Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Nachricht von dem Duell erregte in den Hofkreisen ungeheures Aufsehen, und der allgemeine Zorn wendete sich gegen Max von Hottenbach, diesen völlig unnützen Menschen, durch den eine so sympathische Persönlichkeit wie Graf Hove ums Leben gekommen war. Die Gräfin – das schien außer Zweifel – stand mit dem Geschehnis in irgendeinem Zusammenhang. Daß dies ein schuldbarer wäre, dagegen sträubte sich die Meinung der Mehrheit, wenn es auch Zyniker gab, die diesem Sträuben ein trockenes »Warum nicht?« entgegenstellten.
In kürzester Frist war in allen Salons als die einzig schickliche Erklärung die angenommen, daß Hottenbach sich irgendeine Unziemlichkeit gegen die Gräfin herausgenommen habe und dafür von Hove zur Rechenschaft gezogen worden sei.
Diese Deutung wandelte sich zu einer als feststehend geltenden Tatsache, über die man sogar Einzelheiten zu erzählen wußte, als die Kunde von einem neuen Duell kam, zu dem Baron Dolgiano einen jener Zyniker, der zu unvorsichtig mit seiner Zunge gewesen war, herausgefordert und den er dann auch, allerdings nur leicht, verwundet hatte.
Verspätet machten sich noch Erinnerungen an Gerüchte laut, die einstmals über den alten Grafen Hove und die alte Baronin Hottenbach in der Hofgesellschaft umgegangen waren. Aber dieser Klatsch von Anno dazumal, so hieß es gleich, konnte doch nicht mit dem neuesten Ereignis in Verbindung gebracht werden.
Max von Hottenbach war ins Gebirge gefahren, nicht der Leute und ihres Geredes wegen, sondern weil er mit sich allein sein wollte. In einem ganz stillen Winkel Tirols, nahe der bayrischen Grenze, wohin auch die Leute des Wintersports nicht kamen, saß er als einziger Gast des Bauernwirtshauses bei täglichem »Geselchten« mit Sauerkraut und Tiroler Rotem. Er war schon nicht mehr zu Hause, als sein Schwager, der Rittmeister, nach München kam, um näheren Einblick in die Geschehnisse zu bekommen.
Die Baronin erklärte ihrem Schwiegersohn auf alle seine Versuche, von ihr etwas zu erfahren, beharrlich, daß sie das Geheimnis ihres Sohnes Max kenne, in das niemand einzudringen habe. Aber am zweiten Tage seiner Anwesenheit erfuhr der Rittmeister durch einen ihm persönlich eng befreundeten Kameraden die in der Gesellschaft geltende Lesart von den Ursachen des Duells. Bei seiner Schwiegermutter wetterte er nun in heftiger Weise gegen das skandalöse Verhalten des Schwagers, der sich gänzlich unmöglich gemacht habe und nichts anderes tun könne als, wenn er seine Festungshaft abgesessen habe, die Reise über den großen Teich anzutreten.
Da rief ihm die Baronin zu:
»Was redest du da ins Blaue und fällst gleich fertige Urteile? Max hatte der Gräfin Hove nicht das geringste zuleid getan vor dem Duell. Die Familienehre glaubte er retten zu müssen, und darum beschimpfte er den Vater des Grafen Hove, dessen Geliebte ich gewesen bin. Darüber habe ich allein mit ihm zu richten, nicht du!«
Der Rittmeister zuckte betroffen, faßte sich aber sogleich wieder zu straffer Haltung und sprach mit gelassener Bestimmtheit:
»Nach dieser Eröffnung muß ich allerdings alles zurücknehmen, was ich gegen Max gesagt habe. Jetzt tut mir der arme Kerl leid, denn er muß die weiteren Konsequenzen aus der Situation ziehen und das Urteil der Gesellschaft über sich ergehen lassen. Damit ist er aber nach wie vor unhaltbar geworden.«
»Das ist er nicht!« sagte jetzt die Baronin. »Ich will nicht, daß er an seiner Mutter zugrunde geht.«
»Ja, willst du denn das, was du mir eben anvertraut hast, dem allgemeinen Klatsch preisgeben?«
»Ja, das will ich. Man soll die Wahrheit kennen lernen. Ich bin eine alte Frau und fürchte die Menschen nicht mehr. Freilich muß ich mich jetzt auch vor meinen anderen Kindern demütigen, wie ich es schon vor Max getan. Das tut weh, aber ich will es tragen.«
In ihren Augen glänzten Tränen. Der Rittmeister trat an seine Schwiegermutter heran und küßte ihr die Hand.
»Ihr alle müßt mir eben verzeihen,« sagte sie. »Max hat mir verziehen, und ihm habe ich doch eine so schwere Schuld auf das Gewissen geladen.«
»Deine Ehe war unglücklich, ich weiß es,« erwiderte der Rittmeister. »Wir werden alles als ein Familienschicksal auf uns nehmen und nicht weiter richten und fragen.«
Die Baronin führte ihren Entschluß aus. Nach der Nachricht vom Duell hatten die Freundinnen sie zunächst gemieden, und sie hatte natürlich nicht die Neigung gehabt, jemand aufzusuchen. Aber eines Tages kam doch so eine Dame, von einem gewissen Kitzel getrieben, bemitleidete sie rührsam des Unheils wegen, das der Sohn angerichtet, und hieb auch mit einem Katzenpfötchen nach der Gräfin Hove in der Absicht, vielleicht etwas ganz Neues herauszulocken.
Die Baronin unterbrach sie endlich:
»Ich weiß, was über den traurigen Fall erzählt wird, aber man tut meinem Sohn damit unrecht. Die ganze Angelegenheit hat mit der Gräfin Hove nur das eine zu tun, daß die Ärmste ihren Gatten, mit dem sie glücklich war, dabei verlor.«
»Dann wird die Sache ja noch geheimnisvoller,« meinte die Dame. »War's vielleicht nur eine Herrenangelegenheit?« setzte sie nach einigem Sinnen fast geringschätzig hinzu.
»Auch das nicht,« entgegnete die Baronin. »Damit Sie es wissen, ich bin leider die Veranlassung gewesen.«
Ganz verblüfft starrte die Dame sie an und sagte dann in einem gedehnten Frageton:
»Also doch? Man hat wohl gesprochen – – von alten, längst vergessenen Dingen – – –«
Die Baronin versetzte:
»So, man sprach? Nun diese Dinge waren eben nicht längst vergessen. Sie dürfen es ruhig weitererzählen. Ich bitte sogar darum, denn meinem Sohn soll nicht länger Unrecht in der Sache geschehen.«
»Ich werde mich hüten,« sagte die Dame und sah die Baronin an, als glaube sie eine Irrsinnige vor sich zu haben.
»Es ist so,« betonte die Baronin. »Der arme Hove hat für seines Vaters Sünden das Leben lassen müssen. Ebenso leicht hätte es meinen Sohn treffen können, meine Schuld mit dem Tode zu bezahlen. Ich war einmal eine leichtfertige Frau. Mein Sohn aber ist ein Ehrenmann. Das sagen Sie den Leuten. Ich bin Ihnen dafür zu Dank verpflichtet.«
»Liebe Freundin,« sagte jetzt die Dame, »ich ahne, daß Sie sich für Ihren Sohn aufopfern wollen, gegen den eine sehr üble Stimmung herrscht. Darum ziehen Sie diese alten Geschichten hervor. So würde man auch überall urteilen.«
»Ist Ihnen das nicht pikant genug?« entgegnete die Baronin bitter. »Muß durchaus die junge Gräfin Hove hereingezogen werden, damit es ein richtiger Skandal bleibt? Laßt die arme Frau in Ruhe, sage ich euch!«
»Ich mische mich nicht in solche Dinge,« sagte auf einmal die Dame und trat den Rückzug an.
Die neue Version kam aber in Umlauf, und der Umstand, daß sie auf einem Selbstbekenntnis der Baronin Hottenbach beruhte, gab ihr eine starke Stütze. Das Interesse an dem Duell flaute aber wesentlich ab, und nur gewisse Herrenkreise erörterten akademisch die Frage, ob eine so weit zurückliegende Angelegenheit Gegenstand eines schweren Duells sein dürfte. Und weiterhin gab man der Verwunderung Ausdruck, daß Hottenbach, wenn er schon die Sache aufgriff, dies nicht um etliche Jahre früher getan hatte.
Durch einen Brief seines Schwagers, des Rittmeisters, erfuhr Max Hottenbach von dem Vorgehen seiner Mutter. Was hatte ihm die alte Frau mit ihrer Bloßstellung für einen Dienst erwiesen? Nur noch mehr hatte sie sein Gewissen belastet. Sie war jetzt auch ein Opfer seiner Lüge geworden, als habe mit jenem unseligen Schuß ein zärtlicher Sohn die Ehre seiner Mutter gerächt. Neid, gemeiner Neid war es, der mit solcher Romantik Komödie gespielt hatte. Hätte sich ihm dieser Hove nicht immer als das Sinnbild des Glückes, als strahlender Lebenssieger hingestellt, dann wär's bei den kleinen Gehässigkeiten geblieben und nie zum kampfbegierigen Zorn gekommen.
Dieses Bewußtsein schleppte er mit sich herum in der winterlichen Einsamkeit, und das machte den Zweikampf einem Mordplan so ähnlich. Freilich, es wirkte beides zusammen. Der Neid wäre nicht gekommen ohne den alten Jugendhaß, aber er hatte doch schließlich den Ausschlag gegeben. Das stand aber jetzt so lumpig, so gemein vor ihm, das verzerrte all das echte Weh zärtlicher Kindesliebe zu häßlicher Tücke gegen einen Unschuldigen, und die Rechtfertigung der Blutschuld: »Ich konnte nicht anders, ich tat's für meine Mutter!« drang nicht durch.
Als er so dalag, der arme Paul Hove, jäh herausgerissen aus all seinem Glück, ein stiller Mann, da war aller Haß verschwunden. In diesem Augenblick voll Schauder hatte er noch die Empfindung, als habe er der Mutter das blutige Opfer gebracht, ein ritterlicher Rächer. Dann aber, als die anderen Herren mit bedrückter Miene ihm die Hand reichten und ihm tröstend zunickten, da kam's von irgend woher angeflogen:
»Du betrügst diese Ehrenmänner, die deiner bösen Gesinnung, hätten sie die geahnt, nie Helfer geworden wären.«
Jetzt wollte ihn die Mutter retten vor dem Urteil der Menschen. Als ob daran noch etwas läge, wenn man sich selber so verachtet, so ganz als Lump erkennt!
Wenn er nur das eine losgebracht hätte – die wahnsinnige Angst vor der Frau. Immer glaubte er, sie würde kommen, Rechenschaft zu fordern. Wenn er draußen gewesen war und ans Dorf kam, bedachte er, ob sie vielleicht inzwischen angekommen sein könnte und auf ihn warte; wenn er auf seinem Zimmer saß und jemand die Treppe heraufkam, ja in der Gaststube, wenn sich die Tür unerwartet öffnete, zuckte er zusammen. Dieses plötzliche Erscheinen der Gräfin Hove wurde ihm zur fixen Idee, die nur ganz allmählich wieder von ihm wich. Er wurde mager, die Augen lagen in tiefen Höhlen, und, da er sich den Bart stehen ließ, sah er zunächst mit den roten Stoppeln verwildert aus. Die Wirtsleute und auch die anderen Dorfbewohner sahen kopfschüttelnd hinter ihm her.
Die vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen ergaben für das Töchterchen des verstorbenen Grafen Hove nach der fideikommissarischen Bestimmung, daß alle liegenden Vorräte und in der Kasse befindlichen Barbestände ihm zufallen mußten, eine Summe von vierzigtausend Mark – für eine Komteß Hove eine sehr kleine Mitgift. Da aber die Mutter einstweilen die Zinsen bezog, dazu die Witwenrente, und Onkel Sporn es sich nicht nehmen ließ, die Ergänzung dieser Rente durch einen weiteren jährlichen Beitrag in Aussicht zu stellen, so war Aga mit ihrem Kinde im Sinne der bescheidenen Lebenshaltung einer adeligen Witwe gesichert.
In diese finanziellen Erörterungen schob sich, so ganz nebenher von Frau von Rottenau herangezogen, die Tatsache ein, daß nun die Hälfte der von den Schwiegersöhnen dem Ehepaar Rottenau zugestandenen Rente ausfalle, da man doch Backstein nicht zumuten könne, für den verstorbenen Schwager einzutreten, was Herr von Rottenau mit Betonung zurückwies.
Frau von Rottenau war nun gleich mit dem Vorschlag bei der Hand:
»Wir nehmen eine größere Wohnung, und Aga zieht zu uns. Sie bezahlt eine Art Pension oder, noch besser, man macht gemeinsame Kasse, die Aga führen kann, und dann werden wohl beide Teile zufrieden sein.«
Baron Sporn wohnte dieser Unterhaltung bei, denn er war absichtlich noch in München geblieben, um Aga unter Umständen in ihren Angelegenheiten beizustehen. Er hatte sehr aufmerksam zugehört. Endlich sagte er trocken:
»Meinen Zuschuß gebe ich Aga zu ihrem persönlichsten Nutzen, nicht für die Zwecke eines gemeinsamen Haushalts.«
Aga nahm mit müder Stimme das Wort:
»Da es mit Pauls Bestattung so schön geordnet ist, daß er im Reitershauser Park zur Ruhe kommen wird, so werde ich doch wohl zu euch nach Garnheim ziehen, lieber Onkel und liebe Tante, wie ihr mir's so gütig angeboten habt. Daß ich nur mehr besuchsweise mit freundlicher Erlaubnis der Besitzer, wie jeder Fremde, den Park betreten darf, darüber will ich schon hinwegkommen, und was jene Rente angeht, die die Eltern jetzt verlieren sollen – – was werde ich denn mit dem Kinde viel in Garnheim brauchen? Da ist es doch vielleicht möglich, daß ich den Eltern noch weiter geben kann, was Paul gegeben hat.«
»Über deine Einkünfte könntest du nach Belieben verfügen,« sagte Baron Sporn. »Denn wir würden selbstverständlich nicht noch auf unsere alten Tage Pensionsinhaber spielen.«
»Du bietest Aga allerdings große Vorteile,« versetzte Herr von Rottenau. »Aber sie wird doch erwägen, ob sie unter den gegebenen Verhältnissen nicht in erster Linie wieder ins Elternhaus gehört.«
»Wir sind doch auch die Großeltern deines Kindes,« wendete sich jetzt auch Frau von Rottenau an Aga. »Eine Großmutter kann man gut gebrauchen.«
»Und für euch«, sagte sie zu Baronin Sporn, »ist so ein heranwachsendes Kind eine Last, die ihr noch gar nicht kennt. Da Julie keine Kinder hat und wahrscheinlich keine mehr bekommt, empfänden wir es als Härte, uns nicht des einzigen Enkelkindes erfreuen zu können. Es gibt ja einen Mittelweg. Den ganzen Sommer könnt ihr sie haben, wenn sie über die neuen Verhältnisse hinwegkommt. Ich könnt' es nicht.«
Da gaben die beiden Sporns Zeichen eines halben Einverständnisses.
Aga aber sagte:
»Ich danke euch allen für eure Liebe. Aber verlangt jetzt noch keine Entschlüsse von mir. Dieses München ist mir die Stadt des Unheils geworden, und ich hasse es. Was mir dort blüht, wo die Erinnerungen an mich treten, weiß ich noch nicht. Ich habe es ja mit dem Vetter verabredet, daß wir in nächster Zeit in Reitershausen zusammen kommen, den Platz für das Mausoleum zu wählen, und ich mit mir nehme, was dort noch mir gehört. Da werde ich es dann vielleicht erfahren, wo in Zukunft für mich das Leben erträglicher sein wird. Einstweilen habt Geduld mit mir.«
Aga saß fast den ganzen Tag vor sich hinbrütend im Fremdenzimmer des Backsteinschen Hauses, wo auch das Töchterchen Hedwig sein Bettchen hatte, so daß es dort ziemlich eng war. Aber sie hielt sich nicht gern in Julies Wohnräumen auf. Julie hatte ein so lautes Wesen und vergaß in ihrer Schwatzhaftigkeit recht oft, daß sie eine Tieftrauernde vor sich hatte, setzte sich wohl auch an den Stutzflügel und spielte eine Operettenmelodie, sie halblaut mitsummend. Wenn sie ausging, trug sie Trauerkleider. Zu Hause aber war sie immer in hellfarbigen, oft sehr koketten Morgenkleidern und Hausgewändern, immer strömte heiße Lebensfreude von ihr aus. Sie bekam auch viel Besuch. Wenn dann auch Aga in einen Nebenraum flüchtete, so hörte sie doch das bunte Geplauder und oft ein fröhliches Lachen und Scherzen.
Richard war voll zarter Rücksicht, ließ auch im geräumigen Atelier das Kind spielen, das so ganz dem Mädchen überlassen war, denn Aga gab sich nicht viel mit ihm ab. Sie fand den Ton der Mutterzärtlichkeit nicht mehr.
Das Kind hätte ja ihre Liebesklage nicht verstanden und nicht die Ausbrüche ihres zehrenden Hasses; sonst aber hatte sie nichts zu geben. Darum paßte sie auch nicht mehr nach Garnheim. Sie hätte den guten Leuten dort mit ihrer bitteren Miene das stille Glück ihres Alters verdorben. Sie gehörte nirgends mehr hin als in ein Kloster. Das wäre der rechte Ort für sie gewesen, wenn sie nicht für das Kind hätte sorgen müssen, das sie doch nicht den Großeltern hätte überlassen mögen. Aber die kleine Hedwig, die sollte einmal Nonne werden. So brachte sich diese zum Opfer dar für des Vaters Seligkeit und war selbst behütet vor den Bitterkeiten des Lebens. Darauf sah sie schweigend das vor ihr spielende Kind an. Das war ein Gedanke, auf den sie immer wieder zurückkam.
Sie war für die Urne und das Mausoleum mit einem Bildhauer und einem Architekten in Verbindung getreten. Das hatte auch wieder Schwager Richard in die Wege geleitet. Der war ihr eine wirkliche Stütze geworden, und ein freundliches Gefühl der Dankbarkeit gegen ihn stieg in ihr auf, wenn sie gerade mit ihm sprach. Er beriet sie auch in der Auswahl der Entwürfe, und sie fügte sich willig seiner Meinung.
Der neue Fideikommißherr schrieb, daß er sich in Reitershausen aufhalte und Agas Besuch erwarte, zur Auswahl der Parkstelle für das Mausoleum und zur Übernahme der ihr gehörigen oder ihr von dem Verstorbenen zufallenden Gegenstände.
Sie reiste nach Garnheim, wohnte bei den alten Sporns und fuhr von Tante Sporn geleitet nach Reitershausen hinaus.
Es war ein harter Weg, die Treppe hinauf und hinein in die liebvertrauten Räume, und qualvolle Pein war es, all die Dinge zu besehen, zu berühren, die Paul gehört hatten, und namentlich dies und das, was ihr aus täglicher Gewöhnung besonders vertraut war, wurde mehr als einmal zum Anlaß eines jähen Aufschluchzens. Sie zeigte dem neuen Herrn, der sich mit einer gütigen Ritterlichkeit gegen sie benahm, die von ihr gedachte Stelle, ein kleines Rasenplätzchen zwischen hohen, alten Tannen. Im Hintergrunde breitete eine starke, jetzt freilich blätterlose Rotbuche ihr mächtiges Geäst in schöner, nach oben sich verjüngender Rundung aus.
Als der neue Graf ins Schloß zurückgekehrt war, ließ er den Pförtner und die Pförtnerin kommen, Weisungen entgegenzunehmen, wie die von Aga ausgesuchten Gegenstände in Kisten verpackt und die Möbel des kleinen Kabinetts, die sie einst von Onkel und Tante zur Hochzeit bekommen hatte, für den Transport zugerichtet werden sollten.
Es kamen noch der junge Diener Philipp und eine Magd dazu. Da fiel es Aga mehr und mehr auf, daß alle diese Leute ein seltsames Benehmen gegen sie zur Schau trugen. Sie verbeugten sich wohl in geziemender Weise, aber wie vor einer Fremden. Niemand wußte ein Beileid anzudeuten, steif hörten sie auf den neuen Herrn, und als die bisherige Gebieterin in einem vertraulichen Ton Wünsche aussprach, wurde mit kurzen Verneigungen stumm geantwortet. Namentlich das Pförtnerpaar hatte ganz unfreundliche, fast bösartige Blicke.
Aga wurde völlig verwirrt, und dies um so mehr, als sie zu bemerken glaubte, daß auch Tante Sporn Befremden in ihrer Miene zeigte. Da kam ihr der Gedanke, eine Probe anzustellen, wie diese sonderbare Erscheinung zu deuten sein möchte. Der jungen Gärtnersfrau, die auch ein kleines Kindchen, ein wenig älter als Hedwig, hatte, war sie immer sehr zugetan gewesen und hatte sie mit besonderer Vertraulichkeit behandelt.
Sie ging allein ins Gärtnerhaus. Als sie die Haustür öffnete, kam Frau Jobst aus der Küche.
»So komme ich zu Ihnen, liebe Frau Jobst,« sagte Aga, auf ihre Trauerkleidung weisend.
Die Angeredete machte gar keine Miene, die Gräfin in die Stube zu führen, sondern sagte, in einiger Entfernung von ihr auf dem gepflasterten Flur stehen bleibend:
»Das ist freilich eine traurige Sach'. Ein guter Herr, ein sehr guter Herr war's, der Herr Graf. Der hat so aus der Welt gehen müssen! Wir kleinen Leut' verstehen ja so was nicht, und ich misch' mich ja auch in nichts ein, aber das muß ich doch sagen, Frau Gräfin, bös', arg bös' sind die Leut' hier schon drüber. Ins Dorf sollten Frau Gräfin doch nicht gehen.«
»Aber um Gottes willen, Frau Jobst,« rief jetzt Aga, auf die Gärtnersfrau zuschreitend und sie am Arm fassend, »was wollen Sie denn damit sagen? Ja, glauben denn die Leute, ich trüge schuld – – –«
Geschrien hatte sie die letzten Worte, von einer furchtbaren Erkenntnis gepackt.
Jetzt kam auch der Gärtner von der Küche her.
Er machte eine kurze Verbeugung und sprach:
»Wir haben gar keine Meinung, wir halten uns drauß, aber 's ist so im Dorf, wie meine Frau sagte. Da läßt sich weiter nichts machen. Das hat der arme Herr Graf nicht verdient, sagen die Bauern, in keiner Hinsicht nicht.«
Jetzt fing Aga zu weinen an, und stockend sagte sie:
»Aber die Menschen irren sich ja fürchterlich! Das muß ihnen doch gesagt werden.«
Die Gärtnersfrau hatte sich hinter ihren Mann zurückgezogen, und dieser antwortete der Weinenden gelassen:
»Das sind unsere Sachen nicht, diese Duellgeschichten.«
Aga sah nur noch einen Augenblick auf die junge Frau. Als diese das Gesicht zur Seite wendete, floh sie aus dem Hause.
»Nur fort, ich bitte dich um Himmels willen, nur so schnell wie möglich fort!« rief sie, nachdem sie ins Schloß zurückgekommen war, der Tante zu. Als sie unter Schluchzen angedeutet hatte, um was es sich handele, und dabei auch auf das Verhalten der Dienerschaft hinwies, wurde der anwesende Graf zornig, und mit polterndem Eifer versprach er, dem dummen Volk schon die Mäuler stopfen zu wollen.
Aga aber machte eine abwinkende Handbewegung und sagte:
»Das hilft nichts mehr, lieber Vetter! Wenn sie auch nicht mehr davon sprechen, so bleiben sie doch bei ihrer ersten Meinung und denken nur, man wolle eben die Wahrheit vertuschen. Ich hätte gedacht, die Leute kennten mich doch zu gut, um so etwas zu glauben.«
»Aus Garnheim, dem Nest, wird wohl das Geschwätz kommen,« polterte der Graf darauf, »und dort hat's auch irgendein Barbier oder eine Näherin nach Schundromanen zurechtphantasiert.«
»Meine arme Aga!« klagte die Baronin Sporn, die Nichte liebkosend.
»Jetzt haben sie mich von hier vertrieben,« sagte Aga leise.
Die Tante und der Graf protestierten lebhaft. Aga erwiderte nichts. Sie saß vor sich hinstarrend da und seufzte vor sich hin:
»Alles, alles hat er mir genommen.«
In große Aufregung geriet Onkel Sporn, als er von diesen Erlebnissen Agas in Reitershausen erfuhr. Er schwor, hier gründlich eingreifen zu wollen. Der neue Herr habe die verwandtschaftliche Verpflichtung, die ganze Dienerschaft zu entlassen, und was die »Bauernlümmel« angehe, so werde er mit dem Ortspfarrer ein deutliches Wort sprechen.
»Hier in Garnheim soll mir aber Major von Falk helfen, vorlaute Mäuler zu stopfen,« sagte er schließlich. »Er tut es gern, das weiß ich.«
Aga bemerke darauf:
»Ihr werdet nur aus eurem schönen Frieden in eine Welt von Haß gerissen. Das möchte ich nicht. Wozu sollt ihr auch noch leiden?«
»Da ist kein Friede mehr für uns, wenn dir Unrecht geschieht,« antwortete Sporn. »Solche Schlafmützen sind wir hier doch nicht geworden, daß wir dich im Stiche ließen. Eher packe ich auf und ziehe noch anderswohin.«
»Sprich nicht so, lieber Onkel!« bat Aga innig. »Da wäre ja eure Güte gegen mich euch zum Unheil geworden, und ihr müßtet die Stunde verwünschen, in der ich euer Haus betrat.«
»Ich schaffe dir Genugtuung, verlass' dich darauf! Man soll mich kennen lernen!« wetterte der alte Baron heftig, im Zimmer hin und her schreitend.
Als er sich wieder einigermaßen beruhigt hatte, berichtete er, der Major, der von ihrer Ankunft erfahren, habe Aga aufwarten wollen und werde gegen Abend wiederkommen.
Herr von Falk und Aga begrüßten sich sehr bewegt.
»Als vom Schicksal schwer Verwundete müssen wir uns wiedersehen,« sagte der Major. »So bitter der eigene Schmerz auch ist, läßt er doch dem tiefsten Mitgefühl für Ihr schweres Leid noch Raum, Frau Gräfin. Ein Zusammentreffen besonderer Art ist's, das uns beiden das Liebste gleichzeitig nahm.«
Als Aga sich wieder etwas gefaßt hatte, fragte sie nach Näherem über Krankheit und Ende der Gattin Falks und hörte dessen Bericht aufmerksam und teilnahmsvoll an. Dann erkundigte sie sich weiter nach dem Kinde, und der Major berichtete, daß jetzt eine unverheiratete Schwester zu ihm gezogen sei, die Kind und Haushalt versorge. Ihm schien es, daß Aga bemüht sei, möglichst lange nicht vom eigenen Leid sprechen zu müssen. Endlich fragte sie zagend:
»Hat Ihnen mein Onkel Näheres erzählt?«
Die Antwort lautete bejahend.
»Sie sind Offizier,« sagte darauf Aga. »Als solcher dürfen Sie ja nicht gegen den Zweikampf sprechen, und doch drängt es mich, auch Sie zu fragen: War dieses, gerade dieses Duell eine unausweichbare Notwendigkeit? Mußte mein armer Paul trotz Frau und Kind sich vor die Pistole seines Feindes stellen?«
Der Major sah eine kleine Weile nachdenklich zu Boden, dann wendete er den Blick offen Aga zu und sagte:
»Über den Grundsatz der eventuellen Notwendigkeit eines Duells kann sich kein Offizier wegsetzen. Staat und Gesellschaft geben unter gewissen Umständen kein anderes Mittel ausreichender Ehrenrettung. Aber der einzelne Fall kann verschiedene Meinungen zulassen –«
»Und dieser Fall?« fragte Aga in erregter Spannung.
»Liebe Frau Gräfin,« sagte jetzt der Major, »was hat es noch für eine Bedeutung, mit persönlichen Meinungen an dem Geschehenen herumzutasten? Unsern guten Grafen Hove machen wir damit nicht wieder lebendig. Er hat getan, was er tun mußte.«
»Sie betonen, › er‹,« fiel Aga gierig ein. »Und der andere?«
»Er war offenbar von stärkeren Notwendigkeiten getrieben als denen eines ritterlichen Ehrenbrauches, als er die Forderung provozierte.«
»Paul hat ihm nichts, gar nichts getan. Ich höre es aus Ihren Worten, der Ehrenbrauch zwang ihn nicht, für die Sünden seines toten Vaters einzutreten.«
»Der Fall ist nicht einfach. Was der Baron Hottenbach, den ich ganz flüchtig kenne, im Sinne hatte, das läuft eigentlich auf etwas wie die korsische Vendetta hinaus.«
»Korsische Vendetta, was heißt das?«
»Bei den Korsen herrscht der Brauch, daß für eine an irgendeinem Familienglied begangene Übeltat an der Familie des Täters bis zum Enkel herab Rache geübt werden darf und soll. Das führt immer weiter zu förmlichen Familienfehden.«
»So, meinen Sie, Herr Major, hätte auch Pauls Gegner gedacht?« sagte Aga vor sich hinsinnend. »Danach käme jetzt wieder die Familie Hove gegen die Hottenbachs an die Reihe?«
»Das ist eben ein unhaltbarer Standpunkt, und darum habe ich, offen gestanden, einige Bedenken gegen das Vorgehen des Barons Hottenbach,« äußerte sich der Major.
»Ich danke Ihnen, Herr von Falk,« sagte Aga hochaufatmend.
Dieser sah sie etwas verwundert an und meinte dann:
»Es ist ein tragischer Fall, ein durchaus tragischer Fall, den man mit den einfachen Ehrenregeln nicht richtig trifft. Ich habe den Herrn Gemahl sehr geschätzt, Frau Gräfin, und werde sein Andenken hoch halten.«
»Und der andere ist ein Bandit! So was sind wohl auch diese Korsen?« sagte mit einem knirschenden Ton Aga.
»Verehrte Gräfin, ein Familiendrama hat sich abgespielt,« versetzte Herr von Falk. »So müssen Sie es nehmen und tragen als adelige Heldin.«