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Siebzehntes Kapitel

Richard Backstein hatte schon die ersten Andeutungen ernster Möglichkeiten mit einer Erregung aufgenommen, die im vollen Gegensatz zu der bisherigen Anschauung von seiner Eigenschaft als Reserveoffizier stand. Er hatte schon seit mehreren Jahren keine Übung mehr mitgemacht und bei seiner Hochzeit zum letztenmal die Uniform getragen. Auch in seinem Bekanntenkreise spielten militärische Dinge nur insoweit eine Rolle, als er es höchst lächerlich fand, wenn er wahrnahm, daß dieser oder jener seiner Eigenschaft als Reserveoffizier eine besondere Bedeutung beilegte.

Jetzt flammte ein Drang nach Kriegsgetümmel, jagenden Rossen und heißem Säbelgefecht in ihm auf, wie er einen stürmischen jungen Leutnant nicht lebhafter beseelen konnte. Nur die inneren Beweggründe waren ganz andere. Wilde Erregungen standen in Aussicht. Aus den Fugen ging die Alltäglichkeit, zurück blieb alles Vergangene, ein völlig neues Leben begann, das wie keine Vergangenheit, so auch keine Zukunft hatte, dem Schicksal stürmte man entgegen, einem von Tag zu Tag unbestimmten, und ließ sich in der wogenden Masse des ungeheuren Heeres treiben. Mitten drinnen war man im Gedränge des Völkerringens, und wenn man untertauchte im Meere vorwärtsstürmender Heerhaufen – dann war's auch gut.

Es war ein elendes Leben gewesen, das er geführt hatte, seit ihn Julie zur Rückkehr ins eheliche Heim beredet hatte, mit eben jenen Gründen der bürgerlichen Wohlanständigkeit, die seinen eigenen bisherigen Lebensgrundsätzen entsprochen hatten und mit denen das Achselzucken über Künstlerwirtschaft vermieden werden sollte. Dieser bürgerlichen Sauberkeit hatte er die seelische Sauberkeit eines klaren, bisher treu festgehaltenen Lebensglaubens geopfert, und damit waren seine Schaffenslust, sein künstlerisches Selbstgefühl, der Wille zum höchsten Ziel gebrochen. Ein mißvergnügter Mann stand er da, der seine Arbeit tat mit der Gewohnheit gewordenen Fertigkeit, sich dafür bezahlen ließ und mit leerem Herzen, müdem Kopf sich die bittere Frage stellte:

»Was hat das alles für einen Zweck?«

Wohl sah er die Bemühungen Julies, ihn neu zu gewinnen, aber ihre Künste verfingen nicht mehr. So war diese Ehe doch nur nach außen eine Lüge, die bewußte gegenseitige Lüge brachte er nicht zuwege, davor graute ihm. Von Aga hörte er nichts mehr. Er konnte doch Julie nicht darum fragen. Zu vergessen war sie aber nicht so leicht. Immer schweiften seine Gedanken zu ihr zurück, die ihn zürnend ohne Abschied verlassen hatte, und er erging sich in Träumen, die stets mit einem quälenden Gefühle des Unerreichbaren endeten.

Geschäftlich machte er alles bereit, um sofort, wenn der Ruf durch die deutschen Gaue erklang, Werkstatt und Haus verlassen zu können. Am vierten Tage hatte er sich in Düsseldorf zu stellen. Da blieb noch Zeit, in Bremen, in der Heimatstadt, vorzusprechen zu einem kurzen Lebewohl. Bitter kränkend war es für Julie, daß er ihre suchenden Blicke übersah und ihre Fragen, wie sie hilfreich sein könne, mit kalter Höflichkeit zurückwies. Er schob sie beiseite, hatte keine Zeit für sie, und ihr war doch so bange zumut vor dem, was da so ernst und finster herangeflogen kam. Sie hatte ihm doch viel gegeben in den Jahren, was ein Mann nie vergessen sollte, und, wenn sie daran dachte, daß sie ihn vielleicht ganz, für immer verlieren sollte, dann kamen ihr doch die Tränen in die Augen und sie meinte, sie hätte ihn doch immer sehr liebgehabt.

Als die Stunde kam, trug ihr Richard ganz trocken vor, daß er in seinem Testament für sie ausreichend gesorgt habe, und erläuterte ihr geschäftsmäßig, wie sie Geldangelegenheiten zu behandeln habe. Tapfer kämpfte ihr Frauenstolz, aber als er es ablehnte, daß sie ihn auf den Bahnhof begleite, da setzte sie sich vor einen Tisch und weinte bitterlich in die Hände. Er machte sich außerhalb des Zimmers zu tun, dann trat er nahe an sie heran und sagte leise: »Es ist höchste Zeit.«

Sie stand auf, er küßte sie nur ganz oberflächlich auf die Stirn und sprach:

»Lebe wohl, Julie!«

Kaum hörbar klang es danach:

»Auf Wiedersehen!«

Jetzt fiel ihm Julie schluchzend um den Hals und stammelte:

»Verzeihe mir alles! Ich hab' dich ja so lieb!«

Er strich ihr über das Haar, sagte nochmals »Lebe wohl« und eilte davon.

Einige Tage brauchte sie, um die Bitternis dieses Abschiedes sich in ihrem Kopfe zurechtzulegen. Das hätte er doch nicht tun dürfen. Er hatte ihr unrecht getan, schweres Unrecht sogar, und da draußen, wo andere nach Hause denken, wird er an – Aga denken, die gar nichts von ihm wissen will. Törichter Mann! Und wenn er wiederkommt, wollte sie es doch aufs neue versuchen, ihn zur Liebe zu zwingen. Da ist er dann vielleicht ganz anders geworden, als Reiteroffizier, der in Schlachten gefochten hat. Sie vergaß alle Kränkung und wurde mit einem Male stolz darauf, die Frau eines solchen Reiteroffiziers zu sein. Man lächelte ein wenig über sie, als sie in dem Kurse für Pflegerinnen, den sie mit Frau Salvenburg und anderen Damen besuchte, merkbar sich einigen Offiziersfrauen anschmiegte und sehr schnell deren besonderen Ton annahm, es aber fast mit leisem Unbehagen zu hören schien, wenn man einmal auf die »Künstlerfrau« hindeutete. Sie erwies sich aber sehr eifrig und anstellig, so daß sowohl die leitende Dame wie der vortragende Professor sie mehr und mehr aus der Menge der Hörerinnen hervorhoben. Das machte sich aber noch in ganz anderem Maße geltend, als der Übertritt in ein Lazarett erfolgte. Dort war die Oberin eine sehr energische ältere Aristokratin aus der vornehmsten Hofgesellschaft, die den Damen so oft klarmachte, daß es sich um ganz etwas anderes handelte als um die neueste Mode weiblicher Betätigung. Sie übte dabei die Methode, die feinen Herrschaften, die sich alle sofort in einem schmucken Pflegerinnenkostüm hatten photographieren lassen, zunächst auf ihren Opfermut zu prüfen, indem sie ihnen Dienstleistungen auftrug, die deren Kammerjungfern naserümpfend dem Hausmädchen überlassen hätten. Erfolgte dann ein erstauntes, vielleicht auch von einem spöttischen Lächeln begleitetes: »Aber das kann ich doch nicht tun – –«, dann wurde der Betreffenden sofort bedeutet, daß das Lazarett nur unentwegt zufassende Kräfte brauchen könne.

»Andere Damen stehen uns nur im Wege,« sagte die vornehme Oberin sehr deutlich.

Frau Julie Backstein lachte über die Zimperlichkeit der anderen und verrichtete jeglichen Dienst als forsche »Soldatenfrau«, wie sie sich selber gern nannte. Tapfer und mit wachsendem Geschick ging sie auch den Ärzten an die Hand. Die beiden Offizierszimmer überließ sie im Laufe der Zeit gern Genossinnen und machte sich dafür bei den Soldaten beliebt, für die sie bald ein Scherzwort, bald einen herzhaften Zuspruch bereit hatte. Zum ersten Male in ihrem Leben sah sie einen Menschen sterben und gewöhnte sich daran, solchem feierlichen Augenblicke mit Ehrfurcht beizuwohnen. Blut sah sie in Strömen fließen, Schmerzgewimmer klang immer wieder an ihr Ohr, klagende, flehende Blicke sah sie auf sich gerichtet, von der Mutter und von der Liebsten, von Frau und Kind und von den Sorgen der Zukunft sprach man treuherzig vertrauensvoll zu ihr. Sie hatte im strammen Schritt, in der sicheren Gebärde und dem klaren Auge etwas, was keine andere von den Damen mit aller sanften Güte, allen besorgten Fragen den Leuten geben konnte. Jetzt kam bei ihr eine gesunde Lebenskraft heraus, die sich bisher in unklaren Gelüsten verzettelt, nun aber sich selber gefunden hatte in einer ernsthaften Betätigung, mit der sie von Tag zu Tag innerlich wuchs. »Courage« nannte sie es selber, wie sie all der Not von Leiden und Sterben gegenüberstand, und wurde sich dabei kaum bewußt, welche Wandlungen sich mit ihr vollzogen. Nur wenn sie wieder nach Hause kam, da stieß sie auf allerlei Dinge, die ihr jetzt fade erschienen, und merkte, daß in ihrem bisherigen Leben eigentlich alles Schnickschnack, Tand gewesen war, und zu Hause, in der Einsamkeit, fand sie auch Zeit, sich dem Schmerze zu widmen, der ihr immer schmerzlicher im Busen brannte. Nichts hatte sie nach drei Monaten von Richard bekommen als zwei Postkarten und einen etwas längeren Brief. Im Osten stand er, einer Infanteriedivision war seine Schwadron zugeteilt, er hatte schon manches durchgemacht, das ließ sich wohl erkennen, aber nur kühle Schilderungen waren es, die er gab, knappe Berichte ohne jeden Herzenston, insbesondere auch ohne jede Mitteilung, wie es ihm selber in der Seele zumute sei. Er hatte gar nicht das Bedürfnis, sich ihr zu offenbaren. Sie hatte ihm ausführlich von ihrer Arbeit geschrieben. Er antwortete nur, es sei wohlgetan von ihr, daß sie sich in dieser Zeit nützlich mache. Er nahm sie eben nicht ernst, glaubte nicht, daß sie zu etwas Ernsthaftem taugen könne. So brauchte er auch nicht zu wissen, daß man ihr die Oberleitung eines Saales von zwölf Betten für Schwerverwundete übertragen hatte.

Einen Schwerkranken hatten sie ihr da eines Tages gebracht mit einer ekelhaften Wunde, die überdies sorgfältige Pflege brauchte, wenn der Mann noch gerettet werden sollte. Der Leitende Arzt hatte gesagt, er werde eine Berufsschwester schicken, denn solcher Dienst sei einer Dame ihrer Art doch nicht zuzumuten. Da war sie aber böse geworden und hatte es für eine Ungerechtigkeit erklärt, daß man ihr auf einmal diesen »Fall« wegnehmen wolle, wo sie doch schon verschiedene schwere Fälle zur Zufriedenheit »behandelt« habe. Sie sei jetzt Lazarettschwester und wolle auch gar nichts anderes sein. Eben deshalb lasse sie sich in ihren Dienst nicht von einer Fremden hineinpfuschen. Der Professor und die Oberin hatten ihre Freude daran, und der Mann wurde ihr überlassen. Wie Julie Backstein aus ihren Unterhaltungen mit diesem nach einigen Tagen herausbekommen hatte, war er der Niedersten einer, ein lediges Kind aus einem niederbayerischen Dorfe, drinnen an der Böhmerwaldgrenze, hatte beim Militär von kleinen Dienstleistungen für Kameraden gelebt, und draußen im Felde schenkten ihm die andern manchmal etwas, denn er hatte niemanden auf der Welt, der ihm eine Liebesgabe geschickt hätte. Schön war er auch nicht, der Sebastian Kastlhuber, mit der dicken Nase, dem wildsprossenden Vollbart und der daraus vorstehenden Unterlippe. Und die Pflege war wahrlich keine Kleinigkeit. Der Professor hatte wohl gewußt, warum er eine Berufsschwester heranholen wollte. Mit trotziger Willenskraft überwand Frau Julie das Grauen, das sich diesmal doch stärker als je zuvor geltend machte, so oft sie an die Behandlung des Schwerkranken ging, und der Gedanke gab ihr dabei die nötige Kraft:

»So, Herr Richard, jetzt wollen wir Ihnen einmal zeigen, daß wir auch kriegstüchtig sind.«

Sechs Tage lang wurde Sebastian Kastlhuber zwischen Tod und Leben gehalten. Dann zeigte sich, daß alles Bemühen und alle Selbstüberwindung vergeblich gewesen waren. Sebastian fühlte es selbst, als sein grauenhafter Zustand dem Ende entgegenging.

»Jetzt sind's mich bald los, Freilein,« sagte er eines Tages. Das »Fräulein« ließ er sich durch alle anderen Erklärungen nicht nehmen.

»So bald werden Sie sich keinen so wüsten Patienten wieder wünschen, wie ich g'wesen bin. I kann halt nix dafür, daß i net glei draufgangen bin. Müssen net bös sein.«

Einige Stunden später sagte er:

»Schad is ja net um mi. A Bauernknecht is auch nix gar so Schönes, wenn er alt wird und muß sich von der G'meind futtern lassen. Da schimpfen's dann, daß man no net verreckt.«

Und endlich kam er noch einmal zum Sprechen:

»Ausgestanden hab i ja gnua. Aber schön is doch gwesen, daß so a liebs Freilein mir g'holfen hat. Hob i do no was Schönes erlebt, was sehr Schönes, so a dreckiger Bua, wie i bin.«

Er lächelte sie an und streckte ihr matt die Hand entgegen, die sie faßte. Da zog er ihre Hand mit Anstrengung an seine Lippen und drückte einen Kuß darauf.

»Vergelts Gott, vergelts Gott,« murmelte er und einige Minuten darauf war er tot. Frau Julie Backstein drückte ihm die Augen zu.

Sie konnte die Tränen nicht verbergen, als sie der Oberin meldete:

»Der Soldat Sebastian Kastlhuber ist gestorben.«

Die Oberin schüttelte ihr die Hand und sagte:

»Sie sind eine prächtige Frau.«

Da zuckte Julie die Achseln, aber ihre Gedanken blieben bei dem Burschen aus dem Walde, der, ohne eine liebe Seele auf der Welt zu hinterlassen, ihr, der einzigen, die sich seines erlöschenden Lebens erbarmte, sein: »Vergelts Gott!« zugeflüstert, und es war ihr so seltsam zumute, freudig geradezu, ein Hochgefühl hatte ihr der sterbende Soldat eingeflößt, wie nie ein Kavalier, der ihre Schönheit bewunderte.

Zu Hause setzte sie sich hin – einen Brief nach Polen zu schreiben. Wie sie so vor dem Briefbogen saß, sich besinnend, wie es Richard nun endlich beizubringen sei, daß sie sich ehrlich einen Anspruch auf seine Achtung erworben habe, da fiel ihr auf einmal ein, daß sie das von dem Sebastian Kastlhuber gar nicht schreiben wolle. Das glaubte er am Ende gar nicht, denn es sah aus wie eine rührsame Geschichte, die sie sich aus einer Zeitung zurechtgerichtet hatte. Wohl aber schrieb sie ihm, wie angesehen sie im Lazarett sei und welches Vertrauen sie genieße, und das schrieb sie auch noch, daß sie recht wohl befähigt sei, wenn der Friede wiederkomme, in irgendeiner Heilanstalt eine nützliche Tätigkeit zu finden.

Und zum Schlusse sagte sie:

»Es kommt ganz darauf an, wie der Mensch Gelegenheit findet, sich selber kennen zu lernen. Ich muß mich eben ausleben können, und da hat sich mir jetzt der rechte Weg geboten. Ich hatte vorher nichts anderes zu tun als schön zu sein. Das war zu wenig für mich, und darum habe ich über die Stränge geschlagen. Aber, daß du es weißt, ich bin noch immer schön und bin es gern, denn jetzt kann ich meinen Verwundeten damit Freude machen. Aus den Offizieren mache ich mir gar nichts. Das darfst du mir auf Ehrenwort glauben. Die machen schon Redensarten: »Verbindlichsten Dank, Gnädige« usw., wenn sie kaum noch den Mund aufmachen können, weil der ganze Kopf verbunden ist. Aber meine Soldaten, die nur staunen und lachen, die habe ich gern, für die freut es mich, schön zu sein. So ist die Julie in Kriegszeiten. Du würdest sie vielleicht doch wieder liebhaben, wenn du sie sähst. Ist kein Platz für mich bei euch in Polen? Ich käme gleich –«

Sie wischte mit dem Taschentuch über die Augen, als sie den Brief geschlossen hatte.

Die große Winterschlacht im Masurenlande war geschlagen, aber neue Kräfte warf der Feind den Siegern entgegen, und neue Schlachten mußten geschlagen werden. Da hatte Richard wohl keine Zeit, ihr Antwort zu geben. Eines Tages kam doch ein Brief.

Da hieß es gleich: »Liebstes Julchen!« und bisher hatte er immer nur so kalt geschrieben: »Liebe Frau!«

Dann ging es weiter:

 

»Mit Deinem letzten Brief hast Du mir eine tiefe Freude bereitet, die mir viel geholfen hat, schwere Tage mit frischem Lebensmut zu überwinden. Ich habe also doch auch ein braves Weib daheim, dem ein warmes Herz für der Zeit und der Menschen Not in der Brust schlägt! So ist es recht, liebe Julie! Hierzulande schreit es nach erbarmender Liebe aus den sturmgepeitschten Lüften, aus dem Kote der Straße und den Trümmern der Wohnstätten. Das Elend, das uns täglich angrinst, geht dem Härtesten an die Nieren. Es ist ja alles so ganz anders, so viel bedeutsamer, als man es je ahnen konnte. Man kämpft den Feind nieder mit wilder Entschlossenheit zum Siege, freut sich des Erfolges mit grausamer Lust und doch kommt gleich hinterher das Mitleid mit verwundeten Gefangenen und erst recht mit dem armen Volke, das so unschuldig zwischen das Ringen geraten ist. Die Weltfriedensgedanken sind ja Unsinn. Kampf muß sein, wenn nicht die ganze Menschheit einschlafen soll. Das spürt man; man glaubt jetzt erst ein ganzer Mensch geworden zu sein, weil es gilt, seine Kraft an anderen zu messen. Aber aus all den Greueln, die wir um uns schauen, so schrecklich, daß man Mühe hat, seine Sinne beisammen zu halten, steigt dann die Menschenliebe in einer Größe auf, wie man sie nie geahnt hat. Hat man sich denn bei allem Gerede von Wohltätigkeit, Nächstenliebe sonst so arg viel um andere Menschen gekümmert? Jeder ist seinen eigenen Weg gegangen und glaubte mit sich selber gerade genug zu tun zu haben. Wir Künstler besonders sind die richtigen Egoisten gewesen. Hier ist das ganz anders geworden. Es wird jeder von uns zum Samariter, sobald er nur Gelegenheit dazu hat, und wir sind manchmal selbst erstaunt über die edlen Regungen, die in uns aufwallen. Du hast sehr recht, wenn Du die Soldaten gern hast und ihnen besonders liebreich entgegenkommst. Es sind prächtige Menschen, unsere deutschen ›Kerle‹, und auch das müssen wir jetzt zu unserer Beschämung erkennen, daß wir uns in unserem Bildungsdünkel viel zu wenig um das Volk gekümmert, es gar nicht gekannt haben. Fahre fort, den braven Kameraden Gutes zu tun. Vergiß auch nicht, für die Eltern zu sorgen, sie werden es gebrauchen können. Wenn ich wieder heimkomme, erzählen wir uns gegenseitig unsere Kriegserfahrungen. Die Stellung in der Heilanstalt kann auf Dich warten, bis wir mit dem Erzählen fertig sind.« –

 

Es war noch kein richtiger Liebesbrief, aber für Julie war es schon genug, sich zu freuen, daß sie auch einen Sieg erfochten habe.


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