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Der Revolutionär ringt mit seinem Popanz

Deutschland hat bis zum Jahre 1848 nur eine einzige alle Volksschichten erfassende Revolution gehabt: den Großen Bauernkrieg. Und diese Bewegung wird in einem gründlich theologischen Zeitalter so stark von messianischen Hoffnungen durchsetzt, daß für den rückschauenden Betrachter das Religiöse das Soziale verschleiert. Keinen Bastillensturm kennt die deutsche Geschichte; kein Cromwell, kein Mirabeau steht im deutschen Pantheon. Nur so ist es denkbar, daß man in ratloser Verblüffung die neuen Typen bestaunt, die in den letzten zwei Jahren zur Erscheinung gekommen sind.

Handlung ist das Wesen der Revolution. Spontane Handlung, die unmittelbar zum Ziele führt, im Guten wie im Verhängnisvollen; aber immer herausgewachsen aus der Situation. Es ist kein Wunder, daß der Deutsche, gewöhnt an die zähe Materie des Obrigkeitsstaates mit seinem Mangel an Öffentlichkeit, die wilde Bewegung, die scheinbar ganz unversehens die Massen ergriffen hat, etwa mit ähnlichen Gefühlen betrachtet wie der biedere Prior von Parma die Malereien des Correggio, die er in ihrem krausen Durcheinander von Köpfen, Gliedern und Leibern sehr geistvoll mit einem Froschragout verglich. Und doch sind für den, dessen Denkorgane wirklich von dieser lebenden Zeit gespeist werden, die neuen Typen nichts so durchaus Erstaunliches; – er hat sie werden und wachsen sehen! Denn das revolutionäre Deutschland war da, schon lange vor dem Kriege, der nur den Impetus für den gewaltsamen Umsturz hergeben mußte. Alles, was seit Jahren gearbeitet wurde für eine bessere Fundamentierung der Gesellschaft – einerlei, ob es von politischen Parteien ausging oder von Vereinigungen mit rein kulturellen Zielen –, alles, was geschah, mußte sich gegen die Grundidee dieser Gesellschaft richten und mußte von ihr und ihren Sachwaltern mit feindlichen Blicken betrachtet werden. Aber diese Arbeit, der doch im einzelnen so unterschiedliche Motive zugrunde lagen, hat eine ganz veränderte Atmosphäre geschaffen, in der Menschen sich bildeten, den andern im Äußerlichen gleich, aber in ihrer Geistesverfassung so grundverschieden wie das Werdende und das Absterbende, wie alte und neue Zeit.

Und dann kam der Augenblick, wo alle Ideen und Energien zusammenströmen und Aktion werden mußten. Ist es ein Wunder, daß sich da kein einheitliches Bild ergeben wollte, daß zunächst Chaos eintreten mußte? Wir erleben eine weltgeschichtliche Wende – matte Hirne, schwache Herzen mögen es verwünschen, Genossen dieser Epoche sein zu müssen –, aber wer nur ein wenig Gefühl und Augenmaß hat für das gewaltige heroische Schauspiel, das die sich immer wieder verjüngende und erneuernde Kraft der Menschheit darbietet, der wird nicht murrend und maulend abseits stehen können. Der wird sich auf den Boden des Tatsächlichen stellen, und das ist: daß eine Welt zusammengebrochen ist und neu errichtet werden muß. Zusammengebrochen ist nicht nur ein Staat, der sich unbesiegbar wähnte, zusammengebrochen ist nicht nur eine Wirtschaftsordnung, die von ihren Nutznießern für bombensicher gehalten wurde, zusammengebrochen ist vor allem der bürgerlich-kapitalistische Geist, der seit hundert Jahren die Köpfe beherrschte und auch große Teile der sozialistischen Arbeiterschaft weit mehr im Banne hatte, als sie es gern wahrhaben möchte. Nun aber gilt es, den neuen Geist zu schaffen, den Geist, der vielleicht für lange, lange Zeit der herrschende sein wird. Solch eine Verantwortung ruht auf uns Lebenden.

Und doch gibt es genug Menschen, die nichts Besseres zu tun haben, als sinkende Konjunkturen zu bejammern oder zu beklagen, daß sich die Revolution nicht abwickle wie eine Parade. Das »sanftlebende Fleisch zu Wittenberg« – das böse Hohnwort, das Thomas Münzer dem eifrigst bremsenden Luther an den schwarzen Talar heftete – ist wieder auferstanden und zum Symbol vieler, sehr vieler geworden. Es muß ausgesprochen werden gegenüber den allzu Besorgten, den Behutsamen, den wohlmeinend Gemütvollen, daß uns nichts mehr an die Tradition bindet, daß es zwecklos ist, Halbheiten durchzumogeln, daß endlich jene geistige Erneuerung durchgeführt werden muß, die der deutsche Michel jahrhundertelang versäumt hat. In der Gegenwart leben und ihren Problemen fest in die Augen sehen, das ist die einzige Tugend, die einzige revolutionäre Tugend, die wir brauchen können. Kein Kompromisseln; wir sehen ja mit Schaudern, wohin uns die Realpolitiker, die immer nur das kleine »Mögliche« im Auge hatten und die große Gesinnungslumperei im hohlen Schädel, mit ihrer ach so wunderbar praktischen Politik geführt haben. Nein, lieber dem irrenden Faust auf dem Blocksberge gleich, umbraust vom höllischen Chaos des Hexensabbats, taumelnd zwischen Reue und Verlangen; lieber dem irrenden Ritter gleich, zwischen Tod und Teufel allein in grauser Wildnis, als paktieren mit jener netten spießerlichen Adrettheit der Gedanken und Gefühle, jener pomadigen Korrektheit, jener platten und matten Zielbewußtheit, die immer nur das Nächste sieht, aber niemals das Wesen erfaßt. So sei der Mensch dieser Zeit, der Mensch, der das Haus baut, in dem die nächsten Generationen wohnen sollen.

Nur hat dieser Mensch bereits eine Überspannung erfahren; dem Revolutionär folgt als Affe der Revolutionshysteriker auf dem Fuße. Wir kennen ihn. Immer verrannt in leere Formeln, niemals Tiefe, immer Oberfläche, immer berauscht an Worten. Sein Revier ist die Straße; er braucht Öffentlichkeit, Publikum; er schwimmt in Sensationen; er muß sich in Szene setzen. Er harangiert vom Laternenpfahl aus ein paar Passanten, die eilig vorüberstreben, denn sie haben an anderes zu denken, und er ist sich doch bewußt, in diesem Augenblick Weltgeschichte gemacht zu haben; denn er rechnet nur mit Ewigkeitsmaßen. Dabei ist er oft genug ein ehrlicher Kerl, den es entsetzen würde, könnte er sehen, was für Instinkte er erweckt.

Wir brauchen Diener am Geiste, nicht am Worte. Wir brauchen Menschen, die sich autonom fühlen und sich doch bewußt sind, Glieder einer großen Kette zu sein. Der Revolutionär ringt mit seinem Popanz.

Und neben diesem großen Kessel, in dem es brodelt und nach Form ringt, da wandelt noch immer einer, den man nicht übersehen darf, so nichtig er ist – Herr Durchschnittsmensch. Er geht mit süßsaurem Lächeln einher und wundert sich im Grunde seines Herzens, daß er noch nicht umgebracht ist; aber er läßt es sich nicht merken. Das Ganze ist für ihn ein bedauerliches Intermezzo, das hoffentlich bald zu Ende sein wird, denn stille Ahnung sagt ihm, daß er der wahre Sieger ist. Denn sein Typ ist in der Tat unsterblich. Er hat alle Erschütterungen der Weltgeschichte überlebt, ist immer Gaffender gewesen, niemals Erlebender, immer Zeuge, niemals Blutzeuge. Er hat während des Bastillensturmes im Keller gehockt und kam erst hervor, als er sah, daß es ihm nicht an den Kragen ging. Er hat nacheinander König, Königin, Girondisten und Jakobiner zum Guillotinenplatz geleitet, öffentlich die Carmagnole gesungen und heimlich Getreide geschoben. Er hat sich bei Marats Tode im stillen Kämmerlein ins Fäustchen gelacht und hat Bonapartes Staatsstreich auf offenem Markte zugejubelt. Mit guter Gesundheit und gefüllten Taschen ist er übers Directoire ins Empire gekommen. Ob er noch lebt? Geht nur ins Wirtshaus, ihr werdet ihn die grause Zeit verfluchen und das Ewiggestrige preisen hören. Oder seht ihn in der Trambahn, wie er, mit der Miene des Mannes, der die Welt nicht mehr versteht, die Zeitung in die Tasche schiebt. Ob er auch diesmal der Lachende bleibt? Das hängt davon ab, wer die Oberhand behält: der Revolutionär oder der Revolutionshysteriker. Der Typus, der am schärfsten den Sinn der Revolution erfaßt und neue Ordnung gestaltet, oder derjenige, der die Bewegung durch Phantastereien diskreditiert und schließlich in der Gosse enden läßt. Heut ist Herr Durchschnittsmensch dem Revolutionshysteriker bitter gram; er sieht in ihm den bösen Feind. Wäre er nicht gar zu dumm – er würde in ihm den besten Helfer begrüßen.

 

Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik,
München 1920
Herausgeber: Kurt Hiller

 


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