Alfons Petzold
Der stählerne Schrei
Alfons Petzold

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Legende.

        Herr Jesu liest in der Bibel, Frau Maria summt leise und spinnt,
In einer Ecke des Himmels deutsche Soldaten versammelt sind.
So wie sie kämpften und starben in Ost und West vor dem Feind
Hat sie die schummrige Stunde im Kreise der Engel vereint,
Sechzehn- und Siebzehnjährige, Herz und Gesicht noch rein.
Männer mit Stirnen wie aus zermeißeltem Stein,
Viele mit Tressen
Und mit dem Kreuz aus Eisen geschmückt,
Sitzen nach dem himmlischen Abendessen,
Die Blicke vertrauert,
Eng aneinander gekauert,
Und leidgebückt.

Sie hören nicht der heiligen Leute Weihnachtsgesang,
Das Geigen der Englein, das Tönen der Sterne;
Das Leuchten der Wände macht ihre Augen krank
Und so wild, so schmerzlich und bang
Sehnt sich ein jeder nach der deutschen Ferne.
Ob es der alte zersäbelte Oberst ist,
Oder die ernsten Hauptleute und jungen Offiziere,
Schipper, Jäger oder Grenadiere,
Der römische, der luthrische Christ,
Der Heide, der Jude und Sozialist –
Sie alle halten ihr Herz in der Hand
Und lassen es inbrünstig beten: Vaterland!

Und auf einmal spricht ein vergrauter Soldat,
Einer der keinen Streifen hat –
Aus träumender Tiefe wie ein Schläfer spricht:
»Ich seh' eine Stube mit einem schüchternen Licht,
Die Tür ist verschlossen, die beiden Fenster vereist
Und ringsum ist Erde, Erde, die Deutschland heißt!
O könnt' ich dort liegen und wär' es im harten Schnee
Und könnten die Hände nichts fassen als einen Stein,
Und würde ich nur ein hungernder Landstreicher sein
Es müßte mein Herz nicht brennen so wund und weh.«

Die Männer im Kreise hören's mit schwerem Sinn
Und als er geendet, seufzen sie vor sich hin:
»Und müßten wir liegen im härtesten Eis und Schnee,
Es würden die Herzen nicht brennen so wund und weh!«

Ein Leutnant, dem es die Kehle würgt
Springt auf und hat sich vor Jesu gestellt:
»Herr Jesu, erhör' unser eisernes Flehn,
Herr Jesu, laß uns noch einmal gehn
Hinab auf unsere deutsche Welt!
Mit meinem Säbel sei es verbürgt:
Wenn die Engel singen zum Frühgebet,
Sind wir wieder daheim!«

Und Christus sagt: »Geht!«
Winkt: vier Cherubime in schwebendem Lauf
Schieben ein glänzendes Tor weit auf.
Deutsche Soldaten, eng aneinander gereiht,
Scheitel und Seele von Sehnsucht nach Heimat geweiht,
Schreiten und reiten hinab auf die finstere Erde.
Es klappern die Stiefel der Menschen, die Hufe der Pferde,
Es suchen die deutschen Berge viele glückliche Augen,
Viel schwellende Brüste den Duft deutscher Ströme saugen.
Sie ziehen durch Wälder, sie ziehen die Täler entlang
Und sind nichts mehr wie ein großer stiller Gesang:
Deutschland!
Sie beugen die Häupter im Gruß vor jedem schlafenden Ort,
Legen den Mund an die Bäume und seufzen ein seeliges Wort:
Heimat!

Und als der Hahn einer Höckerin schreit,
Kehren sie heim in die Seeligkeit.
Gerade wie die Morgenandacht beginnt,
Die deutschen Soldaten wieder im Himmel sind.
Orgelton jubelt entlang den himmlischen Höhn,
Die Engel und Heiligen singen noch einmal so schön.
Der Leutnant, die Hand an dem Kappenschnitt,
An den Chorstuhl der heiligen Familie tritt:
»Melde gehorsamst, vollzählig heimgekehrt.
Ich bitte um mein verpfändetes Schwert.«
Da lächelt Herr Jesu, sagte einem Cherub etwas ins Ohr –
Stille der Wunder steigt aus der Tiefe empor,
Johann Sebastian Bach tritt in den Orgelraum . . .
Der ganze Himmel träumt einen deutschen Traum.


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