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Das Geschrei um Georges Blun

Der Berliner Herr von »Le Journal« hat in seinem Blatt vom Silvestertreiben der Reichshauptstadt eine unfreundliche und offenbar ungerechte Schilderung entworfen. Unsre Zeitungen sind darüber sehr empört und fordern Repressalien. Wahrscheinlich weiß Herr Blun nicht, daß man in der Metropole außerhalb der hohen Politik keinen Karneval kennt und in der Silvesternacht dafür orgiastisch ausbricht. Herr Blun zeigt erstaunlich viel Humorlosigkeit; er glossiert das leichte Ereignis nur moralpolitisch. Ihn schockiert die pantagruelische Lebensfreude der Berliner, und er würde das Geld für die verschlungenen Pfannkuchen lieber aufs Reparationskonto abgeführt sehen. Er bemerkt auch mit Mißbilligung leichtbekleidete Damen, die den Männern auf der Straße die freimütigsten Angebote machen. Die Berliner Presse sieht darin eine tödliche Kränkung unsrer Frauen und schreit nach Blut. Sollte man sich nicht besser über Herrn Bluns Zimperlichkeit lustig machen? Was die freimütigen Angebote betrifft, so wissen wir doch: das hängt halt von der Stimmung ab und auch davon, wer freimütig offeriert. So schrecklich sind die Berlinerinnen nun nicht. Wirklich, es ist Ihr Schade, Georges Blun!

Doch dieser strenge Savonarola ist nebenbei Vorsitzender des Vereins der Auslandsjournalisten, und ein paar demokratische Blätter fordern jetzt seinen Hinauswurf. Das ist wieder sehr deutsch. Anderswo wäre es dem Sünder vielleicht ärger ergangen, nirgendwo komischer. In Amerika wäre er geteert und gefedert worden, in Italien hätte man ihn mit Rizinus behandelt, in England in einen Boxring geschleppt – doch in Deutschland schmeißt man jemanden aus einem Verein. Das ist für die Deutschen die Vision des Höllensturzes, der Inbegriff letzten Pariatums, Versetzung in die unterste Klasse der Menschheitszugehörigkeit. Er ist aus dem Verein geflogen, er ist nicht mehr organisiert – sein Fleisch gehört den Vögeln in der Luft, den Fischen im Wasser ...

Daran beteiligten sich auch ein paar geschätzte Kollegen, deren jakobinische Radikalität sonst überhaupt nicht zu halten ist. Ach, auch in dem Freiheitsdurstendsten unsrer Mitbürger steckt ein geheimer Hausknecht verborgen, der expedieren will.

 

Die Weltbühne, 10. Januar 1928

 


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