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Baron Sporn hatte sich an die Spitze aller Bestrebungen der Kriegsfürsorge in Garnheim gestellt. Die anderen Herren, die es näher angegangen hätte, der Bezirksamtmann und der Bürgermeister, waren ihm viel zu schwerfällig. Die mußten für alles erst ein Münchener Vorbild haben und dann noch eine Aufforderung oder Einladung von einer Hauptstelle, ehe sie selber eine Versammlung einberiefen, und da bedachten sie und debattierten noch lange hin und her. Der alte Baron lief sich den ganzen Tag die Beine ab, schrieb zu Hause Briefe an alle möglichen Personen und Stellen und hielt in größeren Versammlungen Reden, die vielen Beifall fanden. Sehr gern ließen sich die anderen Herren seinen Arbeitseifer gefallen und hatten auf alle Fragen aus der Bürgerschaft die Antwort bereit:
»Wenden Sie sich an Baron Sporn.«
Infolgedessen war das Haus an der Mauergasse namentlich in der ersten Zeit überlaufen. An seine Sammlungen und Gelehrtenarbeiten dachte der Baron kaum mehr, und als die Gattin eines Tages sich darüber verwundert äußerte, sagte er:
»Alles muß am rechten Ort und zur rechten Zeit geschehen. Ich konnte die Spezialisten nie leiden, die sich in ihr Fach wie in ein Schneckenhaus verkriechen, aus dem sie sich nicht herauslocken lassen, wenn die Welt in Flammen stünde. Nun wohl, sie steht jetzt in Flammen. Klein wird jede Wissenschaft, wenn es um das Schicksal eines großen Volkes geht. Das müssen wir ihnen zeigen, den Friedensbrechern, daß wir nicht bloß Silbenstecher und Mückenfänger sind, sondern ein Volk von Kriegern. Wenn das Schwert redet, schweigen alle Bücher!«
Ein bißchen possierlich war der kleine alte Herr mit der hellen Stimme als Führer des Kriegerchors. Aber er fühlte sich glücklich in seiner neuen Rolle, sie verjüngte ihn. Aga ging auch jetzt wieder dem Onkel hilfreich an die Hand. Ebenso war sie eine dankbare Zuhörerin für seine häusliche Beredsamkeit über die Dinge der Zeit und schien sich von ihm zu lebhafterem Interesse an solchen Unterhaltungen fortreißen zu lassen. Die große Schlacht in Lothringen war geschlagen. Garnheim prangte im Flaggenschmuck. Aber in den Jubel, daß es gerade der bayrische Kronprinz war, der als erster einen bedeutenden Sieg erfochten hatte, mischte sich auch gleich bange Erwartung, denn die Mutmaßungen gingen dahin, daß auch das Garnheimer Bataillon an dem Kampfe beteiligt gewesen sein werde. Einheimische dienten ja nicht im Bataillon, aber als die näheren Botschaften kamen, da war doch mancher dem dunklen Schlachtenlos verfallen und man betrauerte ihn als lieben Freund herzlich. Ein beliebter Hauptmann hinterließ eine junge Witwe mit zwei kleinen Kindchen, zwei jugendfroh blühende Leutnants waren dahin. Heiße Tränen aber weinte Julie Wegener. Ihr war der Bräutigam, Oberleutnant Resch, gefallen. Unmittelbar vor der Mobilmachung hatte er sich erst erklärt, und man hatte zunächst an eine Kriegstrauung gedacht, aber Mama Wegener hatte sich in diese Form der Eheschließung nicht finden können, und so hatte man es bei einer stillen Verlobung bewenden lassen. Das waren für Garnheim die ersten Anzeichen, daß sie nun gekommen waren, die Tage, in denen noch öfter Trauerklage dem Siegesjubel folgen würde. Major von Falk hatte sich das Eiserne Kreuz und den Bayrischen Militärverdienstorden geholt.
»Gewaltiges Erleben war es,« schrieb er. »Aber der Tod verliert seinen Schrecken gerade dann, wenn man ihn so gründlich an der Arbeit sieht, wie er sie mit den Maschinengewehren betreibt. Leben oder Sterben ist da nur mehr: ›Wird mich die Mücke stechen oder wird sie weiterfliegen?‹ Mit der Hand kann man sie nicht abfangen, also läßt man es darauf ankommen. Aber die Lust an der Tat, der Vorwärtsdrang des Willens, das Schwellen der Kraft, der Schwung, den der ganze Kerl kriegt, das, liebes Schwesterlein, ist ein Hochgefühl, das nichts zu tun hat mit dem aufgeregten Diensteifer im Manöver, das ist etwas so Großes, Herrliches, das über einen kommt, daß man an das Wörtchen ›Tod‹ gar nicht mehr denkt. Um den Hauptmann, den Oberleutnant und die zwei jungen Leutnants, die ich verlieren mußte, ist mir's leid. Ich hätte den Braven gegönnt, daß sie noch mehr Gelegenheit bekämen, sich auszuzeichnen. So gleich am Anfang ist's doch gar zu früh – – –«
Aga hatte erst an der erregten Spannung und dann an der freudigen Gemütsbewegung des Fräuleins von Falk vollen Anteil genommen, und zwar mußte sie sich selbst bekennen, daß dabei mehr persönliche Regung in ihr war, als die herzliche Hausfreundschaft eigentlich mit sich brachte. Auf einer früheren Karte und in einem Brief hatte er sie grüßen lassen. Diesmal hatte er gar nicht an sie gedacht. Unter den Eindrücken einer großen Schlacht – – – es war erklärlich und doch kamen ihre Gedanken mehrmals darauf zurück, daß es sie sehr gefreut hätte, wirklich sehr, hätte er ihr gerade diesmal einen Gruß geschickt.
Ein paar Tage später war es. Da las sie in der Münchener Zeitung, die Onkel Sporn hielt, eine große Anzeige, die den Tod der Baronin von Hottenbach zu Innsbruck infolge von Herzlähmung meldete. Sie ließ das Zeitungsblatt in den Schoß sinken und hielt sich eine Hand an die Stirn, als wollte sie zurückdrängen, was sich da drinnen im Gehirn zu Gedanken formen wollte. Sie konnte aber dem Anreize nicht widerstehen, weiterzulesen. Da stand er denn auch gleich an der Spitze der Hinterbliebenen. Der verhaßte Name, der ihr sofort das Blut gegen den Kopf trieb: ›Max Freiherr von Hottenbach, Königlicher Kammerjunker und Oberleutnant der Reserve, zurzeit im Felde‹ stand dabei. Das stand auch bei dem anderen Sohn, dem Legationssekretär, und beim Schwiegersohn, der Rittmeister war. Alles, alles kam wieder heran, das Vergangene, das qualvoll Durchlittene. Sie war dahin, die Ursache alles Unheils, die große Sünderin war tot, deren Sünde Paul zum Opfer fiel. Herzlähmung, das war ein rascher, aber ein ganz natürlicher Tod. War es vielleicht durch Kummer gekommen, durch die Angst vielleicht um den Sohn, der im Feld stand? Sie hatte ja noch einen anderen, aber der, der war ihr doch durch besondere Umstände verbunden. Es war etwas wie ein Trauerspiel gewesen, das Leben dieser alten Dame? – – – Das wär's gewesen, wenn sie es erlebt hätte, daß er in der Schlacht fiel. So aber war ihr diese bittere Sühne erspart geblieben. Aber wenn er doch noch fiel? – – – Einen Heldentod nannte man das jetzt, der ehrenvollste Tod war es, den es gab – –
Sie wollte ihnen entfliehen, diesen wilden, bösen Gedanken, die da wieder aufstiegen aus der Tiefe der Seele und am Herzen rüttelten und zerrten, es wieder zu zwingen zur Raserei, rachgierigem Hasse. Aber ihre Füße waren gelähmt, sie war gefangen, aus allen Ecken grinsten sie wieder die Dämonen an, die fürchterlichen, denen sie sich schon entronnen glaubte, und wollten wieder ihre Herrschaft über sie geltend machen. »Du hast Paul vergessen! Du bist Paul treulos geworden,« zischelten sie. Eine alte Frau ist gestorben. Leid war durch die alte Frau über sie gekommen. Aber die Frau ist jetzt tot, also sei ihr verziehen. Dem anderen, dem Sohn, verzeiht sie nicht, nein, das tut sie nie. Sie hat Paul nicht vergessen, nein, und sie ist ihm nicht untreu geworden, o nein, nein! – – – Es war ja alles schon so gut geworden und jetzt soll die arme Seele hinein in neue Qual und Wirrnis! Wer hilft ihr? Sie kann's nicht mehr auskämpfen, so ganz allein!
Wohl vergingen diese Nöte wieder wie ein Fieberanfall, aber es blieb eine Unruhe zurück, die sich nach einem ganz anderen Ziele kehrte als dem ihres Hasses. Sie mußte zu viel an Falk denken, die Gespräche mit der Schwester, die sich fast ausschließlich um die Person des Majors drehten, hingen sich zu fest ein, klangen zu lange nach. Sie kam sogar dazu, ihn mit Paul zu vergleichen. Die zwei waren doch so ganz verschieden, und auch der Gesichtspunkt, aus dem beide für sie in Betracht kamen, war doch ein ganz anderer. Falk war ein Mann, zu dem man hingezogen wurde wie zu einer vertrauenswerten Person, zu einem zuverlässigen Freund, einem Berater in ernster Lebenslage. Wenn so etwas zwischen einem Manne und einer Frau möglich gewesen wäre, hätte sie sich gern mit ihm über ihre ganze Not ausgesprochen. Oder doch nicht? Er hätte am Ende den Mißbrauch, den sie mit seiner Erzählung von der korsischen Vendetta getrieben hatte, ihr hart angerechnet, gar nichts mehr von ihr wissen wollen. Er dachte gewiß ernst und streng von Frauenart. Man konnte ihn nicht gerade häßlich nennen. Aber Paul – – – kein Vergleich!
Herr von Falk hatte seiner Schwester geschrieben, daß er, zum Oberstleutnant befördert, das Kommando eines Reserveregiments übernommen habe. Vierzehn Tage darauf bekam sie aus dem Lazarett Peronne eine von ihm diktierte Feldpostkarte:
»Liebes Schwesterchen! Habe in der Gegend von …, wo wir im Schützengraben erfolgreich fürs Vaterland arbeiteten, Schuß durch rechte Schulter erwischt und bin hier in Behandlung. Nichts Gefährliches – keine Sorge – nur ärgerliche Zeitversäumnis von einigen Wochen. Mein bestes Kompliment an die Gräfin, herzliche Küsse für Bubi. Liebenswürdiger Kamerad schreibt für mich. Unterschrift kann ich selbst kratzen. In brüderlicher Liebe
Beigefügt war zu lesen: »Mit ergebenem Gruß erlaube ich mir zu melden, daß Herr Oberstleutnant sich mit mir im Schimpfen über gemeinsames Pech vereint, daß wir also beide leidlich wohl sind.« Zöllner, Hauptmann.
Acht Tage darauf kam aber ein Brief des Oberstabsarztes mit dem Bericht, daß sich beim Herrn Oberstleutnant Komplikationen infolge Einwirkung von Geschoßgasen ergeben hätten, die eine Operation am rechten Ohre nötig gemacht hätten. Ohne daß Gefahr vorhanden sei, werde die Behandlung doch längere Zeit in Anspruch nehmen.
Durch Onkel Sporns Vermittlung erfuhr man von ärztlicher Seite, daß sich in dem jetzigen Feldzuge schon vielfach solche eigentümlichen Nebenwirkungen von in den Körper eindringenden Geschoßgasen bei Verwundungen gezeigt hätten. Es kamen weiterhin gute Nachrichten. Nach drei Wochen traf aber ein eigenhändiger Brief Falks ein, worin dieser sehr übellaunig meldete, daß die »Ohrengeschichte« viel mehr Umstände mache als die eigentlich schon ziemlich wieder in Ordnung gebrachte Wunde und er deshalb zunächst zu einer Autorität nach Würzburg reisen und sich dann daheim in Garnheim auskurieren werde. »Sofern der Oberstabsarzt mich nicht angeschwindelt hat und ich nicht am Ende als ›Gehörinvalid‹ erledigt bin, kann ich dann noch rechtzeitig wieder Anschluß nehmen, ehe das Ende mit Gloria Viktoria gekommen.«
Und eines Tages war er da. In wohlgepflegtem Vollbart, über dem rechten Ohr ein mit schwarzer Seide bezogenes Plastron, trat er Aga mit rascher Bewegung entgegen und streckte ihr etwas steifarmig die Rechte hin. Als sie zaghaft ihre Hand in die seine legte, drückte er ihre Finger kräftig mit der Bemerkung: »Einen anständigen Gruß kann ich mir schon leisten.«
Im Laufe der Unterhaltung sagte er auf einmal lächelnd:
»Frau Gräfin sehen immer nach meinem Vollbart. Der ist jetzt in Würzburg wieder veredelt worden, nachdem mir der Professor dort gesagt hatte, ich solle ihn als Schutz gegen Erkältung noch bis auf weiteres stehen lassen.«
Aga sagte:
»Er kleidet Sie ganz gut, Herr Oberstleutnant, ist nur ungewohnt für mich.«
Es war gar nicht der Vollbart gewesen, bei dessen Betrachtung sie sich hatte ertappen lassen. Ihr Blick hatte sich vielmehr immer auf seine Augen gelenkt, die stets einen sehr intelligenten Ausdruck gehabt hatten, der aber jetzt wesentlich anders geworden war, wie in weite Ferne schauend, wie visionär hätte sie beinahe sagen mögen. Aus den Karten und Briefen, die ihr Fräulein von Falk zu lesen gegeben, hatte etwas Barsch-Humoristisches, richtig Oberstenhaftes herausgeklungen. Der Mann vor ihr sprach ganz anders, auch anders als früher, viel weicher, fast schüchtern.
Der Ausdruck der Augen blieb, die Sprechweise aber hatte bald wieder den früheren, ruhig bestimmten, langsam erwägenden Charakter angenommen. Er erzählte sehr hübsch, sehr anschaulich von Kriegseindrücken, sprach aber von der eigenen Person möglichst wenig, und wenn es sich nicht umgehen ließ, dann kam diese seltsam rührend weiche Schüchternheit wieder in Erscheinung, die im vollen Gegensatz zu der kraftvollen Begeisterung stand, mit der er seiner Meinung über Deutschlands Zukunft Ausdruck gab.
»Das ist einer der köstlichsten Gewinne, daß man wieder an ein Heldentum glauben müssen wird. So niedrig war ja die allgemeine Denkart geworden, daß nur mehr Schlauheit, Fixigkeit, Streberei als erstrebenswerte Eigenschaften galten. Heldentum belächelte man als alte Mode, nicht einmal die Komödianten wollten mehr Helden spielen. Das meine ich auch gar nicht, das auf hohem Roß einhersprengende schwertschwingende Bilderheldentum, das ist in der Tat aus der Mode gekommen; das Heldentum des Schützengrabens, das Heldentum, das sich der modernen Artillerie entgegenstellt, dieses Nerven beherrschende, stillstehende Heldentum ist es, das uns zu einem Riesengeschlecht machen muß, das auch im Lebenskampf dem Furchtbaren Trotz zu bieten die Kraft hat. War's doch zuweilen, wie der Jüngste Tag nicht anders sein kann, wahrhaftig, als hätte die Hölle sich geöffnet mit Rauch, Feuer, Gestank, Krachen, Pfeifen, Rasseln, Knattern, in solcher Art unerhörten Geräuschen, die auch das Manöver nicht ahnen läßt. Dann kamen erst noch die Reihen der Toten und Verwundeten, die brennenden Dörfer. Und unsere Jungens gingen vorwärts bei allem Höllenspuk und standen in ihren Gräben auf der Lauer unentwegt bei Wind und Wetter, in Kot und Nässe wochen-, monatelang. Es war kaum noch ein Menschenleben zu nennen, Entbehrung war es, härteste Entbehrung, sage ich Ihnen. Und mir sind mehr als einmal heilige Schauer gekommen, angesichts dieses in seinem äußeren Schmutze erhabenen Menschentums. Wenn die Leute nun ins bürgerliche Leben kommen – das muß ja ein Heldenleben in allen Dingen geben, unsagbar herrlich muß das werden!«
Wenn er so sprach, als zukunftsfreudiger Sieger, dann sah ihm Aga mit klopfenden Pulsen in die Augen, wie sie verklärt ins Weite gingen. Er war, so dünkte ihr, selber vor allen ein Held, ein bedeutender Mann war er, ein Ehrfurcht gebietender, ein Mann mit großer Seele.
Onkel Sporn verstand es so gut, den Oberstleutnant in solche gehobene Stimmung zu bringen. Das schien diesem zu gefallen, denn die Freundschaft zwischen den beiden war inniger als je, und Herr von Falk ließ sich viel im Hause sehen.
Als Aga wieder einmal bei Falk war, bemerkte sie mit peinlicher Verwunderung einen leisen Wink des Oberstleutnants zu seiner Schwester, auf den diese sich entfernte.
Falk begann dann sogleich:
»Verehrte Frau Gräfin, ich halte den Zeitpunkt für gekommen, eine Verpflichtung zu erfüllen, die ich von draußen mitgebracht habe und mit deren Erfüllung ich bisher nur wartete, weil ich erst Ihres freundschaftlichen Vertrauens versichert sein wollte. Wenn ich mich keiner Selbsttäuschung hingebe, darf ich ein solches wohl voraussetzen.«
Vor dem sanften, aber eindringlichen Blick, mit dem er sie dabei ansah, senkte Aga errötend die Lider und nickte zugleich kaum merkbar mit dem Kopf.
Falk behielt den Blick fest auf sie gerichtet, als er in gedämpftem Ton, durch den es wie bittend klang, sagte:
»In dem Reserveregiment, dessen Kommando ich zuletzt zu führen die Ehre hatte, stand als Hauptmann Baron von Hottenbach – – –«
Aga fuhr mit einer jähen Gebärde der Abwehr zusammen.
Der Oberstleutnant berührte sanft ihren Arm und sagte:
»Er ist tot, und eine letzte Bitte ist es, die ich von ihm bringe.«
Aga bog wie schmerzlich den Oberkörper und sagte stöhnend:
»Herr von Falk, lassen Sie es genug sein. Der Mann ist tot – – – also – – –«
»Also ist seine Schuld gesühnt. Ist es so gemeint, Frau Gräfin?«
»Also will ich nichts mehr von ihm hören,« stieß Aga, sich wie in Grauen schüttelnd, hervor.
Herr von Falk sah eine kleine Weile schweigend vor sich hin.
»Sie müssen mich anhören,« sagte er dann streng. »Die Bitte eines Sterbenden ist heilig.«
»Ich soll ihm verzeihen, daß er mein Leben zertrümmert hat? Nicht wahr?« wehrte sich Aga im Tone der Auflehnung gegen einen Zwang.
»Ja, das sollen Sie,« lautete die Antwort. »Diese Großmut wird Ihre Seele vom Drucke der Verbitterung befreien und Ihr Leben wird sich wieder aufrichten. Jetzt müssen alle groß denken lernen, die Frauen nicht zuletzt. Wir brauchen hochherzige Frauen, Frauen von erhabener Güte.«
Milder setzte Falk hinzu:
»Ich weiß, daß Sie ein gutes Herz haben, und es wird Ihnen nicht schwer fallen, das Rechte zu finden, wenn Sie mich angehört haben. Darf ich weitersprechen?«
Aga machte eine matte Kopfbewegung.
Er erzählte:
»Das Regiment hatte, als ich es übernahm, so schwere Kämpfe hinter sich und war an Offizieren und Mannschaften so reduziert, daß man die Ergänzung eine Neuformation hätte nennen können. Hottenbach hatte sich sehr ausgezeichnet, war vom Oberleutnant zum Hauptmann befördert und besaß sowohl Verdienstkreuz wie Eisernes. Mir wurde gleich erzählt, daß die Leute ihn für kugelfest hielten, weil es ihnen bei seiner Verwegenheit wunderbar erschien, daß er ganz unverletzt geblieben war. Die Offiziere, die von dem Unglück wußten, das er gehabt –«
Auf eine Bewegung Agas hin unterbrach sich der Oberstleutnant und sagte mit Nachdruck:
»Es war auch für ihn ein schweres Unglück.«
Dann fuhr er fort:
»Die Offiziere also waren der Meinung, sein tollkühnes Wesen sei von einer bestimmten Absicht geleitet. Ich hatte ein scharfes Auge auf ihn und fand auch bald Gelegenheit, sein unvorsichtig draufgängerisches Verhalten zu rügen und ihn auf die Verantwortung eines Kompagniechefs hinzuweisen. Als er ein zweites Mal Anlaß zu einem Verweis gab, nahm ich ihn scharf vor, sagte ihm seine Absicht auf den Kopf zu und erklärte es als grobe Pflichtverletzung und schlechte Haltung eines Offiziers, im Kampfe fürs Vaterland einen Ersatz für den Selbstmord zu suchen. Nach diesem dienstlichen Vorgehen sprach ich ihm menschlich herzlich zu. Dabei erfuhr er, daß ich mit Ihnen in freundschaftlichem Verkehr stehe. Jetzt schloß er sich mir auf und enthüllte mir das tiefe Elend, in dem er lebte. Er tat mir in der Seele leid, denn er war auch nur ein Opfer unseliger Verhältnisse, kein schlechtweg böser Mensch.«
»Nein, das war er nicht,« unterbrach sich auf eine Bewegung Agas hin Falk noch einmal. »Das zu betonen bin ich dem Kameraden schuldig, der in Ehren gefallen ist.«
Dann nahm er wieder den Faden seiner Erzählung auf:
»›Der Tod ist ja nicht das Schlimmste,‹ sagte der Baron. ›Schlimmer, als einen Menschen töten, ist es, einem ganz Unschuldigen sein Lebensglück zu zerstören. Das ist mir geschehen, darum kenne ich es. Ich habe mich aber nicht abhalten lassen, es doch dieser Gräfin zuzufügen, die so glücklich war. Das ist's, was mein Gewissen foltert, und die größte Qual ist die, daß ich von ihr keine Verzeihung bekommen kann, solange ich lebe. Wenn ich tot wäre, dann würde sie mir vielleicht verzeihen, und meine Seele fände Ruhe. So aber sehe ich sie immer vor mir, die klagende, anklagende schöne junge Frau, Tag und Nacht sehe ich sie, Jahre hindurch, und das ist schon die Hölle auf Erden, ist unerträgliche Pein.‹
Bald darauf erfuhr er den Tod seiner Mutter. Als ich ihm, der wie ein Wahnsinniger aussah, mein Beileid zu erkennen gab, sagte er: ›Sie starb um mich. Ich aber muß leben bleiben, weil ich ein anständiger Soldat bleiben will, wie es mir Herr Oberstleutnant erklärt haben.‹
Ein paar Tage darauf stand ich vor dem Sterbenden.
›Ich hab's nicht gesucht, gewiß nicht,‹ sagte er, und dann sprach er noch mit einem dringlich flehenden Blick:
›Wenn Sie heimkommen, vielleicht verzeiht sie mir jetzt doch.‹
Das habe ich Ihnen zu melden, Frau Gräfin,« schloß Falk. »Und ich selber bitte, bitte dringend um Verzeihung für meines unglücklichen Kameraden Schuld. Frau Gräfin, die Bitte eines Sterbenden, eines sterbenden Soldaten bringe ich. Haben wir's nicht verdient da draußen, daß man Gnade übt an unseren Sünden? Und er war der Ärmsten einer. Machen Sie ihm die Erde leicht, dem das Leben durch seine Schuld so schwer geworden war.«
In Agas Zügen zeichnete sich der Kampf ihrer Seele, und Falk drang weiter in sie:
»Machen Sie sich selber frei von dieser düsteren Verkettung der Dinge, in die Sie der Lauf des Lebens gedrängt hat und in der Sie nur Ihr Bestes verlieren. Man darf dem Schicksal nicht unterliegen, man muß es überwinden. Die Zeit des Mutes kommt wieder, die Zeit des Lebenswillens. Wir müssen siegen, hat es bei uns draußen geheißen, und so sollen auch Sie sagen: ›Ich muß siegen über das, was finster, trübe ist in mir.‹
Sie sind jung, Frau Gräfin, Sie haben ein Kind, das ein Recht auf Sie hat, und wir alle haben ein Recht auf Sie, daß Sie Ihre Tugenden geltend machen und mit Ihrem jungen Leben nützen, Segen stiften. Eine neue Welt gilt es zu schaffen, und keiner darf da zurückbleiben und nur seine eignen Schmerzen liebkosen.«
»Ich bin in Ihrer Gewalt,« sagte Aga endlich schwer atmend. »Sie haben die Kraft und die Kunst, gegen die ich nicht ankomme. Es wird wohl so sein müssen, wie Sie sagen. So sagt es ja auch die Religion: ›Er ruhe in Frieden!‹ Aber jetzt, bitte, lassen Sie mich nach Hause gehen.«
Sie hatte sich erhoben. Herr von Falk küßte ihr die Hand, anders als nur in der Art ritterlicher Sitte. Mit Bewegung sagte er:
»Ich danke Ihnen, danke Ihnen innigst. Ich habe Ihr Gemüt bedrängt, aber es mußte sein. Nicht um den toten Kameraden allein ging es mir.«
»Guten Tag, Herr Oberstleutnant. Grüßen Sie die Schwester.« sagte Aga hastig und ging. –
Zu Hause ordnete sie mühsam und mit ängstlichem Zagen ihre Gedanken. Was hatte sie getan, was war mit ihr geschehen? Sie hatte ja alles hinter sich geworfen, was ihr Lebensinhalt gewesen war. Sie hatte sich in einem Überfall entreißen lassen, was sie hätte festhalten müssen um der Treue willen gegen Paul. Dieser Mann, dieser Falk, hypnotisiert hatte er sie, eine Macht hatte er geübt – – die Worte, die Worte, die sie sich aus dem Gedächtnis noch einmal vorsagte, waren es nicht, der Klang, der Blick – – – Sie hatte sich gewehrt, wild gewehrt und dann war sie erschöpft, dann wäre sie ihm in die Arme gefallen, wenn er sie ausgebreitet hätte. Sie stöberte in ihren beiden Zimmern herum mit hastigen Tritten, und mit bebenden Händen suchte sie nach all den Erinnerungen an Paul, die sie besaß, betastete und besah sie sinnend. Da war der Brief, der schreckliche letzte Brief. Sie las ihn Wort für Wort, Silbe um Silbe. Da stand es, stand es ganz deutlich, er gab sie frei für den würdigen Mann, der käme. Ob Falk würdig war! Sie brach dem Toten nicht die Treue, sie durfte, was sie mußte.
Sie ging in die Kirche und betete für Pauls Seele und für die Seele – Max Hottenbachs, sie beichtete ihre Haß- und Rachegedanken und wurde losgesprochen. Dann harrte sie des Tages, der kommen sollte.
Der Oberstleutnant war wieder beim Spezialarzt in Würzburg gewesen. Schwellungen an der rechten Kinnbacke hatten sich gezeigt, die mit dem Ohrenleiden zusammenhingen. Er wurde geschnitten und der Professor meinte, es würde alles wieder ganz gut werden, aber zu einer Rückkehr zur Front könne er noch keine Aussicht geben. Dann war wohl alles aus und statt draußen auf freiem Feld mitzusingen: »Nun danket alle Gott!«, konnte er in Garnheim in der Zeitung lesen, daß der Friede gekommen sei. Diese Zeitung tat jetzt schon so weh, jeden Tag aufs neue, und man mußte sich doch die Qual antun. Traurig, sehr traurig war der Oberstleutnant. Die gute Gräfin verstand mit ihm umzugehen, fast mit seinen eigenen Worten mahnte sie ihn zum Mut der Geduld, zur Kraft der Entsagung, zur Tapferkeit des Verzichtes.
Und eines Tages hatte sie so lieb gesprochen, daß er ihr sagte, er könne sich ein Leben ohne sie nicht mehr denken.