Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Stadt Garnheim, die etwa dreißigtausend Einwohner zählt, ist eine jener ehemaligen freien Reichsstädte Süddeutschlands, die trotz einigen neuen Zutaten ihre alte Gestalt als wehrhafte Bürgersitze noch wohl erhalten haben.
Wenn der Schnellzug oben am Rande der südlichen Hochebene aus dem Fichtenwalde tritt und in ziemlich starkem Gefälle talabwärts fährt, liegt sie jenseits eines kleinen Flüßchens, über das eine schwerfällige, steinerne Brücke führt, von einer Mauer mit Wachttürmen und Toren umkränzt, einen mäßig hohen Hügel emporkletternd vor den Blicken des Reisenden.
Oben auf dem Hügel ragt ein ehemaliges Kloster, das jetzt einem Infanteriebataillon als Kaserne dient, weithin sichtbar mit den zwei Barocktürmen einer stattlichen Kirche.
Über die enggehäufte Häusermenge erheben sich noch einige Kirchen mit spitzen oder giebelförmig abschließenden Türmen und auch mehrere Gebäude mit hohen Stufengiebeln.
Garnheim ist, abgesehen von der Garnison, Sitz verschiedener Behörden und wird der anmutigen Gegend wegen auch von Pensionären gerne als Ruhesitz aufgesucht.
Die Honoratioren wohnen meist über dem Flüßchen drüben, am Rande des Waldes, der sich von der Hochebene niedersenkt und einen prächtigen Naturpark bietet.
Aus einem Dorfe mit Namen Stiering war da in den letzten dreißig Jahren ein anmutiger, villenartiger Vorort entstanden, der nur mehr amtlich Stiering heißt. Die Garnheimer sagen »Über der Brücke«. Wenn man vom Bahnhof kommt, geht es durch das Marientor mit dem schweren, festungsmäßigen Unterbau und dem daraufgesetzten schlankeren Uhrturm, dessen goldige Windfahne in der Sonne heiter funkelt, durch die Bergstraße sacht ansteigend, aber schnurgerade nach dem schönen Marktplatz mit seinen heiterfarbig getünchten Häusern, unter denen das stattlichste nächst dem hochgegiebelten vielfenstrigen Rathaus das Hotel zum silbernen Schwan ist. Es enthält im Erdgeschoß ein im Renaissancegeschmack eingerichtetes, ziemlich eingeräuchertes Café, in dem nach Landesbrauch Kellnerinnen, zwei an Zahl, in schwarzen Kleidern und weißen Schulterschürzen bedienen. Noch ein Kaffeehaus gibt es in der Stadt, aber die Honoratioren verkehren nur im »Schwan«. Nach dem Mittagessen und dem darauffolgenden pflichtgemäßen Spaziergang findet sich dort ebenso pflichtgemäß die ganze bessere Herrenwelt ein.
Zu dieser gehörte auch der alte Baron Sporn, die Berühmtheit von Garnheim. Der Baron hatte in der Tat als Gelehrter auf dem Gebiete der Insektenforschung einen gewissen Ruf. Ursprünglich zur Forstlaufbahn bestimmt, nach der der kleine zierliche Mann wenig aussah, wurde er Dozent an einer Hochschule und Hilfsarbeiter am dortigen Naturgeschichtlichen Museum. Intrigen schienen sich seiner Laufbahn entgegenzustellen, und kurz entschlossen zog sich der wohlhabende Mann zurück, um weiterhin als Privatgelehrter seiner Wissenschaft zu dienen. Er war stets sehr elegant gekleidet, das dichte, ziemlich weiße Haar sorgfältig in leichten Wellungen frisiert. Ein kurzes, weißes Schnurrbärtchen und eine »Fliege« über dem Kinn gaben ihm etwas von einem Franzosen Napoleonischen Regimes.
Pünktlich um drei Uhr erschien er und ging raschen Schrittes auf ein kleines Tischchen in einer Ecke zu. Dort lagen schon seine vier Leibzeitungen, die er eifrig las, dabei einen Kneifer mit dicker schwarzer Hornfassung auf der Nase.
Erst wenn er die Zeitungen gelesen hatte, wobei man ihn nicht durch einen Gruß stören durfte, ohne ein ärgerlich hellschmetterndes: »Später, später!« als Antwort zu bekommen, begab er sich zu den anderen Herren und blieb ein Weilchen da und dort stehen, bis er schließlich einen ihm genehmen Platz gefunden hatte. Er wechselte dabei fast jeden Tag und seine Nachbarschaft wurde zur Gunstbezeigung. Man hatte ihn gern, den kleinen alten Baron, der ein bißchen redselig, ein bißchen eitel war und Miene machte, in allen möglichen Dingen Kenner zu sein, dessen liebenswürdige Höflichkeit aber, auch gegen junge Leute, wenn er nur beim Zeitungslesen nicht gestört wurde, einen großen Reiz ausübte.
Als er heute nach vollendeter Zeitungslektüre an einem der Tischchen vorüberging, sprach ihn, den Kopf wendend, der Forstmeister an:
»Das Fräulein Nichte ist ja wieder hier, Herr Baron. Bin ihm heute vormittag begegnet.«
»Ja, sie ist gestern angekommen,« lautete die Antwort.
»Wieder für eine Weile eine Verschönerung unserer Stadt,« setzte der Forstmeister das Gespräch fort.
Der Baron bemerkte kurz kichernd: »Alter Schwerenöter!« und drohte mit dem Finger.
Ein schlanker junger Mann im Reitanzug, mit kurz gehaltenem schwarzen Vollbart und glattgestrichenem Haar, der mit einigen anderen am nächsten Tische saß, sprach jetzt den Baron an:
»Fräulein Aga wieder im Lande? Ah, da bitte ich, mich bestens zu empfehlen!«
»Soll besorgt werden!« lautete die Antwort des Barons und heiter fügte er hinzu:
»Jetzt werden wir alten Leute Sie wohl wieder bei uns zu sehen kriegen. Haben sich neuerdings recht rar gemacht in der Mauergasse, lieber Graf.«
Der so Angesprochene hatte nur einen etwas verlegenen Blick als Antwort.
Als Baron Sporn nach einer Weile den kurzen Heimweg antrat, dachte er darüber nach, wie das jetzt eigentlich werden solle mit Aga und dem Grafen Hove, der im vorigen Sommer mit seiner Kurmacherei so lebhaft eingesetzt hatte, daß die Sache in dieser Weise nicht mehr lange weitergehen durfte.
Agathe von Rottenau war gar nicht die unmittelbare Nichte des Barons, sondern die Tochter eines Vetters seiner Frau. Vor zwei Jahren war sie ihm auf eine ganz flüchtige Einladung hin von den Eltern auf vierzehn Tage ins Haus geschickt worden. Das damals achtzehnjährige Mädchen hatte ihm und namentlich der Baronin so gefallen, daß sie es sich im vorigen Jahre für drei Sommermonate ausbaten, und da hatte sich denn das Verhältnis so innig gestaltet, daß die beiden kinderlosen alten Leute mit dem Gedanken spielten, das schöne und liebenswürdige Mädchen ganz zu sich zu nehmen, denn dessen Familienverhältnisse waren nicht sehr erfreulicher Art.
Wenn nun Graf Hove, worauf mit einiger Sicherheit zu rechnen war, seinen Huldigungen eine ernste Wendung gab, dann fielen jene Absichten weg, aber es stellte sich eine andere Frage ein.
Die Eltern des Mädchens konnten nicht einmal eine anständige Aussteuer aufbringen, ohne noch mehr in Schulden zu geraten. Graf Hove aber war zwar Besitzer eines nicht unbedeutenden Fideikommisses, verfügte jedoch über gar kein Altersvermögen. Da war eigentlich eine reiche Frau am Platze. In einer Ehe mit mehreren Kindern konnte es sonst zu Nützlichkeiten kommen. Hove war ein lieber Mensch, und Aga sah ihn offenbar sehr gerne. Sowohl der Baron wie dessen Gattin hatten in Hinsicht ihres letzten Willens keine zwingenden Verpflichtungen. Aber es gab doch noch einige Verwandte, denen eine Erbschaft wohlgetan hätte, und man läßt sich nicht gern Unfreundliches ins Grab nachrufen.
Die Mauergasse, in der Baron Sporn wohnte, lag nicht im Quartier der Honoratioren »Über der Brücke«, sondern zog sich längs der inneren Seite der alten Stadtmauer hin und wurde nur von einigen wenigen schmucken Häusern und den dazugehörigen Gärten gebildet. Das Haus des Barons war mit seinem Vorderteil auf die Stadtmauer selbst aufgebaut, so daß man von der Gasse eine ziemlich steile Doppeltreppe emporsteigen mußte, um die Haustür zu erreichen, die, dunkelgrün gestrichen, Rokokozierwerk zeigte, das sich in der weißen Fassung des Oberlichtes besonders kunstvoll darbot. Die Wand des einstöckigen Gebäudes war rosenfarben getüncht, dunkelgrüne Läden hingen an den hohen Fenstern. Ohne jeden weiteren Schmuck machte es doch einen herrschaftlichen Eindruck und schien reichlich geräumig für zwei alte Leute. Im Innern bot es das köstlichste Bild eines völlig zeitentrückten Idylls. Auf den ersten Blick mochte man glauben, im Hause eines Kunstliebhabers zu sein. Aber das Ganze war so harmonisch zu einem lebensvollen vornehmen Heim gefügt, trug die Farbe des Wohnlichen so deutlich beredsam, daß man sich diese Rokoko- und Empiremöbel, Vasen, Bronzen, Porzellane, Stiche, Pastelle usw. nicht mehr als Antiquitäten dachte, die von Liebhabergeschmack gesammelt waren, sondern sofort jene Echtheit ererbten Familienbesitzes witterte, die keine noch so geschickte Zusammenstellung gekaufter Ware vorzutäuschen vermag.
Den nicht sehr breiten, aber ziemlich langgestreckten Garten, zu dem man auch vom Hause eine hohe Steintreppe hinabsteigen mußte, beherrschte eine große Kastanie, um die eine Bank gebaut war. Es gab hier auf der einen Seite einen anmutigen Blick nach der alten Brücke, hinüber zum Villenvorort und zur Waldhöhe, auf der anderen ragte vom Stadtberge die prächtige Klosterkirche über die Häuser nieder.
Baronin Sporn und Fräulein von Rottenau saßen da mit Handarbeiten. Der Baron sagte, sich zu ihnen gesellend:
»Ich soll dich von jemand grüßen, Aga!«
»Wer ist es denn? Lulu Wegener vielleicht?« fragte die junge Dame dagegen.
»Da ließe ich dich nicht weiter raten,« sagte der Baron. »Die würde mir vielleicht auch gar keinen solchen Auftrag geben.«
»Wieso? Ich stehe doch sehr gut mit ihr.«
»Das meinst du. Ich will dir bei dieser Gelegenheit nur sagen, sie ist eifersüchtig auf dich.«
»Eifersüchtig? Ja warum denn?«
»Weil sie aufhört, das schönste Mädchen der Stadt zu sein, wenn du hier bist.«
»Aber Onkel, was machst du für Witze,« wehrte Aga ab.
»'s ist was Wahres dran,« warf die Baronin ein.
Aga sagte darauf mit lächelndem Erröten:
»Über die Maßen eitel ist Lulu freilich. Aber das wäre doch zu ungeschickt. Es gibt ja hier doch noch mehr hübsche Mädchen.«
»Das wohl, aber – – –«
Aga unterbrach den Onkel scherzend:
»Laß doch den Unsinn und richte endlich den dir aufgetragenen Gruß ordnungsmäßig aus.«
»Na, wer soll es denn anders gewesen sein als Hove,« sagte jetzt der Baron. »Das hast du ja doch gleich gewußt und erst ein bißchen geschauspielert.«
»Ah, Graf Hove! Was macht er denn?« versetzte jetzt Aga mit unbefangener Frische, aber das Rot ihrer Wangen wurde doch etwas lebhafter.
»Das wirst du ihn bald selber fragen können, denn, wenn nicht schon heute, kommt er ganz gewiß morgen zum Tee angerückt. Bei uns Alten hat er freilich schon eine ganze Weile nicht mehr vorgesprochen.«
»Was soll er denn auch so oft hier?« warf die Baronin ein. »Dich kann er im Schwanen treffen und bei mir ist wenig für einen jungen Mann zu holen. Nett genug, wenn er sich einmal im Monat sehen läßt.«
Die Baronin war ein auffallender Gegensatz zu ihrem Gatten, eine große, hagere Dame. Durch eine etwas lange Nase bekamen ihre Züge, obwohl die Gesichtsbildung sonst sehr fein war, eine gewisse Schärfe. Sie sprach aber immer ganz sanft, ein wenig singend. Nach einigen weiteren an Aga mit Bezug auf den Grafen gerichteten Neckereien, die er mit leisem Kichern begleitete, empfahl sich der Baron bei den Damen und ging auf ein im Hintergründe des Gartens stehendes Häuschen zu, das nur ein Erdgeschoß mit hohen Fenstern enthielt. Auf der einen Seite der Eingangstür befand sich die große Insektensammlung mit den Einrichtungen zur Züchtung lebender Exemplare und zur Beobachtung ganzer Völker von Bienen, Ameisenarten bis zu kaum sichtbaren Vertretern des Insektenreiches und ihrer Daseinsbedingungen; die dazugehörigen Mikroskope und Lupen waren in peinlicher Ordnung auf dem Schreibtisch geordnet, der aus der anderen Seite in der Bibliothek stand. Zwei weitere Räume dienten hauswirtschaftlichen Bedürfnissen. Sie zu betreten war aber für die beiden Dienstmädchen des Hauses mit einem gewissen Wagnis verbunden. Der Diener, Peter Kellermann – die Baronin gebrauchte den Vornamen, der Baron rief ihn Kellermann – war vortrefflich als Hüter der Sammlung und gelegentlicher Hilfsarbeiter angelernt und fühlte sich dementsprechend als verantwortliche Vertrauensperson. Wenn nun eine von den »Weibern« das Häuschen betrat und ihm gerade in den Weg kam, da ging es selten ohne Gemurre und die schroffe Order ab, sich möglichst bald wieder aus dem Staube zu machen, und wenn dann als Entgegnung Witzchen über die »Mottenkiste«, den »Fliegenstall« oder »Flohzirkus« fielen, dann wurde Kellermann, obwohl als Junggeselle keineswegs ein grundsätzlicher Weiberfeind, ausgiebig grob.
Fräulein Agathe hatte er bei ihrer Ankunft mit freudigem Lächeln begrüßt, denn sie war ja auch eingeweiht in die Arbeit des Hinterhauses. Vorigen Sommer hatte sie sich mit bereitwilligem Interesse dem Onkel zur Verfügung gestellt, dem für mancherlei Verrichtungen ihre leichte Hand höchst willkommen war.
Am nächsten Tage erfüllte sich richtig die vom Baron ausgesprochene Erwartung. Zur Teezeit erschien Graf Hove. Er blieb fast zwei Stunden in einer behaglichen allgemeinen Unterhaltung, ohne in irgendeiner Wendung gegen Agathe den Kurmacher hervorzukehren. Die beiden alten Leute hatten aber doch gleich bei seinem Eintritte bemerkt, daß es beiden Selbstbeherrschung kostete, die Freude über das Wiedersehen in unauffällige Formen zu zwingen, und im weiteren gab es noch allerlei Anzeichen, wie es um die beiden stand, ohne daß man dabei auf ein heimliches Einverständnis hätte schließen dürfen. Es war die junge Liebe in dem köstlichen Stadium des Fragenden, Hoffenden, Ringenden, das in der Sorge, sich nicht zu verraten, sein Geheimnis erst recht deutlich zur Schau trägt.
Agathe liebte den Grafen. Den ganzen Winter hatte sie von ihm wachend und schlafend geträumt und sich nach ihm gesehnt; jetzt, da er vor ihr saß, war ihr Herz zum Zerspringen voll, und wenn er das gleichgültigste Wort sprach, drang ihr der Klang der Stimme in weicher Süßigkeit durch Mark und Bein. Sie durfte und wollte ihm doch nicht immer ins Gesicht sehen. Da war es schon im vorigen Sommer ein ihr liebes Spiel der Augen gewesen, den Ring mit der großen, runden Lapislazuliplatte anzusehen, der, wie ihr dünkte, die Form seiner Hand vorteilhaft hob.
Die erste Liebe des zwanzigjährigen Mädchens war es. Vom fünfzehnten Jahre an hatte es ihr nicht an Kurmachern gefehlt, aber niemals hatte einer davon ein schlichtherzliches Wort gefunden, nie hatte sie die Ahnung bekommen, daß da ein tieferes Empfinden für sie vorhanden sein könne. Es wurde ihr nur immer ihre Schönheit ins Gesicht gelobt. Sie und ihre um zwei Jahre ältere Schwester Julie waren die schönen Rottenaus, die Schaustücke in allen Gesellschaften und auf offener Straße. Julie hatte Freude daran. Ihr war es von Jahr zu Jahr widerlicher geworden, geradezu schamverletzend.
Die Art der Eltern war dazu angetan, diese Empfindung noch zu steigern. Die Mutter sprach immer nur von Heiratshoffnungen und wies dabei bald auf diesen, bald auf jenen Herrn hin, dessen Aufmerksamkeiten man entgegenkommen solle. Sie war dann gegen solche Herren selber von einer peinlichen Zuvorkommenheit. Sie kokettierte für ihre Töchter.
Wieder eine andere, nicht minder bedrückende Art hatte der Vater. In einer Mischung des jovialen, lebenslustigen süddeutschen Kavaliers und des zwanglosen Künstlers, die er in der Gesellschaft berechnend ausspielte, wußte er überall bald durch demonstrative Zärtlichkeiten, bald durch Witzeleien die beiden Mädchen in den Vordergrund zu drängen. Er gefiel sich selber als der Vater seiner schönen Töchter, die er als Kunstwerke seiner Schöpfung betrachtet wissen wollte. Er tat auch so, als ob die Wahl ihrer Namen schon auf wohlbedachter Voraussicht beruht hätte.
Beide Mädchen sahen sich außerordentlich ähnlich in den hohen Gestalten, den fein gemeißelten Zügen und den dunklen Haaren und Augen, bei milchweißem, rosig behauchtem Fleischton. Julie war aber voller, mit keckem Feuer in den Augen, und selbstbewußter in ihrer ganzen Haltung, Agathe weicher, zurückhaltender, Julie die Tochter des Künstlers, Agathe die des Aristokraten.
Julie machte denn auch im Laufe der Zeit ihre Reize im Sinne der Eltern mit mehr Berechnung geltend. Die meisten Leute hielten sie für die Klügere, während Agathe beliebter war.
Agathe zog aber nur andere Folgerungen aus der Beobachtung der häuslichen Verhältnisse, ohne sich selber darüber Rechenschaft zu geben, welche Einwirkungen auf die Kinderseele es gewesen sein mochten, die ihrem Denken und Fühlen eine andere Richtung gaben als dem der Schwester.
Herr von Rottenau hatte als junger Leutnant den Militärdienst verlassen, um, dem Drange einer gewissen Begabung folgend, sich an der Münchener Akademie der Kunst zu widmen. Gewisse persönliche Beziehungen hatten ihn dann veranlaßt, sich in der Hauptstadt einer Provinz niederzulassen, wo auf zahlreichen Gütern ein wohlhabender, zum Teil sehr reicher Adel lebte, der zum großen Teil den Winter in der Stadt verbrachte, in der die Reichsten eigene palastartige Häuser besaßen.
Dem adligen Maler gelang es durch seine gesellschaftlichen Talente, sich einen Kreis von Freunden und Gönnern zu schaffen, die sich, ihre Frauen, ihre Kinder, Pferde und Hunde malen ließen. Aber Herr von Rottenau war, obgleich er sich eine pikante Mischung der Tagesmode mit Haar- und Barttracht des Rubens zurechtmachte, kein Meister, dem man ein Bild mit einem kleinen Vermögen bezahlte. So viel Kunstverständnis hatten auch die Landjunker. Vielmehr hatten alle Aufträge mehr oder minder den Beigeschmack, daß man dem gänzlich vermögenslosen Standesgenossen etwas zugute kommen lassen wolle. Er selber war auch nach dieser Richtung gar nicht übermäßig zartfühlend und genierte sich nicht um einen Auftrag ziemlich deutlich zu betteln. Mit dieser künstlerischen Tätigkeit wußte er ein sehr angenehmes Leben auf den Gütern zu verbinden. Ein kleiner Porträtauftrag wurde ihm Anlaß, sich auf einige Wochen irgendwo einzunisten. Frau von Rottenau wiederum, die herzleidend zu sein behauptete, wußte immer jemanden zu finden, der sie in ein passendes Bad oder zu einer Erholungsreise mitnahm. Die Töchter zogen den ganzen Sommer hindurch als »Freundinnen« der verschiedenen Schloßfräulein von einem Gute zum andern. Trotz alledem war man während des Winters in ständigen Geldverlegenheiten und um gesellige Gelegenheiten froh, bei denen man sich einigermaßen sattessen konnte.
Wenn gar keine Aufträge sich einstellen wollten und die Geschäftsleute, denen man schuldig war, allzusehr drängten, mußten die beiden Mädel immer dazu herhalten, in allerlei Drapierungen zu Studienköpfen Modell zu sitzen, die an einen Münchener' Kunsthändler um Spottpreise abgeliefert wurden. Agathe schämte sich dieses ganzen Treibens in tiefster Seele, und während Julie in den vornehmen Kreisen, in denen sie verkehrten, mit dreister Selbstverständlichkeit die Schönste von allen spielte, hatte sie immer das niederdrückende Gefühl, bei einem unwürdigen Gaukelspiel mitzuwirken. Aus diesen oder jenen Mienen glaubte sie zu erkennen, daß dies wohl durchschaut werde und daß man nur lächelnd darüber hinwegsehe. Wie eine Erlösung war es daher über sie gekommen, daß sich das Verhältnis zu Onkel und Tante Sporn so schön gestaltet hatte. Keinen Augenblick wurde es ihr langweilig in dem Idyll der beiden alten Leute. Sie hätte ganz gern auch noch auf die kleinen Geselligkeiten verzichtet, die die beiden Alten vielfach nur ihrethalben aufsuchten. Da war alles so rein, in seiner schlichten Gemütlichkeit so echt, in jedem Wort, jeder Gebärde so vornehm, und die Art milder, lächelnder Fröhlichkeit, mit der die beiden sich über ihre Schönheit freuten, war viel erquickender als die mehr oder minder dreisten Redensarten der Kavaliere. Jetzt kam sie erst recht dazu, selber dieser Schönheit ohne störende Nebengedanken froh werden zu können. Da kam dann Graf Hove, und er mit seiner zurückhaltenden Ritterlichkeit fügte sich harmonisch in das Bild.