wert, als wenn wir Staffeleibilder malten, die am Ende niemanden erfreuen würden.

Das waren für Jutta noch nie gehörte Lehren. Begierig sog sie diese Weltanschauung ein. Ja, wenn das so war, dann hatte es Sinn, zu leben. Dann vollbrachte man mit jedem Tage, den man erlebte, gleichsam ein heiliges Werk, dann schuf man unausgesetzt, näherte sich dem Ziele, ohne es zu sehen. Dann kam Harmonie und Adel in alles, was man sagte und tat.

Durch solche Offenbarung fiel auch Licht für sie auf den Weg, den sie bisher zurückgelegt hatte. Sie suchte im ganzen Hause aus Truhen, Kommoden, Schränken und Mappen ihre Jugendarbeiten zusammen. Da war Gesticktes, Gepapptes, Geflochtenes, aus Wachs Modelliertes, Gemaltes. Alles das hatte erneuten Wert für sie bekommen, seit er ihr die Bedeutung solcher Dinge erklärt. Wieviel Liebe hatte sie in diese längst unscheinbar gewordenen Sachen und Sächelchen gelegt! Was hatte sie sich alles dabei ausgedacht, was für Phantasien, Anschläge, Pläne und Hoffnungen daran angesponnen! In Vergessenheit war alles das geraten, bis er es aufleben machte durch seine Worte. Nun verstand sie auf einmal den Sinn dieser ganzen Periode; es war nicht kindische Tändelei gewesen, sie hatte sich damals schon vorbereitet auf Größeres.

Jutta ahnte, daß sie vor einem neuen Abschnitte ihres Lebens stehe. Sie fühlte sich gefördert in Verstehen, Geschmack, Urteilen und Empfinden. Er hatte ihr, ohne es zu wissen und zu wollen, weit mehr gegeben als bloße Winke für ihre Kunst. Sie war gewachsen, in allen Fähigkeiten gestärkt und vertieft durch ihn.

*

Lieschen war glücklich über die Ergänzung, welche ihr Verhältnis zu Xaver durch Juttas Hinzutritt bekommen hatte. Endlich ein Mensch, bei dem er Verständnis fand. Sie hungerte ja nach Anerkennung für ihn. Jedes Wort der Bewunderung, das ihm galt, tat ihrem Herzen wohl.

Sie wußte es nur zu gut, daß er, der niemals um Lob gefeilscht, dem alle Sensation, alle Reklame als unkünstlerische, unwürdige Mittel in tiefster Seele verhaßt waren, doch ein heißes Bedürfnis fühlte, sich anerkannt zu sehen. Wie jeder, der etwas kann, etwas zu geben hat, wollte auch er sich durchsetzen, Menschen an sich heranziehen, Seelen erobern, Liebe gewinnen, sich mitteilen, sich aussprechen, Gaben verteilen und Gaben zurückempfangen.

Lieschen wußte, daß das Einsiedlerleben, welches er führte, ihm auf die Dauer nicht gut sein könne. Ein Künstler hat mannigfaltige, komplizierte Bedürfnisse. Für das Große, was er verausgabt, muß er Großes einnehmen. Er fühlt Hunger und Durst nach Anmut, Anmut der Formen, Anmut des Verkehrs. Seine Sinne sind verfeinert, seine Nerven verwöhnt, er hat Organe bei sich ausgebildet, die dem Durchschnittsmenschen fehlen. Zu seinem Leben bedarf er viel mehr als die alltägliche Nahrung; jene höchste Schönheit ist ihm Notwendigkeit, die vom Menschen ausgeht, die nur der Mensch dem Menschen offenbaren kann.

Einstmals, das wußte Lieschen, hatte sie ihrem Freunde das gewährt; alles hatte sie ihm geben können, weil sie alles besaß: Jugend, Schönheit, Zärtlichkeit, Feuer der ersten Liebe. Nun war von alledem nur geblieben die Freundschaft.

Sie hatte sich aufgebraucht. Das Leben an seiner Seite war hart gewesen. Armut, Entbehrung, Wochenbett, Krankheit, Sorge um den Unterhalt waren die mörderischen Feinde, die ihr Jugend und Schönheit geraubt hatten.

Xaver stand im selben Alter wie Lieschen, und doch war er um viele Jahre jünger als sie. Sie alterte schnell; der Spiegel sagte es ihr täglich. Und er stand in der Blüte der Manneskraft.

Wie stark er liebte, wie die Liebe ihm Bedürfnis war, des Leibes wie der Seele, das wußte sie; denn sie war durch Jahre ihm alleinige Genossin gewesen. Gemeinsam hatten sie, als halbe Kinder, die ersten Schritte gewagt in das Mysterium der Liebe. Wer des anderen Lehrmeister gewesen, wußte keines zu sagen. Denn beide waren sie keusch und unentweiht, als sie einander fanden.

Herrlich, köstlich war die Erinnerung an jene erste Zeit. Sie konnte das Herz jung erhalten; aber die Spuren des Kampfes tilgte sie nicht, das Siechtum nahm sie nicht von dem gebrechlichen Leibe. Das Haar konnte nicht wieder schwarz werden, die welke Haut nie und nimmer den alten Schmelz wiedergewinnen.

Niemals wieder würden sie einander mit den Augen der ersten Liebe ansehen. Das Feuer der Sinne war erloschen, nichts konnte es mehr anfachen. Diese Dinge mußten ruhen in ihrem Grabe. Je mehr schöne Blumen darüber wuchsen, desto besser! Aber ein Grab blieb es darum doch!

Für sie selbst tat es Lieschen nicht leid. Sie zürnte dem Geschicke nicht. Sie hatte das ihre gehabt, war gesättigt von Glück. Für sie hatten manche Szenen und Erlebnisse Ewigkeitswert; einen Schatz besaß sie davon aufgespeichert, von dem sie jederzeit zehren mochte.

Anders der Mann! Sein Sehnen konnte unmöglich gestillt sein. Die Erinnerung an Genossenes bedeutete für ihn einen Antrieb mehr, neuen Genuß zu suchen. So war es in der Natur der Geschlechter begründet.

Er liebte sie, war ihr treu, das wußte sie. Es war ihr höchster Triumph, daß er sie so frei, so ohne jede Nebengedanken, Rücksichten und Fesseln, so ganz um ihrer selbst willen liebte. Jeder seiner Besuche war ihr wie ein Geschenk. Die kleinste Aufmerksamkeit von seiner Seite erfüllte sie mit der Dankbarkeit der Braut. Seine Treue hatte etwas Rührendes für sie. Sie genoß ihr Glück mit der melancholischen Innigkeit eines Menschen, der sich bewußt ist, daß alles einmal ein Ende haben muß und daß auf Frühling und Sommer Herbst und Winter folgen müssen.

 


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