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Dreizehntes Kapitel

Agas Trauerjahr war zu Ende. Etliche Wochen später kam die Zeit, in der die Damen ihre Frühjahrstoiletten besorgten. Frau von Rottenau und Julie tauschten untereinander ihre Überraschung darüber aus, mit welchem Eifer Aga jetzt ihre neue Garderobe besorgte und wie ängstlich sie dabei bald die eine, bald die andere der beiden um deren Meinung fragte. Sie vermied zwar allzu lebhafte und lichte Farben, stattete sich aber sehr elegant aus. Sehr gern ließ sie sich an der Seite der Mutter in den lebhaften Verkehrsstraßen und an den kleinen Tischen der Cafés und Konditoreien des Hofgartens sehen, wo jetzt wieder die elegante Welt die warme Sonne genoß und sich der in den neu begrünten alten Bäumen schmetternden und zwitschernden Singvögel freute. In ihrem stillen Wesen änderte sich dabei nichts. Von den Nasenflügeln her längs den Mundwinkeln umrandeten jetzt scharfe Einschnitte die Wangen, und wenn sie die Lider aufschlug, sah man ein großes, starr vor sich hinschauendes Augenpaar, aus dem es wie klagend sprach. Ein dunkler Schatten, der auf der Stirn zwischen den Augenbrauen hingehaucht lag, fügte zur Klage etwas Drohendes oder Zorniges.

»Wer ist das?« flüsterte jedermann zum Nachbar, der die hohe, schlanke Frau mit dem schönen Gesicht sah, in dem man von bitteren Erlebnissen las. »Die Gräfin Hove, deren Mann im Duell erschossen worden ist,« raunten Kundige.

Allmählich traten bei gelegentlicher Begegnung Damen der Hofgesellschaft an sie heran, die den Wunsch aussprachen, wieder mit ihr Verbindung zu bekommen. Sie machte einige Besuche, und auch Frau von Rottenau wurde jetzt in diesen Kreisen bekannt. Als der Sommer kam, ging sie nicht wieder nach Garnheim, wo sie zuletzt am Todestag des Gatten zwei Tage gewesen, sondern nach dem belebten Berchtesgaden, wohin sie die Mutter mitnahm. Nach wie vor blieb sie dabei die fleißige Kirchgängerin. In ihrer Umgebung stellte niemand Fragen an sie, obwohl es klar war, daß es sich bei ihrem Verhalten um etwas ganz anderes handeln müsse als um neu erwachten Lebensdrang einer allzurasch vergessenden Witwe.

Auch Richard Backstein fand keine Form für die Frage, die sich ihm immer wieder auf die Lippen drängte. Er ging nur forschend um sie herum, und sie tat ihm furchtbar leid, denn er ahnte, daß sie einsam auf dunklen Wegen gehe.

Schon in Berchtesgaden war sie der Annäherung von Herren nicht ausgewichen. Freilich war sie keineswegs gesprächig und Huldigungen nahm sie mit einer marmornen Gleichgültigkeit, unter Umständen auch mit einem eisigen Stolz hin, so daß ein weltfremder Mensch sich hätte darüber wundern müssen, daß die Zahl derer, die sich an sie herandrängten, immer zunahm, statt sich zu vermindern.

Während des Winters verkehrte sie sonst nur in kleinen Damenzirkeln, aber bei Backsteins kam sie auch mit Herren in Berührung, die nun wiederum bei ihr und Frau von Rottenau Besuche machten.

So kam es gegen Ende der Saison dazu, daß auch Frau von Rottenau eine kleine Geselligkeit veranstaltete, und zwar hatte Aga dazu die Anregung gegeben und die Kosten übernommen. Seitdem fing sie auch zu rechnen an und Buch über ihre Einkünfte zu führen. Dabei kam es häufig zu lebhaften Auseinandersetzungen mit der Mutter über die Abrechnung gewisser Gelegenheitshilfen, die sie im ersten Jahre so völlig gleichgültig gewährt hatte.

Sie trat auch an den Vater heran mit Vorwürfen über mangelnden Malfleiß, die dieser ganz verblüfft über sich ergehen ließ. Ein aufgeregtes, reizbares Wesen kam über sie, und das Bestreben trat täglich deutlicher hervor, die Zügel der ganzen Hauswirtschaft in die Hand zu nehmen.

Durch Julie erfuhr Backstein von dieser neuen Wandlung Agas. Er sah darin einen willkommenen Vorwand, einmal mit ihr über ihre ganze Lage zu sprechen. Dabei leitete ihn die Hoffnung, daß dies den Anstoß zu weiteren vertraulichen Aufschlüssen über all das Wunderliche ihres Wesens geben würde. Ehe es dazu kam, traf er einmal zufällig mit Baron Dolgiano zusammen. Da er mit diesem seit der Katastrophe gar keine Berührung mehr gehabt hatte, wollte er die Begegnung, die sich in einem vornehmen Zigarrengeschäft ergab, mit flüchtiger Höflichkeit erledigen. Der Baron hielt ihn aber mit einem Gespräche fest und geleitete ihn dann auf die Straße.

Dort begann er:

»Es ist mir sehr wertvoll, Sie zu treffen, Herr Backstein. Ich hätte Sie sonst vielleicht in der nächsten Zeit aufgesucht.«

Als ihn Backstein erwartungsvoll fragend ansah, fuhr er fort:

»Es hängt mit der alten traurigen Angelegenheit zusammen. Baron Hottenbach wird in der nächsten Zeit die Festung verlassen. Er befindet sich in einem höchst bedenklichen Zustand, wie mir seine Mutter mitteilt, ganz gebrochen, schwer gemütsleidend, will auch gar nicht mehr hierher, sondern siedelt mit der alten Baronin nach Innsbruck über, wo er das Hochgebirge noch näher hat, in dem er sich vielleicht wieder auffrischen kann. Von höchstem Werte wäre es nun, wie die bekümmerte Mutter meint, wenn man ihm die Verzeihung der Gräfin Hove mitteilen könnte. Soweit Reue versöhnen kann, verdient er sie. Schon damals, als ich den Aufenthalt auf der Feste Oberhaus mit ihm teilte, war er ein bemitleidenswerter Mensch, und seitdem ist es nicht besser, sondern schlechter mit ihm geworden. Wäre denn da nichts zu machen, bester Herr Backstein? Er hätte ja ebensogut fallen können wie Hove und büßt eigentlich nur dafür, daß ihm der Zufall günstig war.«

Backstein erwiderte:

»Meine arme Schwägerin, die Unschuldige, hat wohl noch viel mehr gelitten und ihr geistiges Wesen hat sich unter diesem Leid so verändert, daß man vor einem unheimlichen Rätsel steht. Auch hier ist, so fürchte ich, ein Menschenleben zerstört worden, und ich bin der bestimmten Meinung, daß dieses kostbarer war als das des Herrn Barons von Hottenbach.«

Dolgiano bemerkte schüchtern:

»Ich begreife die Bitterkeit Ihrer Gefühle, aber ich meine, man könnte da ein gutes Werk tun – – – vielleicht für beide Teile. Auch für die Gräfin könnte es etwas Befreiendes haben – – –«

»Sie hat ihren Mann sehr geliebt, war sehr glücklich mit ihm,« versetzte Backstein, »und erst zwei Jahre sind vergangen. Mir hat's den Anschein, als müßte man wenigstens warten, bis sie weiße Haare hat und dann ist's noch fraglich.«

»Sie verzeihen die Belästigung,« sagte jetzt Dolgiano. »Ich hielt mich nur, als ich Sie sah, für verpflichtet, mit Ihnen darüber zu sprechen, ob eine Möglichkeit – – – er scheint wirklich schlimm daran zu sein, der unglückliche Mensch.«

»Ich habe kein Recht, über die Empfindungen meiner Schwägerin zu verfügen,« antwortete Backstein trocken.

»Das natürlich nicht, aber ich dachte, es wäre vielleicht ein Einfluß möglich – – –«

Sie hatten in langsamem Gange dahinschreitend gesprochen. Jetzt blieb Backstein stehen und, den Blick eindringlich auf den Baron richtend, sagte er:

»Einfluß? Das muß ein ganz seltener Mensch sein, der es wagen darf, den Seelenarzt einer um ihr Liebstes trauernden Frau zu machen.«

Der Baron fühlte sich beschämt und sagte:

»Ich bitte nochmals um Verzeihung.«

»Ihre Absicht ist ja sehr ehrenwert,« sagte Backstein jetzt, »und fügt sich in die ritterliche Art, die Sie in dieser Angelegenheit gezeigt haben, würdig ein.«

Dolgiano wehrte mit kurzer Handbewegung ab:

»Meine Meinung über gewisse Dinge ist abgeschlossen.«

Backstein erwiderte nichts. Mit einem Händedruck schieden sie voneinander.

›Ein seltener Mann muß der sein, der da den Seelenarzt spielen wollte.‹

Das eigene Wort hing sich an Backstein fest. Trug er doch schon seit langem den Wunsch mit sich herum, einen solchen Seelenarzt zu spielen. Viel zu viel beschäftigte er sich mit Aga. Er konnte ja doch nicht helfen. Sie baute sich ihr Leben selber aus. Aber wie! Das war es eben, was ihn gar nicht losließ. Einfaches, wohl erklärliches Mitleid war das nicht mehr. Eine Angst war in ihm, es sollte da etwas Schönes, Kostbares zugrunde gehen, und immer tiefer bohrte sich diese Angst in ihm ein, wurde zu einem ganz persönlichen Schmerzgefühl.

Es gab gewisse Dinge, die seiner Sorge hätten viel näher stehen müssen. Das war es eben, daß sich der Gedanke an Aga immer mehr mit diesen verkettete, daß das eine in das andere floß. Sein Leben verwirrte sich immer mehr, verlor immer mehr die gerade Richtung sicherer Überzeugungen, planvollen Zielbewußtseins. Es war nicht gut gewesen, daß da einmal Leidenschaft hineingekommen war.

Er sprach mit Aga, an des Schwiegervaters Malerei anknüpfend, die immer schlechter werde und eigentlich nur mehr Winkelkunst darstelle, und mahnte sie zur Vorsicht in Geldangelegenheiten eindringlicher, als es schon bisher geschehen war. Er flocht dabei den Gedanken ein, daß es den Anschein habe, die Mutter dränge sie selber zu einem unnötigen Aufwand.

Aga sagte darauf:

»Es ist wahr, ich brauche viel Geld, und ich habe auch schon angefangen, mich mehr um meine Kasse zu kümmern. Das geht aber nicht immer so. Brauchst nicht zu fürchten, daß ich mich zu einer lustigen Witwe auswachse. Ist, was ich will, erreicht, dann wird alles anders werden. Das aber laß dir gesagt sein. Ich werde nur immer einen Gedanken haben: ›Paul‹.«

Die Augen in den Schoß gesenkt, mit halblauter Stimme hatte sie gesprochen.

Backstein entgegnete, die Worte suchend:

»Ich will mich ja nicht in dein Vertrauen drängen. Aber – verzeihe – man wird schwer klug aus dir.«

»Du kannst mir nicht helfen, du nicht,« sagte Aga darauf und sah ihn dabei wie prüfend an.

»Ich täte es gern, Aga,« versetzte Backstein mit großer Wärme. »Denn ich bin wirklich in Sorge um dich. Du hast dich so verändert,« fügte er leise bei.

»Das wundert dich?« antwortete sie bitter. »Ich möcht' mich selber anders haben.«

»Was bedeutet eigentlich deine Lust an so eleganter Toilette?« fragte Backstein nach einer kleinen Weile.

»Lust?« fragte sie dagegen. »Ich bin die Gräfin Hove, und Paul hat mich gelehrt, was ich diesem Namen schuldig bin. Sollen die Leute Redensarten machen, daß ich jetzt verarmt sei?«

»Baron Hottenbach kommt demnächst aus der Festung,« sagte Backstein auf einmal. »Er zieht nach Innsbruck.«

Aga richtete sich jäh auf ihrem Sitz auf und rief schrill:

»Er wagt sich nicht mehr hierher, der Feigling? Nach Innsbruck? Weißt du das bestimmt?«

»Baron Dolgiano sagte es mir,« erwiderte Backstein.

»Innsbruck also beglückt der edle Herr?« fuhr Aga hämisch fort. »Dahin reisen ja Sommers immer viele Leute von hier. Warum versteckt er sich nicht besser?«

»Liebe Aga,« sprach Backstein, »für dich muß der Mann doch tot sein. Ich hätte vielleicht besser nicht davon gesprochen.«

»Du hast recht, für mich muß er tot sein,« versetzte Aga mit einer Betonung, die Backstein ganz wunderlich erschien.

»Ich meine,« sagte er stockend, »er existiert für dich nicht mehr.«

»Er lebt aber noch!« schrie sie auf.

»Sein Zustand soll sehr schlecht sein. Ganz gebrochen, gemütskrank – – –«

»Gemütskrank!« unterbrach Aga den Schwager. »Das Gewissen peinigt den Mörder! Es soll ihn nur Tag und Nacht peinigen, und zerbrechen soll es ihn Stück um Stück. Schlecht geht es ihm, hast du gesagt? Pauls Geist läßt ihn nicht ruhen. Das ist es. Aber er soll leben, ich will's, daß er noch eine Zeitlang lebt.«

»Wenn ich's doch nicht gesagt hätte!« klagte sich jetzt Backstein an.

Ein dunkler Impuls war es gewesen, der ihn hatte sprechen lassen, ein Anreiz, scharf in ihre Seele zu leuchten. Er hatte sie erregt und doch dabei nichts entdeckt, als daß der alte glühende Haß sich noch nicht zur Ergebung in ein Verhängnis gewandelt hatte.

»Ich weiß nicht mehr, was ich von ihr denken soll,« sagte Frau von Rottenau zu Julie. »Sie tyrannisiert uns von Tag zu Tag mehr. Mir macht sie Vorwürfe, daß ich in der Küche nicht zu sparen wisse, den Papa beaufsichtigt sie jeden Morgen, ob er im Atelier sitzt, und, wenn dies nicht der Fall ist, macht sie bei Tisch Bemerkungen; dabei kauft sie immer neue Hüte, neue Sonnenschirme und hat keine Ruhe, sondern will, daß ich jeden Tag mit ihr bald nach Starnberg, bald nach Schliersee oder sonstwohin fahre. 's ist aber doch keine Lebenslust dabei, und sie hört teilnahmlos zu, wenn man spricht, gibt gerade die nötigste Antwort, wenn man sie fragt. Sie altert auch, ihre Züge werden scharf. Findest du nicht?«

»Ihr Gesicht hat einen ganz anderen Ausdruck angenommen,« entgegnete Julie, »aber es ist beinahe schöner geworden, mehr Persönlichkeit spricht aus ihm. Die Herren, die sie bei mir getroffen haben, sind ganz fasziniert von ihrer aparten Erscheinung. Sie sticht mich jetzt aus. Das war früher nicht der Fall.«

Frau von Rottenau fuhr fort:

»Manchmal möchte man meinen, sie legte es auf eine neue Zukunft an, aber dazu paßt doch nicht die Miene, vor der man zuweilen erschrickt wie vor einer Meduse.«

»Das reizt vielleicht gerade manche Männer.«

»Du könntest manches tun.«

»Sie kommt neuerdings, wie es scheint, sehr gern zu mir, aber von solchen Absichten möchte ich sie nichts merken lassen. Ich wüßte auch wahrhaftig niemand. Das Bezaubertsein, das bedeutet in unseren Kreisen nicht so gar viel, höchstens eine Idee zu einem Bilde. Und diese Künstler – – was soll das für Aga?«

»Es kommen ja auch noch andere Leute zu dir.«

»Ach ja, die Herren Kunstfreunde, die gern an einer schönen Künstlersfrau herumschnuppern, weil sie meinen – – – Da ist erst recht nichts für Aga zu machen. Übrigens, wenn sie auch gern zu mir kommt, wir sind uns doch geistig ganz fremd, wie es seit unserer Verheiratung immer gewesen ist. Ich käme nicht an sie heran, sie hat kein Vertrauen zu mir.«

»Zu wem hat sie denn Vertrauen?« klagte jetzt Frau von Rottenau.

Julie sagte knapp:

»Zu Richard.«

Dann fügte sie in einem leicht ironischen Ton bei:

»Und er zeigt nicht übel Lust, sich selber in sie zu verlieben.«

»Was für ein Einfall!« meinte Frau von Rottenau.

»Na, na! Aber du brauchst es nicht gerade tragisch zu nehmen,« versetzte Julie. »Es ist vorläufig nur Künstlermitleid mit einer schönen Frau, die auch in solcher Beleuchtung schön geblieben ist, und dabei wird es auch bleiben.«

Von Tante Sporn kam ein Brief an Aga, in dem sie innig, beinahe demütig, bat, diese möchte doch im Sommer wieder, und zwar für möglichst lange Zeit nach Garnheim kommen. Der Onkel, der von dem Briefe gar nichts wisse, habe ernstliche Sehnsucht nach ihr und würde sich sehr gekränkt fühlen, wenn sie sich auch in diesem Sommer fernhielte wie im vorigen. Sie habe es ja auch bei ihrer kurzen Anwesenheit im Winter versprochen. Das hatte sie getan, als sie am Todestag des Gatten wiederum nach Reitershausen gereist war, weil sie den alten Leuten, die mit den Augen noch inniger gebeten hatten als mit den Lippen, nicht wehtun wollte. Sie wußte, daß sie ihnen ohnehin Schmerz bereitete durch den kärglichen, von ihr so trocken gehandhabten Briefwechsel. Sie hatte Scheu vor Garnheim. Da war etwas, was sie meiden mußte, was sie vorläufig ganz und gar nicht gebrauchen konnte.

Ungern, recht ungern ging sie hin, wenn auch oder eben weil wieder die Liebe warm wurde für diese guten Menschen, die sich zärtlich besorgt an ihr Schicksal hingen, nicht ahnend, daß sie hemmten, störten.

Alt, recht alt war Onkel Sporn geworden, daß ihr ganz weh wurde, als sie ihn sah. Die Tante war aufrecht geblieben in ihrer sanften und dabei doch selbstsicheren Art. In des Onkels zappelige Ritterlichkeit, mit der er sie umgab, war etwas von Mißtrauen gemischt, er sah sie in den ersten Tagen immer fragend an. Aga zeigte sich in Garnheim nicht in ihren elegantesten Toiletten; ganz schlichte Sommerkleider in kühlen Farben und einfache Hüte hatte sie mitgenommen. In ihrer persönlichen Art war sie erst recht ganz anders als in München. Das rührte aber nicht allein von einer absichtlichen Selbstbeherrschung her, sondern es kam gleich wieder – sie spürte es deutlich – die richtige, leise behagliche Stimmung von der Mauergasse über sie, diese Stimmung, in der sie eben die Gefahr sah.

Sie bemerkte sehr schnell, daß zwischen dem Onkel und dem Major von Falk etwas anders geworden war, aber sowohl von der Tante wie von dem Fräulein von Falk wurde sie mit unklaren Redensarten abgespeist, so daß sie endlich auf den Onkel mit der direkten Rede losging:

»Bei dir stimmt etwas nicht, Onkelchen. Du hast doch kein Leiden? Da hätte mir doch die Tante etwas davon gesagt.«

»Ich bin gesund wie ein Fisch im frischen Wasser,« erwiderte der Baron, aber gar nicht lustig, sondern beinahe gallig. »Altmodisch werde ich halt für Garnheim, das sich ›entwickelt‹, wie sie sich ausdrücken. Drüben über der Brücke haben sie zwei neue Villen gebaut, im Schwan ist eine ›Garage‹ errichtet, und der Mohrenbräu braut jetzt auch helles Bier. Das ist die Garnheimer Entwicklung, in die ich nicht mehr passe.«

»Aber Onkel, wer sagt denn das?« wendete Aga ein.

»Das spürt man, mein Kind, ohne daß es einem gesagt wird,« erwiderte der Baron. »Man soll sich nicht in einem solchen Nest niederlassen. Das rächt sich früher oder später.«

»Er bildet sich was ein!« sagte die Tante, als Aga sich bei ihr erkundigte.

Und ungefähr dasselbe erwiderte ihr auf eine Frage der Major, der noch hinzufügte:

»Heute gibt eben die Jugend den Ton an. Das will dem Herrn Onkel nicht gefallen.«

Das war es auch in der Tat, was dem alten Baron nicht paßte.

Seit jener Versöhnung der Parteien auf dem Reitershausener Schützenfest hatten die jungen Leute, Leutnants, Referendare, Assessoren, Postassistenten, »die Sache in die Hand genommen«. Die Mädchen und die Mütter waren dessen froh, und die alten Herren riskierten nicht den häuslichen Frieden. Man setzte sich jetzt erst recht dahinter, Schwung in das Garnheimer Gesellschaftsleben zu bringen.

Es gab da unter den jungen Herren einige Talente, die immer etwas Neues zu veranstalten wußten. Der verwitweten Gräfin Hove wegen war der ärgerliche Zwiespalt entstanden. Da waren ja schon zwei Jahre darüber hinweggegangen, die Gräfin war nie in Garnheim, die jungen Leute kannten sie wenig oder gar nicht. Freilich, der Onkel, der Baron Sporn, war da. Aber der gute alte Herr konnte doch nicht verlangen, daß seiner in München lebenden Frau Nichte wegen sich lebenslustige junge Männer und hübsche Mädchen aus dem Wege gingen.

Der alte Baron verlangte so etwas auch nicht; in seiner Herzensgüte hätte er die jungen Leute auch ganz gut verstanden, wenn er an deren Empfindungen gedacht hätte. Er war aber durch die Jahre verwöhnt, und er sah auch gar nicht die jungen Leute, sondern die alten Herren, von denen er Rücksicht verlangen zu können glaubte. Deren Willfährigkeit verdroß ihn, die hätten zu ihm halten müssen, und Falk hätte auch immerhin seinen Offizieren nicht so nachzugeben brauchen. Das war Schwäche und Inkonsequenz, Dinge, die ein militärischer Vorgesetzter nicht zeigen soll.

So sah denn der Baron in allen seinen langjährigen Bekannten wenn nicht Feinde, so doch unzuverlässige Freunde, die ihn leichten Herzens fallen ließen. Darüber kam er nicht mehr weg, das griff ihm an den Lebensnerv.

Aga wußte wohl, daß das erlösende Wort gewesen wäre: »Ich bleibe bei euch!«

Er sah sie zuweilen offenbar darauf hin an, und schließlich kam es ihm einmal auch über die Lippen:

»Deine Eltern haben ja doch die Julie, könntest recht gut hierbleiben.«

Als sie dann meinte:

»Hedwig wird dir jetzt schon lästig. Du bist nur so gütig, es nicht merken zu lassen,« antwortete er:

»Die Kleine werde ich schon in den Kauf nehmen, das wäre kein Hindernis.«

Sie half ihm wieder wie früher bei der Pflege der Sammlung und war voll Aufmerksamkeit gegen ihn. Als dann die Tante eines Tages sagte: »Du machst ihn förmlich aufblühen, und dir bekommt es auch gut. In München, glaube ich, träumst du zuviel vor dich hin,« da wurde sie wieder unruhig und besann sich darauf, wie sie rechtzeitig ein Ende machen solle, um sich nicht eines Tages gefesselt zu sehen. Major von Falk kam seltener in die Mauergasse als früher, aber sie traf ihn öfter zu Hause, wenn sie seine Schwester besuchte. Er sprach auch ein und das andere Mal davon, welche große Freude sie den alten Leutchen machen würde, wenn sie in Garnheim bliebe.

Da, im Falkschen Hause, fühlte sie bald eine andere Gefahr für ihre Absichten entstehen. Hedwig hatte sich mit dem kleinen Alex beinahe zärtlich angefreundet, und der Major hatte seinen Spaß daran. Er spielte gern mit beiden Kindern, und Hedwig war bald gegen ihn so zutraulich geworden, wie sie es gegen Onkel Richard gewohnt war.

Aga fand überhaupt öfter Anlaß, Herrn von Falk mit ihrem Schwager zu vergleichen. Von ihm kam auch und in noch viel höherem Grade eine vertrauenerweckende ruhige Überlegenheit, die die ständigen Zuckungen ihres Innern so sehr besänftigte, daß sie ihn mit selbstvergessenem Behagen sprechen hörte. Die Art der Schwester trug noch weiter zu einer Stimmung bei, die Ähnlichkeit mit dem Frieden des Spornschen Hauses hatte, aber an Stelle des Greisenhaften dabei warme Lebensfülle zur Geltung brachte.

Mit gewaltsamer Absicht holte sie hinterher immer wieder den Gedanken hervor, daß es ja gerade dieser Herr von Falk gewesen war, der ihr den Trank gereicht hatte, der ihr jetzt in ihrem Blute als zehrendes, bohrendes Gift kochte. Es war nicht anders zu machen. Sie mußte ihren Aufenthalt noch um vierzehn Tage verlängern.

Die Tante sagte:

»Mache ihm die Freude und mir auch!«

Der Onkel sagte nichts, aber schier wie ein alter Bettler sah er sie an.

An einem Abend gemütlichen Beisammenseins war es geschehen. Ein noch so abgedämpftes »Nein« hätte in den Frieden der Stunde einen grellen Mißton gebracht, der die beiden Alten aufs heftigste erschreckt hätte.

Als Aga wieder einmal nach Reitershausen hinauskam, wo sie dreimal in der Woche zu erscheinen pflegte, teilte man ihr mit, daß in den nächsten Tagen die Kinder in die Ferien kommen würden. An diese Ferien hatte sie nicht gedacht, als sie Onkel und Tante ihr Versprechen gab. Bei ihrem letzten längeren Aufenthalt war sie aber gerade diesem Erscheinen der Kinder in Reitershausen in einem ahnenden Gefühle ausgewichen. Das ging jetzt nicht mehr. Sie mußte nun die Probe bestehen. Mit tapferem Entschluß machte sie sich das nächstemal auf den Weg, nach wie vor nur die Asche des Gatten da draußen zu suchen und alles andere als Neues anzusehen, das nichts gemein hatte mit dem Gewesenen. Aber als die Kinderschar mit mutwilligen Augen, zum Teil vom Spiel erhitzt, an sie herantrat, ihnen voran der junge Erbe des Hauses Hove und dann die Brüder und die Schwestern, da kam es herauf aus tiefsten Tiefen der Seele, das große Weh der Witwe.

Nicht Vergangenheit, verlorene Zukunft stand vor ihr. Sie war berufen gewesen, Mutter einer Schar solcher Kinder zu sein, die im Park von Reitershausen als ihrer Heimat spielten, aus ihrem Schoße sollte der Erbgraf Hove kommen, sie sollte mit frohem Mutterstolz an dieser Stätte den Gästen entgegentreten.

Weibliches, ganz Weibliches schrie in ihr auf und heiße, fast zornige Liebe spürte sie für ihre kleine Hedwig, die der Reihe nach den Vettern und Kusinen das Händchen reichte – eine Fremde, freundlich Geduldete auf verlorenem Heimatboden.

Der alte Baron Sporn wischte selber die Tränen aus den Augen beim Anblick der Nichte, die, heimgekommen, ihrem brennenden Weh mit lautem Schluchzen sich hingab. Es ging also wirklich nicht, daß sie in Garnheim bliebe.


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