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Shaw und Wedekind

Frank Wedekind hat heute in Deutschland noch nicht die verdiente Anerkennung gefunden. Zwar ist er berühmt – aber man sieht in ihm eigentlich weniger den großen Dichter als vielmehr ein Kuriosum. Man bestaunt [ihn] wie ein Wundertier in der Menagerie. Und viele bekreuzigen sich vor ihm wie vor dem bösen Feind. Für die brave Mittelmäßigkeit gibt es auch literarische Teufel, und am liebsten würde man sich vor ihnen mit Weihwasser schützen wie vor dem leibhaftigen Beelzebub.

Ehe Wedekind populär wurde, kämpften nur wenige Literaten für ihn. Sie haben sich tapfer für ihn geschlagen und mit Philosophie den Vorwurf der Philister ertragen, ebenso verrückt zu sein wie er. Sie haben ihn allerdings gründlich mißverstanden, und manchmal werden ihm seine Freunde mehr Kummer bereitet haben als seine Feinde. Man hat ihn früher mit Bernard Shaw verglichen – und es so dargestellt, als wären die beiden zwei ähnlich geartete Brüder. Doch hat man sich hier von Äußerlichkeiten täuschen lassen. Nach Kunstform und Absichten sind beide grundverschieden. Gemeinsam haben sie beide ein großes satirisches Temperament, das aber bei Shaw viel stärker hervortritt als bei Wedekind. Bei letzterem ist der Hohn karger, aber viel greifbarer als bei dem klugen Shaw, der seine Satire maskiert und mehr als einen irreführt. Mit welchem Haß hat Wedekind nicht das Lehrerkollegium in »Frühlingserwachen« gezeichnet. Er macht alle, die er treffen will, zu Idioten. Nehmen wir zum Vergleich Shaws Ärzte aus »The Doctor's Dilemma«. Wie versteckt ist hier der Hohn! Und wir glauben nicht, daß Shaw die Ärzte mehr liebt als Wedekind die Lehrer. Shaw fühlt sich fast immer als Kritiker der Zeit und ihrer geistigen Strömungen. Er ist ein genialer dramatischer Publizist. Wedekind ist ein Dichter der Leidenschaften. Er ist nicht der Beherrscher der Form wie Shaw, dessen Stücke geschliffen sind wie edle Kristalle. Nichts ist elegant bei ihm, alles unstet. Seine Form ist willkürlich; seine Technik zerfahren. Er ist ganz Impressionist, der nur das bringt, [was] ihm wesentlich erscheint und ihn interessiert. Alles andere wird flüchtig abgetan. – Shaw ist immer gut versteckt. – Aus welcher Person spricht er? Bei Wedekind fühlen wir sogleich, daß er aus allen spricht. Er scheint seine Seele zerrissen und seinen Geschöpfen gegeben zu haben. Deshalb ist der Eindruck seiner Stücke ein so dämonischer. Wir hören den Dichter von seinen Irrungen, Leiden und Kämpfen reden. Er gibt sein geheimstes, intimstes Ich preis. Man hat ihn schamlos genannt. – Aber hat nicht auch Rousseau seine »Confessions« geschrieben?

 

Shaw ist ein kritischer Geist. Wedekind empfindet lyrisch; er ist ein Nachkomme der deutschen Romantik. Seine [Sprache] ist nicht scharf wie die Shaws; sie ist bewegt und wird oft fast rhythmisch. Er hat ein Kennzeichen der deutschen Romantiker: das tiefe Staunen vor der Wunderlichkeit des Lebens. Wie Omar Chajjam sieht er das Leben und die Menschen an sich vorüberziehen. [Zwei Zeilen Text in der vorliegenden Kopie nicht leserlich.]

Mit einem Zauberspiegel möchte er festhalten, was ihn umschwebt. Als echter Romantiker locken ihn die Verwirrungen zur Nachbildung an. Darstellen will er die großen Rätsel – nicht erklären.

In dem Ironiker Shaw finden sich Aristophanes und Voltaire wieder. In dem grotesken Wedekind kämpft Shakespeare mit Swift. Keiner behält dauernd die Oberhand. Aber weil er so zwiespältig ist, gibt er ein großartiges Bild von allen Kämpfen und Nöten der Zeit. Shaws kultivierte Form bändigt alle Leidenschaften. Mit ruhiger Gleichmäßigkeit spielen sich bei ihm die absurdesten Dinge ab. Der Ironiker liebt keine starken Ausdrücke. Alle Akkorde sind dezent und gedämpft. Götter, Helden und Napoleon ziehen ohne sonderlichen Lärm an uns vorüber, und sein Maler Dubedad stirbt sozusagen geräuschlos. Die Witwe geht in ihr Boudoir und kleidet sich um. Das ist alles. Wedekind kennt diese Dezenz nicht. Er ist kein Freund halber Töne. Sturm geht von seiner Person aus. Gluthauch atmen seine Werke. Das Sexuelle nimmt bei ihm den größten Raum ein. So ungeschminkt hat noch niemand diese Probleme behandelt. Shaw führt die sittlichen Anschauungen unserer Zeit geistreich ad absurdum. Wedekind vergröbert und übertreibt. Auf Wahrscheinlichkeit verzichtend, sucht er irgendeinen Ausnahmefall durch kühne Gestaltung zum Allgemeingültigen zu erheben. Er will ein Gleichnis finden für all das Gären und Drängen der Seele. Mag er manchmal ironische Lichter [anzünden], er will nur eines darstellen: den Aufruhr der Leidenschaften.

 

In einem Werk überragt Wedekind alle modernen deutschen Dramatiker, in der Lulu-Tragödie. Sie zerfällt in zwei Teile: »Erdgeist« und »Die Büchse der Pandora«. Wir sehen die Laufbahn einer Dirne. Ihren Aufstieg und Glanz, ihren Niedergang und ihr grausiges Ende. In diesem Werke sind die Absichten des Dichters am reinsten zu erkennen. In dieser Lulu, die wie ein sturmgepeitschter Feuerbrand über die Erde rast und alle versehrt, die mit ihr in Berührung kommen, lebt der Geist der Erde selbst. Das seelenlose, brutale Leben, an dem alle verderben müssen, die nicht stark sind. Der Erdgeist hält eine fürchterliche Auslese unter allen schwachen, unfreien Individuen. Ob sie auch entrinnen wollen, sie bleiben an seinem höllischen Magneten haften und müssen vergehen. Ganz absurde aberwitzige Szenen sind in diesem Stück. Die jäh aufblitzende Ironie wirkt oft wie ein schlechter Spaß. Aber es sind auch Szenen von shakespearischer Gewalt darin. Wir werden zugleich gefesselt und abgestoßen – doch gleichgültig bleibt niemand.

 

Shaw appelliert an den Intellekt. Wedekind drängt sich in die Seele. Seine dämonischen Gestalten schreiben sich mit Flammenschrift in unsere Phantasie ein. Ohne Zweifel, Shaw in seiner Selbstbeherrschung ist klüger. Mit einem diskreten Lächeln macht er vor den letzten Problemen des Daseins kehrt. Er ist der bedeutendere Mensch. Wedekind der stärkere Dichter. Vielleicht liegt hierin der Unterschied zwischen deutschem und englischem Geiste. Der englische Dichter rechnet klug mit dem Möglichen und fühlt sich als Vorkämpfer jener Ideen, die von der Gegenwart in die Zukunft führen. Er ist der Logiker. Der deutsche Dichter möchte in blaue Fernen schweifen, seine Phantasie durch Himmel und Hölle schicken, um ein Abbild des Lebens zu schaffen, wie es sich in seiner Seele spiegelt. Er träumt von einer idealen Welt, von Paradiesen, die nie kommen werden. Aber beide Dichter sind charakteristisch für unsere Generation, die so seltsam zwischen heute und morgen steht. Beide sind Zerstörer einer alten Welt, um Raum für eine neue zu schaffen. Das ist das Gemeinsame an ihnen, die sonst nach Kunstform und Tendenzen so verschieden sind. Brüder sind sie nicht ..., aber Vettern gewiß ...!

 

Aus dem Nachlaß 1915/16
Erster Abdruck: Die Weltbühne, 15. November 1946

 


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