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Zwölftes Kapitel

Max von Hottenbach war zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt worden, die Teilnehmer am Zweikampf teils zu drei Monaten, teils zu sechs Wochen. Sämtlichen Verurteilten war die Festung Oberhaus über Passau als Ort des Strafvollzugs angewiesen worden. Hottenbachs Mutter siedelte nach Passau über.

»Zwei Jahre Festung! Und das nennt sich Gerechtigkeit!« rief Aga bitter aus, als sie davon hörte. »In zwei Jahren kommt er also wieder nach München zurück, ist vielleicht gar ein interessanter Mann geworden, und niemand spricht mehr von dem anderen Mann, der im Park von Reitershausen liegt.«

Dann strich sie sich mit den Fingerspitzen mehrmals über die Stirn.

Zur Übertragung der Asche des Verstorbenen in das vollendete Mausoleum fuhr sie wieder nach Garnheim und Reitershausen, nachdem ihr der Vetter die vollste Genugtuung für die ihr widerfahrene Unbill in Aussicht gestellt und damit einen harten Widerstreit ihrer Gefühle beseitigt hatte. In der Tat traten nicht nur die Bediensteten des Schlosses, sondern auch der Ortsvorsteher an sie heran, ihre Verzeihung dafür zu erbitten, daß sie sich hätten irreführen lassen. Der Hauptschuldige, der sich nicht unter den Reuigen befand, weil er schon entlassen war, war der Kutscher gewesen. Dieser, sonst ein treuer Diener, hatte die Gewohnheit, sich seine vielen Mußestunden damit zu vertreiben, daß er in allen möglichen Literaturerzeugnissen, die er bei einem Garnheimer Winkel-Antiquar erstand, schmökerte. Da hatte er denn auch diese und jene Duellgeschichte gelesen, und nun spielte er im Wirtshaus und in der Schloßküche den kundigen Mann, wie er es auch auf anderen Gebieten zu tun pflegte. Trotz allen Einreden behauptete er bestimmt, bei solchen Zweikämpfen um Leben und Tod handle es sich immer um die Untreue der Frau. Aga nahm die Entschuldigungen der Leute sehr kühl entgegen, der weinenden Gärtnerfrau sagte sie nur:

»Von Ihnen hat es mir besonders weh getan, Frau Jobst.«

»Ich hab' aber auch gut bayrisch mit der Rasselbande gesprochen,« erklärte später der Graf. »Dem Kutscher vor allem wird die Bücherweisheit für lange Zeit vergangen sein. Freilich beruht auch in anderen Kreisen mancher Klatsch nur auf solcher Kutscherbildung.«

Der Graf und die Gräfin, das Ehepaar Sporn und Major von Falk wohnten dem Akte bei, da Aga die die Asche des Gatten bergende Metallkapsel in die Urne aus schwarzgrünem Stein mit goldener Inschrift und goldenen Henkeln versenkte. Das Mausoleum war ein Rundbau aus Muschelkalk mit schwarzen Halbsäulchen, schwarzer Eisentür und zwei Bogenfenstern, die durch hellfarbige Glasmalerei dem Innenraum reichliches Licht zuführten. Die Wände waren stilvoll in violett und hellila mit goldenen Bändern um grünes Blattwerk und dem umlaufenden Kreuzmotiv bemalt. An der Hinterwand leuchtete buntfarbig das Hovesche Wappen, in der Mitte des Raumes ragte über dem Mosaikboden eine kurze Säule empor, auf die das Aschengefäß gestellt wurde, vor dem Aga lange im Gebet kniete. Frühjahr war es, die Sonne schien, draußen zwitscherten die Vögel, Blumen dufteten und blühten in der Halle.

Im Juli kam Aga auf einige Wochen mit ihrem Töchterchen zu Sporns. Was inzwischen in Garnheim geschehen war, sagte man ihr nicht. Das hatte sich gleich nach ihrer letzten, schmerzlichen Anwesenheit ereignet. Im Schwan wurde von dem »neuen« Grafen Hove gesprochen, der sich eben den Garnheimer Behörden vorgestellt hatte. Das führte dazu, daß man wieder auf den Verstorbenen zu reden kam, und schließlich erwähnte jemand auch das kürzliche Erscheinen der Gräfin. So flüchtig sei es gewesen, daß man erst davon erfahren habe, als sie schon wieder abgereist gewesen sei.

»Stimmt!« sagte Herr Wegener. »Sehr eilig hat es die Frau Gräfin gehabt.«

Niemand sprach.

Herr Wegener aber fügte nach einer kleinen Weile hinzu:

»Ist eben doch eine fatale Situation, in der die steckt.«

Major von Falk drehte sich auf seinem Platz in der Nähe um und rief zu Wegener hinüber:

»Sie haben eine merkwürdige Ausdrucksweise zur Bezeichnung eines so traurigen Falles, Herr Zolldirektor.«

»Sollte das eine Zurechtweisung bedeuten, so möchte ich mir eine solche höflichst verbeten haben,« erwiderte Herr Wegener daraus gallig.

Da stand der Major auf und stellte sich unmittelbar vor den Zolldirektor hin:

»Ich möchte dann um eine ganz präzise Erklärung darüber bitten, was Sie hier unter einer fatalen Situation verstehen,« sagte er mit schneidender militärischer Schärfe.

»Ich lasse mich von Ihnen nicht zur Rede stellen,« keifte Wegener. »Habe ja gar nicht mit Ihnen gesprochen.«

»Ich verlange eine Erklärung!« versetzte der Major drohend.

»Meine Herren,« wendete sich Wegener an seine Tischgenossen, »was sagen Sie dazu? Stehen wir hier unter Aufsicht des Herrn Majors?«

»Beruhigen Sie sich, Herr Major,« meinte jetzt einer der Herren schüchtern. »Der Herr Zolldirektor hat es gewiß nicht schlimm gemeint.«

»Das soll er mir eben erklären,« gab Herr von Falk zur Antwort. »Von ihm will ich's hören.«

Die anderen Gäste waren teilweise von ihren Sitzen aufgestanden, und in höchster Erregung sah man der Szene zu.

»Eine Frau, deren Mann im Duell gefallen ist, befindet sich immer in einer fatalen Situation. Damit ist gar nichts Böses gegen die Frau gesagt,« stammelte wutbebend Herr Wegener.

Verächtlich lächelnd sagte jetzt der Major:

»'s ist gut!« Mit scharfer Betonung fuhr er fort:

»Immerhin möchte ich jedermann dringend raten, wenn er über die Frau Gräfin Hove spricht, vorsichtig in seinen Redewendungen zu sein. Es könnte ihm sonst begegnen, in eine fatale Situation zu geraten.«

Mit heller Stimme rief der Zolldirektor: »Zahlen!« und als die rasch herbeispringende Kellnerin seine Münze entgegengenommen hatte, sagte er, in den Überzieher schlüpfend:

»Mich hat man hier gesehen. Für Exerzierplatzsprache bin ich zu alt.«

Damit ging er. Andere Gäste tuschelten untereinander über das Vorgefallene. In den nächsten Tagen stellte es sich heraus, daß verschiedene Stammgäste in dem Verhalten des Majors eine höchst ungemütliche Betonung militärischer Vorrechte sahen, die man sich grundsätzlich nicht gefallen lassen könne. Der Buchhändler Zipperlein und der Rentner Weißbrot wurden die Leiter einer Sezession, die in das andere Kaffeehaus, das sonst nur von besseren Handwerksmeistern und kleineren Geschäftsinhabern besucht war, übersiedelte. Dort stellte sich auch Herr Wegener ein, und er zog verschiedene Mitglieder des Beamtenkreises nach sich, denen die führende Rolle der Offiziere im Schwan schon lange nicht behagt hatte. Das übertrug sich auf die Abendkneipe, den Frühschoppen nach dem Sonntagsgottesdienst und drang auch in den Familienverkehr ein.

Die Honoratioren Garnheims waren von nun an in zwei Lager gespalten, und die Lage spitzte sich so zu, daß die jungen Offiziere in verschiedenen Häusern nicht mehr verkehrten. In diesen sprach man dann sehr unfreundlich über die Gräfin Hove, freilich mit großer Vorsicht.

Das Ehepaar Rottenau hatte im selben Viertel eine neue Wohnung genommen, in der zwei Zimmer für Aga und deren Töchterchen vorgesorgt waren. Das wirkte freilich etwas eng für die ehemalige Schloßherrin von Reitershausen, aber Aga nahm es mit der Stumpfheit hin, die sie jetzt allen Dingen des äußeren Lebens entgegenbrachte. Den Eltern zahlte sie für sich und die kleine Hedwig einen festen Monatspreis. Wenn aber Mama Rottenau kam und unter diesem und jenem Vorwand eine kleine Summe zur Aushilfe verlangte, dann reichte sie ihr die Schlüssel zu Schreibtisch und Geldkassette und fragte später nicht mehr nach dem Verbleib dieser »für den Augenblick« geliehenen Beträge.

Ihre Seele war ja nur von zwei Gedanken beherrscht. Am Morgen und des Nachmittags lag sie in der Kirche auf den Knien und flehte mit heißer Angst um des Gatten Erlösung von der Verdammnis. Das mußte dem lieben Gott abgerungen werden, erst durch sie, dann später durch die zur Nonne gewordene Tochter. Der zweite Gedanke galt – Hottenbach. Zweimal hatte sie in der Beichte zwei verschiedenen Priestern davon gesprochen, wie der Haß gegen den Mörder ihres Gatten in ihr wühle und brenne, und jeder der Priester hatte ihr gesagt, sie dürfe nicht hassen und, wenn sie die böse Flamme in ihrem Herzen nicht ersticke, könne sie nicht von ihren Sünden losgesprochen werden. Das war aber ein unmögliches Begehren, das hätte ja ihre Liebe zu Paul vernichtet, denn das ließ sich nicht voneinander trennen; Paul zu lieben und jenen zu hassen, war nur die wechselnde Tonart der gleichen Liebe. Sie ging nicht mehr zur Beichte, lauschte vielmehr mit gierigem Ohr einem Worte, das aus weiter Ferne, aber deutlich wie schwerer, dunkler Glockenton zu ihr klang, dem Worte, das sie zum erstenmal von Major von Falk gehört hatte: »Vendetta.«

In zwei Jahren kommt er wieder!

Sie wußte damit weiter gar nichts anzufangen, es reihten sich keine Vorstellungen daran, aber es war ein düsteres Spiel, an dem sie Wohlgefallen hatte.

In Reitershausen saßen der Graf und die Gräfin ganz allein. Die Kinder, die die Schule besuchten, waren bis zu den Ferien in Regensburg unter Aufsicht einer energischen Dame aus der Verwandtschaft der Gräfin zurückgeblieben. Das gräfliche Paar hatte den Entschluß gefaßt, künftighin den Winter mit Rücksicht auf ihre Beziehungen weiter in Regensburg zu verbringen und nur in den Sommermonaten Reitershausen zu bewohnen. Die Gräfin war zwar auch adeliger Herkunft, aber aus ganz bescheidener Offiziersfamilie. Als eine gewisse Befangenheit der eigentümlichen Stellung Agas gegenüber verschwunden war, kam in ihr ein recht provinzstädtisches Hausmütterchen zum Vorschein, das mit allerlei Fragen und Klagen aus sich herausging, als Aga sich bereit zeigte, der Nachfolgerin durch Erklärungen und Hinweise beratend an die Hand zu gehen. Es kostete sie das viel weniger Selbstüberwindung, als sie gedacht hätte. Reitershausen war wertlos für sie geworden. Öde mutete es sie an, und um keinen Preis hätte sie da noch wohnen mögen. Paul war weg, unwiederbringlich weg, und so stand das Ganze vor ihr wie ein leerer Raum, wie ein gemaltes Erinnerungsblatt bestenfalls, das leblos vor ihr lag. Noch dazu hatten die neuen Besitzer viele räumliche Änderungen vorgenommen, so daß alle Gegenstände eine andere Anordnung bekommen hatten. Machte sich doch einmal eine wehmütige Erinnerung geltend, dann trat ihr gleich die bittere Zurückweisung entgegen: »Das war und kommt nicht wieder.«

Im Mausoleum, wo man ihr einen Sessel und einen Knieschemel bereitet hatte, drängten sich keine dumpfen Erinnerungen zwecklos auf; da ließ sich in der feierlichen Farbigkeit vor dem Aschengefäß träumen, da gab es sogar süße, kühle Schauer, als küßte ein liebes Gespenst die Lippen. Das, das allein war ihr geblieben vom ganzen Reitershausen.

Die schlichte Herzlichkeit des Grafen Hove war ihr sehr angenehm. Das reizte so wenig wie die Art der Gräfin zu Vergleichen oder zu schmerzlichem Widerspruch. Es waren gute Leute, und alles, alles war anders geworden. Sie gehörte nicht mehr hierher. An den Menschen, die ihr in den Weg kamen, ging sie, kaum den Kopf neigend, vorbei, ein dunkler Schatten.

Sehr verschieden davon war ihre Stimmung in Garnheim. Onkel Sporn machte freilich seine Witzchen und Scherzchen nicht mehr, er vermied aber auch die Miene des Mitleids und bezeigte ihr in aufmerksamen Formen eine ernste Güte, durch die sie sich verpflichtet fühlte, aus ihrer bitteren Verschlossenheit herauszugehen und dem alten Herrn seine Liebenswürdigkeit durch freundliche Wärme zu danken. Die Tante rührte ebensowenig an die noch blutende Wunde und wußte schon in ihre Blicke, in ihren gelegentlichen Händedruck so viel Liebe zu legen, daß es geradeso war, als breite ein gütiger Geist schützende Flügel über sie aus.

Dabei war den alten Leuten noch ein Opfer zugemutet durch die Anwesenheit des Kindes, das bald aus irgendeinem Grunde laut heulte, bald Dinge antastete, die es unberührt lassen sollte, und durch allerlei Kleinigkeiten sich an einem Ort lästig machte, wo man den Umgang mit Kindern nie gewohnt gewesen war. Nicht bloß die Tante, die sich der Kleinen liebevoll annahm, sondern auch der empfindliche Onkel, der mit einem solchen unfertigen Wesen gar nichts anzufangen wußte, übten da Geduld und bezwangen gelegentlich eine ärgerliche Miene. Was demgegenüber für Aga in den ersten Tagen eine Verpflichtung war, die sie ein gewisses Maß von Selbstüberwindung kostete, wurde bald ihr selber wohltuende Gewöhnung. Zu Hause gab es eben einen solchen Ton, außer etwa bei Richard, nicht, die konnten mit einer leidenden Seele nicht umgehen. Diese guten Menschen aber gossen unmerklich Balsam auf die Wunden des Herzens und brachten etwas im Gemüte zum Blühen, das fast wie innerer Friede aussah. Andere gütige Menschen halfen noch mit. Major von Falks Schwester, ein alterndes Fräulein von gelassen freundlichem Wesen, nahm sich Hedwigs an und brachte sie mit dem kleinen Jungen des Majors zusammen, durch eigene Aufsicht die Mutter entlastend. Sie war dieser auch durch Gänge in der Stadt gefällig, die Aga gern mied, und half der Baronin Sporn mit Geschick Gespräche in Gang bringen, die sie anzuregen vermochten. Endlich kam noch der Major selbst dazu, der gegen Abend gern zu einem Plauderstündchen in der Mauergasse erschien. Auch dessen Art des vornehmen und klugen Mannes, der in schlichter Form manches zu sagen wußte, was Agas Aufmerksamkeit erweckte, trug dazu bei, solche Abende vertraulichen Beisammenseins zu einer Offenbarung schönen Menschentums zu gestalten. Von dem Zwiespalt, der draußen in der Stadt, durch sie veranlaßt, noch immer herrschte, erfuhr Aga nichts. Dieser hatte sich noch dadurch verschärft, daß Baron Sporn, als er von dem Vorfall im Schwan Kenntnis bekommen hatte, sehr bestimmt erklärte, er werde von Garnheim fortziehen, wenn diese Angelegenheit nicht so geordnet werde, daß jede weitere Verleumdung seiner Nichte künftighin unmöglich würde. Das brachte den Bürgermeister in Bewegung, der den Zolldirektor zu einer protokollarischen Abbitte zu zwingen wußte, von der die ganze Bürgerschaft alsbald Kenntnis bekam. Darauf erhoben sich Stimmen, die dem Bürgermeister Mißbrauch seiner Amtsstellung und Kriecherei vor dem Baron Sporn vorwarfen, und jetzt mischten sich weitere Kreise der Bürgerschaft in den Handel, ja er wurde zu einem Gegenstand der Gemeindepolitik insofern, als die gegen den Bürgermeister vorhandene Opposition ihn in dessen Sündenregister einreihte. Von der Gräfin Hove sprach man in der Tat nicht mehr, aber von der »Aristokratenclique«, die dem alten kranken Zolldirektor das Leben verbittere. Herr Wegener war in gewissen Kreisen der Bürgerschaft auf einmal populär geworden. Er machte dafür eifrig in Gemeindepolitik, ließ sich jeden Klatsch über Protektion, Unterdrückung oder Geschäftsverschleppung zutragen und hetzte gegen den Bürgermeister.

In Aga blühte wieder mehr und mehr die alte Liebe zu Garnheim und dem Haus an der Mauergasse auf. Das war der Ort, wo sie Frieden fand, dahin gehörte sie. Deutlich fühlte sie es. Aber wenn sie sich diesem Gedanken eine Weile hingegeben hatte, dann wachte sie auf einmal erschrocken auf. Sie durfte sich nicht einschläfern lassen von einem lockenden Traum. Der prächtige Major war es, der sie ahnungslos immer wieder weckte, er, der von der korsischen Vendetta gesprochen hatte. Später, später wollte sie in Garnheim bei den guten Leuten leben. Jetzt noch nicht, jetzt hatte sie noch in München zu tun. Was denn? Sie wußte es nach wie vor nicht. Aber unter Tränen riß sie sich nach vier Wochen von der lieben, heilbringenden Stätte los.

Onkel Sporn war noch viel betrübter über ihren Weggang als die Tante. Er war ja seit dem großen Unglück bescheiden geworden und hatte nie versucht, Aga mit Sprüchen der Lebensweisheit zu trösten. Um so mehr hatte ihn die Wahrnehmung innerlich erfreut, daß die mittelbare Einwirkung liebevoll zartfühlender Behandlung so günstig auf sie gewirkt hatte. Da hätte es wohl mit der Zeit gelingen können, die Lebenskraft der Jugend zu neuem Aufleben zu bringen. Er begann sich alt zu fühlen und es dünkte ihn, sein bisheriges Dasein sei doch ein recht selbstsüchtiges gewesen ohne jeden tieferen sittlichen Wert. Wenn er Aga zu seiner Erbin machte, dann war das auch noch keine moralische Tat. Wenn es aber gelungen wäre, ihre gebeugte Seele aufzurichten und sie in eine neue Phase ihres Lebens hinüberzuleiten, in der sich wieder die Anmut ihres Wesens frei entfalten konnte, dann wäre ein gutes Werk getan gewesen, dessen er sich als eines spät gewonnenen Lebenswertes noch hätte freuen können. Daß er darum gekommen war, betrübte ihn.

Dazu wirkte die Spaltung in der Gesellschaft höchst verstimmend auf den alten Herrn. Er war es gewohnt, der allgemein geschätzte Mitbürger zu sein, den jedermann nur mit höchstem Respekt durch die Straßen der Stadt Garnheim schreiten sah. Jetzt auf einmal hatte er es mit Gegnern, mit Feinden zu tun. Das übertrieb er noch in seiner Vorstellung.

Da kam wieder einmal der Tag des Reitershausener Schützenfestes. Sporns hatten es seit Agas Verlobung mit Hove alljährlich mitgemacht. Diesmal fehlten sie natürlich. Major von Falk war auch nicht hinausgefahren, der Trauer um die Gattin wegen. Nun hatten ihn die jungen Offiziere seines Bataillons gefragt, ob angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse ein Besuch des Festes für sie zulässig erscheine. Der Major hatte ihnen den Bescheid gegeben, er halte ihre Anwesenheit für wünschenswert, da es sich hier um eine hergebrachte Sitte handle, die leider vorhandenen gesellschaftlichen Unstimmigkeiten aber nicht dazu führen dürften, daß das Offizierkorps bei solchem Anlaß den Schein einer Demonstration biete. Als Baron Sporn von dieser Entscheidung des Majors hörte, wurde er sehr böse und deutete ihm beim nächsten Zusammentreffen im Kaffeehaus an, daß er darin etwas wie einen Verstoß gegen die Freundschaft sehe. Herr von Falk wies diesen Vorwurf mit bestimmter Würde zurück und erklärte, daß seine dienstlichen Handlungen eine Sache für sich seien, bei der er keine Einmischung Fernstehender zulassen könne. Darüber war der alte Baron nun erst recht böse, und bitter beklagte er sich bei der Gattin, daß er nun auch nicht mehr in den Schwan gehen könne und ganz verlassen sei. Die Baronin brachte unter Beihilfe des Fräuleins von Falk die Angelegenheit wieder in Ordnung. Daß in Reitershausen sich eine Versöhnung der beiden Parteien angebahnt hatte, erfuhr er erst nach der Aussöhnung mit dem Major. Er beugte sich dem Zwange der Tatsachen. Seine Zeit war eben um und man ging über ihn hinweg.


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