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Die Heimkehr der Armee

 

Zum Waffenstillstandstage

Wenn die Behauptung auf Wahrheit beruht, daß unsere Armee durch einen von der Heimat erdachten und exekutierten Judasstreich ihrer Waffe beraubt wurde, so läßt sich das mit einer einzigen Tatsache widerlegen: an der Art, wie der Rückzug durchgeführt wurde. Denn ein Millionenheer, dem der Verrat in den Rücken fällt, kann sich nicht geschlossen erhalten, sondern muß der Auflösung in kleine und kleinste, auf eigene Faust handelnde Gruppen verfallen. Deshalb ist von hoher Bedeutung die Frage, in welcher Weise sich der Rückzug vollzog. Niemand, der daran teilgenommen oder auch nur in den deutschen Grenzstädten den Durchmarsch der Truppen erlebt hat, wird die Behauptung wagen dürfen, daß so eine dissolute, durch politische Machinationen waffenlos und wurzellos gewordene Armee zurückkehren konnte. Wir haben heute zu diesen Ereignissen Abstand gewonnen, wir können ein abschließendes Urteil wagen: es muß ausgesprochen werden: der Rückzug aus dem Westen in langen, strapaziösen Eilmärschen und bei ungünstiger Witterung war eine der glänzendsten Taten des deutschen Heeres.

Schreiber dieser Zeilen, der 6. Armee zugehörig, war um den 5. November von Tournai über Rousse nach Brüssel gekommen. Hier herrschte vollkommene Deroute. Die Stadt war von Truppen überfüllt. Die Unterbringung war mehr als primitiv. Es wußte ja niemand, auf wie lange Quartier genommen werden sollte. Es wußte überhaupt kein Mensch, was die nächsten Tage bringen würden. Gerüchte kursierten über Putschabsichten der Belgier, besonders Aufgeregte machten sich auf ein Neuaufleben des Heckenkrieges von 1914 gefaßt. Die spärlich einlaufenden Nachrichten aus der Heimat über die beginnende politische Umwälzung ergaben ein nur verwirrendes Bild. Als endlich die Meldung von der Abdankung des Kaisers kam, schuf das eine vorübergehende Erleichterung. Man hatte das Gefühl, daß durch die Liquidation des alten Systems ein Bürgerkrieg vermieden worden sei, ebenso daß der Abschluß des Waffenstillstandes dadurch erleichtert werde.

Am Sonntag, dem 10. November, wurden in den Abendstunden die Waffenstillstandsbedingungen bekannt. Sie bewirkten Entsetzen und Zorn. Alte Frontsoldaten, die eben noch in den Soldatenheimen die Internationale angestimmt hatten, riefen mit geballter Faust, daß man diese Bedingungen nicht schlucken dürfe. Man sei zwar geschlagen, aber nicht wehrlos. Lieber noch einen Gang als das! Man wies darauf hin, daß die Räumungsfrist von vierzehn Tagen zu knapp bemessen wäre. Das Transportwesen läge danieder, die Lazarette seien voll von Kranken und Verwundeten. Die Magazine würden von Gesindel geplündert, ein Heer von Deserteuren sei bereit, sich mit wallonischen Insurgenten zu vereinigen. Es war ein Hexensabbat von Meinungen und Gerüchten. Bis in die späte Nacht wurde auf den Straßen disputiert und gestritten. Mit einem nachsichtigen Lächeln, dessen Höflichkeit nicht ganz die Schadenfreude übertünchen konnte, schlichen sich die Bürger an den Gruppen der Soldaten vorbei. Und draußen in den Arbeitervierteln wurden in blauer Bluse und auf Holzschuhen Freudentänze aufgeführt, deren Ekstase den bei jedem Deutschen entwickelten Sinn für Wohlerzogenheit verletzten, und dazu etwas Unverständliches gegrölt, was vielleicht die Brabançonne war, vielleicht auch die Carmagnole.

Der 10. November stellte allerdings den Höhepunkt der Spannung dar. Die Revolution war da, aber im großen ganzen herrschte doch der Eindruck vor, als wüßte man nicht recht, was man eigentlich damit anfangen sollte. Am nächsten Vormittag waren überall die Proklamationen des Soldatenrates zu lesen. Eine seltsame Beruhigung trat ein. Die wilden Projekte vom vergangenen Tage waren vergessen. Der Rückmarsch zu Fuß, der einer abgekämpften, zermürbten, unterernährten Masse von Menschen zugemutet wurde, war im Bewußtsein bereits zur Selbstverständlichkeit geworden. Die Aufrufe des Soldatenrates, die nach ihrem Inhalt etwa in Versprechungen und Warnungen zerfielen, hatten ein Gutes: man wußte wieder eine Führung in Aktion. Es entstand eine Sicherheit, die in den letzten Wochen abhanden gekommen war.

Es ist heute zur leidigen Gepflogenheit geworden, das Wort »Soldatenrat« niemals zu gebrauchen ohne das Prädikat »versoffen«. Gewiß, später in der Heimat habe ich auch so manchen Soldatenrat gesehen, der einen recht üblen Typ repräsentierte. Aber es ist eine unverzeihliche Ungerechtigkeit, damit die Soldatenräte des Feldheeres zu vermengen. Denn diese bildeten durchweg eine natürliche Auslese alles dessen, was nach vier Erntejahren des Sensenmannes noch an Intelligenz, Tatkraft und Vitalität vorhanden war. Das muß festgestellt werden zur Verteidigung der Ehre von Männern, denen es vornehmlich zu verdanken ist, daß das, was schließlich den Rhein überschritt, tatsächlich die Westarmee war und nicht ein kümmerlicher Torso.

Man wirft den Soldatenräten vielfach vor, sie hätten die Offiziere infamiert und den Rest von Disziplin beseitigt. Das ist wieder unberechtigt. Denn einmal waren unter den Soldatenräten sehr viele Frontoffiziere, meistens jüngere, unternehmungslustige Männer, die das Vertrauen ihrer Leute genossen, zum anderen aber waren bestimmte höhere Chargen, namentlich die Stäbe, tatsächlich überflüssig geworden. Sie sahen das ein und traten ab. Neigung zu einer Bartholomäusnacht bestand nirgends. Ich selbst habe nur am 9. und 10. November grundlose Insultierungen von Offizieren miterlebt. Die Auftritte waren gewöhnlich herbeigeführt von angetrunkenen Krakeelern, die der Anblick eines Portepees zum Sieden brachte. Sie wurden fast immer durch die Intervention Vernünftiger an Tätlichkeiten gehindert. Die aufgespeicherte Wut gegen die Offiziere – deren Berechtigung oder Nichtberechtigung zu erörtern nicht meine Aufgabe ist – machte sich mehr in Worten als in Taten Luft. Jedenfalls wäre an eine Organisierung des Rückzugs unter alten Kommandoverhältnissen nicht zu denken gewesen. Seit Monaten hatte sich die Autorität in einer für militärische Begriffe unerhörten Weise gelockert. Vielleicht hat die politische Umwälzung in der Heimat sogar ableitend und entspannend gewirkt. Vielleicht wäre sonst an der Front aus einer Kette kleiner Meutereien die Militärrevolution entstanden. Man kann ohne Übertreibung sagen: in der zweiten Novemberhälfte war die Mannszucht eine bessere als etwa im August oder September. Der Soldat, der dem Arbeiter- oder Kleinbürgertum angehörte, sah in dem Offizier nicht nur den Mann, der den Krieg unter besseren Vorbedingungen und mannigfachen Erleichterungen mitmachte, sondern vor allem den Führer schlechthin. Der sogenannte schlichte Mann aus dem Volke hatte ein außerordentlich geschärftes Empfinden für die Kapitulation der Zivilgewalt vor der militärischen; der Offizier war längst auch zum Symbol des politischen Führers geworden. In dem Augenblick, wo die Oberste Heeresleitung zugeben mußte, daß der Krieg verloren sei, war der Offizier nicht nur seines Nimbus ledig, sondern, präziser gesagt: beiseite geschoben. Das wurde in Offizierskreisen vollkommen richtig empfunden, und die meisten zogen die Konsequenzen. Viele, namentlich die älteren Herren, waren erbittert über die Fahnenflucht der Dynastie, fühlten sich vom Obersten Kriegsherrn verlassen und verraten und rissen sich demonstrativ die Achselstücke ab. Diejenigen aber, die sich wirklich mit ihren Mannschaften verbunden fühlten oder deren Begabung und Tatkraft ihnen ruhmloses Zurücktreten unmöglich machte, stellten sich zur Verfügung. Sei waren Führer auf Grund von Intelligenz und Kapabilität – auch ohne Patent und Privileg. Sie fanden sich mühelos mit denen ohne Charge. So entstand im Laufe von wenigen Tagen ein neues, volkstümliches Führertum, das sogleich Vertrauen genoß und ein hohes Maß von Autorität. Während des ganzen Rückzuges sind die von den verschiedenen Zentralen den einzelnen Formationen gegebenen Anordnungen aufs gewissenhafteste befolgt worden. Die Landstraßen waren natürlich oft von den endlosen Karawanen verstopft, dennoch entwickelten sich keine größeren Reibungen. Die Mißverständnisse und Irrtümer, die in den letzten Kriegsmonaten bei der Unterbringung der Truppen oft unglaubliche Konfusion geschafft hatten, hörten fast ganz auf. Durch das natürliche und entschlossene Zusammenarbeiten der Fähigen ohne Unterschied des Ranges war über Nacht eine ganz neue Form von Organisation entstanden, eine Organisation, die nicht auf Strafandrohungen fußte. Und sie fand Verständnis. Im ganzen Kriege hat außer der Mobilmachung nichts so gut geklappt wie der Rückzug.

Die Aufgabe der für die Rückführung verantwortlichen Körperschaften war eine ungeheuerliche. Die Lazarette waren überfüllt, die allgemeine gesundheitliche Verfassung eine sehr schlechte; die Grippe trat epidemisch auf. Von feindlicher Seite war alles getan worden, um den Rückzug zu erschweren. An vielen Stellen wurde bis zum Abschluß des Waffenstillstandes eine rigorose Kampftätigkeit unterhalten, in letzter Stunde noch wurden die Bahnhöfe von Knotenpunkten aufs ausgiebigste mit Bomben belegt. Dennoch waren nach Ablauf der Frist die in Betracht kommenden Gebiete restlos geräumt. Die Leistung auf deutscher Seite, von Führern und Geführten, war eine bewunderungswürdige. Man hört jetzt zuweilen den banalen Einwand: »Kein Wunder, es ging ja nach Hause!« Gewiß war die Aussicht, in wenigen Wochen in der Heimatstadt zu sein, ein gewaltiger Antrieb, aber das Phänomen eines geordneten Rückmarsches nach vier Jahren Krieg und Zusammenbruch aller Siegeshoffnungen ist mit einem flachen Scherz in keiner Weise erklärt. Entscheidend ist nicht, daß es zustande kam, sondern wie es zustande kam. Der Obrigkeitsstaat hätte das nicht mehr bewirken können. Hinzukommen mußte das Gefühl der Freiheit, die Vorstellung, es freiwillig zu tun.

Und so ging in strenger Gliederung dieser Gewaltmarsch vor sich, überschritten die langen Kolonnen die deutsche Grenze. Die phantastische Projektenmacherei der beiden kritischen Tage war längst vergessen. Es gab keinen Groll mehr um gewesene Dinge. Eine stille Kameradschaftlichkeit hielt das Gefüge zusammen. Politisiert wurde wenig; Parteiunterschiede traten kaum zutage. Gesinnungszensur wurde nicht ausgeübt. Wenn auf die sozialistische Republik gehocht wurde, was gelegentlich vorkam, so verschwanden vorher diejenigen, die damit nicht einverstanden waren; es handelte sich zumeist um junge Vizefeldwebel, deren Beförderung zu Wasser geworden war und die deswegen der Revolution grollten. Es nahm niemand an ihrer Ablehnung Anstoß. Auch die zum Teil sehr berechtigte Wut gegen gewisse Magazinbeamte machte sich nicht weiter Luft; übrigens waren sehr viele davon vom ersten Tage an wie vom Erdboden weggefegt. Ebenso wie gewisse Etappentyrannen, die unverfälschte altpreußische Schroffheit mit wahrhaft primadonnenhafter Launenhaftigkeit und Verwöhntheit in allem, was ihren Komfort anbetraf, in unerquicklichster Weise vereinten. Ein volkstümliches Strafgericht über solche Satrapennaturen wäre wohl verständlich gewesen. Außer der Angst widerfuhr den Herren nichts. Von Hindenburg wurde durchweg mit Hochachtung gesprochen. Man rechnete es ihm hoch an, daß er sich für das Volk entschieden hatte und nicht für den Kaiser; in Ludendorff dagegen erblickte man seinen bösen Geist. Aber auch Ludendorff war gleichgültig geworden. Zusammenstöße mit der einheimischen Bevölkerung kamen nicht vor; ebensowenig sind nennenswerte Diebstähle oder Plünderungen bekannt geworden. Geklagt wurde dagegen häufig über die Entwendung von Heeresgut. Festzustellen ist, daß es sich dabei durchweg um Bekleidungsstücke, Ledersachen oder Wolldecken handelte, um Lagerbestände, die wegen ihres Umfanges doch hätten zurückbleiben müssen. So zogen die deutschen Truppen in denkbar größter Selbstdisziplin aus Feindesland hinaus. Ich denke heute noch mit Vergnügen daran zurück, wie in Lüttich die ersten Exemplare des »Courier de la Meuse« eingetroffen waren, der seit Beginn der Invasion seinen Sitz nach dem holländischen Maastricht verlegt hatte. Da wurde unser Rückzug geschildert als die hemmungslose Flucht einer verwahrlosten Horde, die sengend und brennend durchs Land ziehe. Ein tiefgründiger Vergleich wurde angestellt mit Napoleons russischer Katastrophe und der ganzen Bande als gerechte Strafe für ihre Untaten irgendwo eine Beresina prophezeit. Die Lütticher lachten, und die Unsrigen, das spricht für sie, lachten ebenfalls.

Während aber die Vorhuten deutschen Boden betraten, phantasierten tief im Lande Angstbürger von der Überflutung durch die »rote Armee«, während Spartakusblätter ihre Leser mit Geschichten vom Anmarsch der »weißen Garden« regalierten; die regierende Sozialdemokratie wieder behandelte mit mehr breiter als großer Geste die Armee als ihre Hausangelegenheit. Drei Lesarten. Keine zutreffend.

Royalisten gab es damals außer in den hohen Chargen kaum, abgesehen von einigen Kleinstaatlern, die ihren Landesvätern nachtrauerten. Auch wer prinzipieller Monarchist war, machte kein Hehl daraus, daß die kläglich vom Schauplatz abgetretenen Hohenzollern verspielt hätten. Liebknechtanhänger waren dünn gesät. Karl Liebknecht wurde wegen seiner mutigen Opposition gegen den Krieg hoch geehrt; seine besonderen politischen Theoreme waren ziemlich unbekannt. Man hörte immer wieder mit rührender Naivität die Versicherung: »Wir sind keine Bolschewisten, wir wollen nicht alles kaputtschlagen!« Es war keine Parteiarmee, die zurückkam. Wenn sie mit roten Fahnen marschierte, so bedeutete das kein Parteischibboleth. Es bedeutete Opposition gegen die alten Farben, mit denen man ins Unglück gegangen war. Es bedeutete Abkehr von der Zeit, die das rote Banner als außergesetzlich erklärt hatte. Es bedeutete, nicht zum wenigsten, den Ausdruck der Hoffnung. An Verrat oder »Dolchstoß« dachte niemand. Die Kieler Matrosenrevolte wurde nicht als ausgeklügelte Konspiration betrachtet, sondern als ein Ding, das einmal kommen mußte, zwangsläufig kommen mußte.

Erst in den zur Sammlung bestimmten Räumen rechts des Rheins begann die wilde Auflösung. Auf deutschem Boden wuchs das Heimweh übermächtig; aus den verschiedensten Gegenden kamen Alarmnachrichten; zum Überfluß spukte noch das Gerücht, daß infolge Verkehrsschwierigkeiten der Abtransport sich um vier bis fünf Wochen verzögern würde. Da sprang jeder auf den ersten besten Eisenbahnzug, um nur fortzukommen. Es herrschte damals bei den Berliner Radikalen ein Zwiespalt, ob dieser Auflösungsprozeß zu befürworten sei oder ob man die einzelnen Kaders zusammenhalten und daraus eine revolutionäre Streitmacht bilden sollte. Wer die Entwicklung miterlebt hat, weiß, daß es ein Zank um Kaisers Bart war. Der Gedanke der Levée en masse, einerlei ob im »nationalen« oder »revolutionären« Sinne, kam um mindestens ein Jahr zu spät. Der äußerste Grad der Leistungsfähigkeit war längst überschritten. Der Rückzug stellte die letzte große Kraftanspannung dar. Frei von Kadavergehorsam und Drill und Schikane und allem, was das alte System so verhaßt gemacht hat, mit volkstümlichen Führern an der Spitze, in selbstauferlegter Mannszucht, so ging der letzte Marsch der alten Armee vor sich. Die Armee von Fehrbellin, von Leuthen, von Waterloo und Gravelotte, sie bewies in jenen traurigen, entbehrungsreichen Herbsttagen von 1918 ein letztes Mal, wozu sie aus eigenem fähig war. Sie war nicht mehr Instrument, sondern lebender Organismus. Es ist ein tragikomischer Aphorismus der Weltgeschichte, daß der Geist der Demokratie, den das preußische System stets wie ein tödliches Gift vom Heere ferngehalten hat, diese letzte große Tat erst möglich machte.

Wer die alte Armee jemals bewundert hat, der sollte sie nicht um ihrer Sterbestunde willen schmähen.

 

Die Republik, 8./9. November 1924

 


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