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Stresemann als Erzieher

Wenn die Gerüchte wahr sind, daß Gustav Stresemann, von ernsthaften Rücksichten auf seine Gesundheit bewogen, in absehbarer Zeit den politischen Tummelplatz zu verlassen beabsichtigt, so kann die große Rede, die er vor ein paar Tagen im »Esplanade« den Würdenträgern seiner Partei gehalten, als ein wahrhaft ideales politisches Testament gelten. Auf den geweihten Teppichen des feudalen Stinnes-Quartiers, wo sich im Oktober 1923 die Diktaturkandidaten zum Kaffee trafen, hat er eine wahrhaft glänzende Interpretation der parlamentarischen Demokratie und ihrer vernünftigen Handhabung gegeben. Wie er das Abc der Demokratie auseinandersetzte, die Drohungen der reaktionären Gewalten charakterisierte, ohne dabei in billige Panikmacherei zu verfallen, wie er im Vorübergehen mit einem kleinen ironischen Gruß den größenwahnsinnigen Herrn Adenauer tödlich lächerlich machte, das war oft mehr als nur begabt, mehr als talentierte Improvisation, das war wahrhaft weise. Was aber, fragst du, hat die meisterhafte Pädagogik nun genützt? Was ist geschehen, was hat sich geändert –? Die einzige sichtbare Folge, abgesehen von der Versicherung republikanischer Blätter, daß Herr Stresemann ein großer Staatsmann sei, ist eine verwaschene und wortreiche Deklaration, die um keinen Deut besser ist als die Verlautbarungen der andern an der Krise beteiligten Parteien. Während der eifervolle Sittenprediger aber den Politikastern die Köpfe wusch, ihre Kleinheit geißelte, ihnen bewegt zuredete, doch das Vaterland nicht ihren läppischen Fraktionsehrgeizen zu opfern, siehe, da schuf er auch schon ein neues, viel ernsteres Hindernis als die von ihm Abgekanzelten, indem er als Voraussetzung für den Eintritt seiner Partei in die Regierung von der Sozialdemokratie die Zustimmung zu einer neuen Finanzpolitik verlangte, die de facto auf die Kosten der arbeitenden Massen gehen muß und von der Partei nicht geschluckt werden kann, wenn sie nicht den letzten Kredit verlieren will. Herr Stresemann ruiniert also, was er angeblich fördern will. Er baut Hindernisse, während er mit der Miene des Schwerarbeiters angeblich welche niederreißt. Deshalb jedoch ist das, was er in seiner Rede gesagt, weder unrichtig noch unwahr. Aber die Wahrheit selbst ist nur ein Mittel, um eine alte Täuschung durch eine neue zu ersetzen. Darum muß man unsrer Demokratie eine so schlechte Prognose stellen: ihren besten Köpfen selbst ist die Wahrheit nur ein Instrument, das man beliebig anwenden und dann wieder ruhig in die Kiste legen kann. Man schöpft aus tiefstem Herzensgrund, man schreckt selbst vor mutigen Offenheiten nicht zurück, verabfolgt die bittere Medizin der Aufrichtigkeit, nur um ein schiefes Parteigeschäft zu decken. Bald muß das Register erschöpft sein. Aber vielleicht wird das Spiel schon vorher zu Ende sein.

 

Die Weltbühne, 3. März 1929

 


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