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Über Helden und Heldentum

Jeder Mensch trägt im Innern das Bild einer außergewöhnlichen Erscheinung, der er in irgendeiner Weise nachzueifern versucht. Jeder Mensch hat seinen Helden. Das war immer so und wird auch so bleiben, und wo eine neue Zeit Denkmäler stürzt, geschieht es nur, um andre zu errichten. Es ist unser aller Schicksal, daß unser Heldenideal zumeist nicht durch die Erfahrung, sondern durch die Bücher gebildet wird. Namentlich unsre früheste Lektüre bestimmt die Begriffe dessen, was wir für heldenhaft halten, und später wundern wir uns, wenn wir damit nicht viel anfangen können. Denn der Held der Bücher, die uns in der Jugend begeistern, ist fast immer laut und immer ungewöhnlich. Man sieht ihm sofort an, daß er der Ungewöhnliche und die andern die Alltäglichen, die Gleichgültigen sind.

Wir leben aber nicht in Büchern, sondern in einer recht anders aussehenden Wirklichkeit und müssen uns unsre Begriffe und Anschauungen selbst bilden.

Einen Wertmesser gibt es dafür nicht. Ein großer Teil der Weltgeschichte handelt unglücklicherweise von Kriegen oder Schlachten, und jeder Mensch muß sich leider seinen Kopf mit Daten und Zahlen blutiger Begebnisse anfüllen, wenn auch das meiste davon Gott sei Dank bald wieder vergessen wird. Der militärische Heldenbegriff paßt aber nicht in eine Zeit, die völlig andre Tugenden fordert. Das Beste daran: die tüchtige Ausbildung des Körpers, wache Sinne, präzise Aufmerksamkeit, alles das wird durch Sport und Leibesübungen gefördert, die ja heute auch eine ganz andre Rolle spielen als früher. Aber da das militärische Ideal als letztes Ziel die Vernichtung des Gegners im Auge hat, ist es für unser von hastiger Berufsarbeit ausgefülltes Leben nicht recht zu brauchen. Natürlich sollst du in der Arbeit mit andern wetteifern und sie zu überflügeln suchen. Aber welcher vernünftige Mensch käme auf den Gedanken, den Konkurrenzkampf mit seinem Nachbarn auf die Weise zu erledigen, daß er ihm Handgranaten in den Laden werfen wollte?

Und da höre ich den Einwand: Pfui, das ist doch häßlich, tapferes Soldatentum, das schließlich doch sein eignes Leben in die Schanze schlägt, blutiger Schlächterei gleichzusetzen. Schließlich war es immer Dienst für das große Ganze, Dienst für Volk und Vaterland! Das stimmt natürlich, denn der Soldat steht immer in Gefahr, für jeden getroffenen Schuß mit dem höchsten Zahlungsmittel, das es gibt, den Gegenwert zu leisten: mit dem Leben. Aber ich frage: Bietet denn unser Dasein heute nicht Tag für Tag größere Möglichkeiten, alle Eigenschaften zu entfalten, die einst den Soldaten groß machten? Ist denn nicht auch unser bürgerliches Dasein von vielen Gefahren umgeben, die Mut erheischen, Zähigkeit, Zielbewußtsein – Eigenschaften also, die seit ein paar tausend Jahren von dem guten Kriegsmann gefordert werden, mögen auch die Kampfesmittel sich geändert haben?

Hier soll nicht die Rede sein von dem lautlosen Heldentum, der Gedankenkraft. Nicht von dem Dulden großer Künstler, Gelehrter oder Erfinder, die Verfolgung, Spott und Hunger den Glauben an ihre Idee trotzig entgegensetzten. Viele sind unbekannt und bettelarm gestorben, und die Nachwelt hat erst ihr Streben gerechtfertigt und ihre Namen unter die Großen der Menschheit gesetzt. Wir wollen auch nicht reden von den verwegenen Männern, die augenblicklich weltberühmt sind, weil sie auf kleinen, der Gewalt der Elemente gegenüber lächerlich schwachen Flugzeugen Ozeane und Wüsten überqueren. Sie sind die Pioniere kommender Verkehrsmöglichkeiten. Sie zeigen viel, viel Mut. Denn noch ist bei allen Unternehmungen dieser Art der Tod näher als der Siegespreis. Aber viele davon lockt eben der Preis, sie setzen alles auf eine Karte, auf Ruhm und Geld, auf die Gefahr hin, das Todeslos zu ziehen.

Das Beispiel besonderer Leistungen auf dem Gebiet des Sports hat eine höchst ungesunde Rekordjägerei mit sich gebracht. Jeder richtig verstandene und betriebene Sport aber strebt die Höchstleistung einer Gruppe an und nicht die sogenannte Spitzenleistung eines einzelnen. Der Tagesruhm eines Läufers oder Kanalschwimmers verblaßt schnell, denn jeder Rekord ist dazu da, um überboten zu werden. Und er wird heute so schnell überboten, daß oft mehr der Eindruck eines Glücksspiels entsteht als der einer wohlgelungenen Tat. Unser Ziel soll nicht der Rekord sein, sondern eine gewisse Gleichmäßigkeit der Leistungen, zu der jeder sein Bestes hergibt. Auch in den körperlichen Übungen soll sich der Wille zur Kameradschaftlichkeit äußern, nicht nur zum Übertrumpfen, nicht nur zum Besiegen des andern. Die Männer der höchsten Rekorde sind zwar bewundernswert, aber vieles spielt sich täglich und stündlich um uns ab, was, als selbstverständlich geworden, kaum mehr beachtet wird und doch nicht minder gefährlich ist als ein Ozeanflug oder die Besteigung eines Alpengletschers.

Die Wahrheit ist, daß unser tägliches Dasein nur deshalb ungestört und ungefährdet ablaufen kann, weil viele, viele Menschen gegen kargen Lohn einen Beruf ausüben, der Leben und Gesundheit ständig bedroht. Ja, es gibt Berufe, denen die Lebensgefahr so zur Selbstverständlichkeit geworden ist wie dem Soldaten nach drei Jahren im Schützengraben. Damit wir wohnen, essen, heizen, des Nachts ruhig schlafen können, müssen Unzählige in Bergwerken, Fabriken, technischen, chemischen Betrieben minütlich ihr Leben riskieren. Wenn wir, behaglich in die Ferien reisend, nächtlich aus dem Fenster blicken, sehen wir Gestalten vorüberhuschen, Streckenarbeiter ... wie viele hat nicht schon die Lokomotive gepackt und zermalmt, weil die Luft voll Nebel war oder das Geheul des Windes sie das Signal überhören ließ! Bekannt genug sind die großen Unglücksfälle in den Bergwerken, die oft Dutzenden von Bergleuten das Leben kosten. Denn der Bergmann ist umlauert von Gefahren, und der Tod blickt ihm immer über die Schulter. Aber man braucht nicht in die Kohlenbezirke zu fahren, um zu wissen, was für schreckliche Opfer Berufsarbeit fordern kann, nimm nur einmal für ein paar Tage die Zeitung deiner eignen Stadt vor. Da findest du täglich, gar nicht sonderlich groß gedruckt, Nachrichten aller Art: Sechs Arbeiter bei Erdarbeiten verschüttet! Zwei als Leichen geborgen! – Gerüsteinsturz am Anhalter Bahnhof. Drei Bauarbeiter abgestürzt, einer tot, zwei hoffnungslos verletzt! – Explosion in den Chemischen Werken N. Drei Tote, zahlreiche Verletzte. – Und so fort, und so fort. Und zahlreiche Industrien gibt es, wo nicht Tod oder Verstümmelung das Los ist, das dem Arbeiter stündlich droht, sondern wo böse Dämpfe die Luft verpesten und die Gesundheit der Arbeitenden langsam zerfressen. Es gibt Industrien, wo hohlwangige, ausgemergelte Männer und Frauen jeden Morgen in die Fabrik ziehen. Sprichst du einen davon und fragst du ihn nach den Arbeitsbedingungen, so antwortet er dir bitter: »Bei uns ist jeder mit Fünfunddreißig erledigt ...« Hast du schon einmal mit solchen Menschen gesprochen, in ihre müden, traurigen Augen gesehen? Du wirst so etwas über kurz oder lang sehen, und ich sage dir das, damit du es siehst, damit du nicht darüber hinwegblickst, wie viele, die es sich zum Grundsatz gemacht haben, Elend nicht zu bemerken, weil das die gute Laune stört. Und ich sage dir das, damit du nicht glaubst, Heldentum, Todesverachtung, Mut vor der Gefahr gedeihe nur im Kriege oder bei Erkämpfung von Rekorden. Nein, alles das ist stündlich um dich, und wäre es nicht, könntest du nicht essen, hättest du kein warmes Zimmer, könntest du nicht reisen, könntest du keine deiner Gewohnheiten, deiner Annehmlichkeiten aufrechterhalten. Der ungeheure und unübersichtliche Mechanismus unsres Daseins beruht darauf, daß Abertausende ihr Leben wagen. Und sie sind gar nicht stolz darauf, sie wissen es kaum, sie tun es einfach nur des Broterwerbs wegen. Sie erhalten keine Auszeichnung dafür. Niemand singt ihnen das Lied vom braven Mann. Was sie tun, ist Beruf, ist Pflicht, und damit basta.

Wenn dir das aber zu trocken, zu wenig romantisch erscheint, dann höre noch folgendes: Vor kurzer Zeit kam aus China die traurige Nachricht, daß der berühmte Forschungsreisende Wilhelm Filchner im Innern von Tibet von fremden, feindlichen Priestern ermordet worden sei. Die Meldung ist noch unbestätigt und wird auch hoffentlich nicht bestätigt werden. Aber von Freunden des Forschers wird erzählt, daß er diese schwere und gefahrvolle Expedition in ein unbekanntes Land mit feindseliger Bevölkerung höchstwahrscheinlich begonnen habe, ohne auch nur eine Waffe mitzuführen. Sie meinten, das passe ganz zu seiner Art. Ist das nicht seltsam? Er hatte im Kriege, sagten die Freunde, Bluttat und Gewalttat hassen gelernt. Ja, darin liegt wirkliche Größe, mögen die Klugen auch sagen, daß ein paar Revolverschüsse ihn vielleicht gerettet hätten. Denn darin liegt ein höherer Mut als der, mit Eisen gegen Eisen zu kämpfen, nämlich das, was alles gute, echte, männliche Heldentum auszeichnet: Ergebung in das Schicksal, das wir doch nicht ändern können, und Vertrauen in die Menschen.

 

Jugend und Welt, Berlin 1928

 


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