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Ich hatte im Zuschauerraum noch hinten an der Wand ein Plätzchen gefunden. Die Reihen vor mir waren von einem sehr bunt zusammengesetzten Publikum eingenommen, dem zahlreiche, elegante Damentoiletten ein fast festliches Gepränge verliehen. Der Fall zählte zu den sensationellen, der Verbrecher leugnete hartnäckig, und man durfte mit Recht höchst dramatische und bewegte Auftritte erwarten. Man unterhielt sich, solange die Geschworenen nicht eingetreten waren, im Flüstertone ziemlich lebhaft und angeregt; die Mordthat ward in den Gesprächen kaum gestreift, und wenn ich anfangs auf jedes Wort lauschte, das vor mir fiel, weil ich meinte, es könnte für mich von ausschlaggebender Bedeutung sein, so verdroß mich bald das gedankenarme Volk, das auch in dieser ernsten Stunde noch von Premièren, bevorstehenden Bällen und Schlittschuh-Partien schwatzte. Ich war ganz früh von Hause fortgegangen, hatte selbst auf das kärgliche Frühstück verzichtet und so noch mit genauester Not dies Plätzchen erobert. Heller sah ich nicht – hielt ihn Krankheit fern? Oder wagte er es nicht, seinem Genossen unter die Augen zu treten? Freilich mußte er ja fürchten, daß diesen bei seinem Anblicke Wut und Verzweiflung übermannen und er ihn noch kurz vor der Entscheidung zur Anzeige bringen würde. Ich war vor gleicher Gefahr gesichert, völlig gesichert. Und wenn ich dem Angeklagten gegenübergestellt worden wäre, Aug' in Auge, er hätte mich nicht erkannt. Ich war ihm so fremd wie er mir. Trotzdem ... Die nervöse, quälende Unruhe, die mich in dem Momente befallen hatte, als ich das Gerichtsgebäude betrat, wuchs noch immer, und ich mußte mich wiederholt zusammenraffen, um des verräterischen Zitterns Herr zu werden, das meinen Körper stets von neuem durchlief. Es fröstelte mich, als ich bemerkte, daß ein älterer Herr in einiger Entfernung von mir mich wiederholt sehr aufmerksam betrachtete, und ich beobachtete ihn, in steigender Furcht, er möchte seinem Nachbar seltsame Gedanken zuflüstern, die sich ihm aufgedrängt hatten. Aber zum Glück war er allein und kannte die Leute um sich herum so wenig wie ich ...

Mich mit den Gründen für Hellers Ausbleiben beschäftigend, bereute ich fast mein Thun von gestern abend. Der Mißerfolg, den ich hätte voraussehen und vermeiden können, verschaffte ihm einen letzten und billigen Triumph über mich. An sich war der Ausgang des Streikes gleichgültig für sein Geschick, die Nachgiebigkeit der Arbeiter vermochte den Ruin nicht mehr von ihm abzuwenden; ich aber hatte ganz unnötigerweise eine Laufbahn, die mir auch später offenstand und von der ich so oft begeistert geträumt hatte, mit einer schweren Niederlage begonnen. Und das Thörichtste, das Bedenklichste: in der tollen Erregtheit der Stunde, im Rausche des Hasses, von meiner eigenen Beredsamkeit hingerissen, war ich unvorsichtig genug gewesen, mit meinem Kleinod zu prahlen. Hetzte ich dadurch nicht selber die Hunde auf mich, stachelte ich dadurch nicht seine Habsucht und zwang ihn zu neuen Anschlägen wieder mich? ... Ich lächelte bitter vor mich hin bei diesem Gedanken. Der wilde, rastlose Kampf tobte um einen Besitz, der für mich völlig wertlos war, für mich nur eine Gefahr bedeutete. Ich würde ja nie den Mut finden, das Verbrechen zu begehen, kalten Blutes, mit ruhiger Überlegung. Ich war so moralisch und so schwächlich, so gar keine Raubtiernatur von seinem Schlage. »Ein Poet« – er hatte recht. Warum warf ich ihm die gottverdammte, heillose Tinktur nicht vor die Füße, warum verkaufte ich sie ihm nicht für eine Unsumme und überließ ihm die Ausbeutung? Dann war ich jeder Verantwortung bar, war reich und sorgenfrei, hatte dazu für einen erbarmungslosen, schlauen Feind einen verläßlichen Freund gewonnen –

Nein, nein! Lieber die Tinktur in die Spree schütten, Körnchen für Körnchen, das kein Windstoß unversehens auch nur eines davontrug und vor der Vernichtung bewahrte! Denn wie ein Teufel würde dieser Mensch unter seinen Mitgeschöpfen hausen, und wenn er das Geheimnis ganz ergründet hatte, zuerst die Mordwaffe gegen mich heben, den alleinigen Mitwisser! Ohnehin mußte der heutige Tag ihm wie mir endgültig sagen, daß einer von uns beiden dem andern Platz zu machen habe. Es durfte nicht drei geben, die die Tinktur kannten – wohl, den dritten Mund sollte Henkershand bald für immer schließen. Es durfte auch nicht zwei Wissende geben ...

Nun kamen sie am hellen Tage, ins Haus der Gerechtigkeit, zu der Stunde, da man einen Mord sühnen wollte, die finstern Gedanken, die mich sonst immer nur nächtens heimgesucht hatten.

Eine Bewegung ging durch den Raum wie ein tiefer Atemzug, ein Rauschen seidener Frauengewänder, ein Summen und zischelndes Flüstern. Ich sah empor: der Angeklagte war eben hereingeführt worden. Frei, ungefesselt, und doch so überstreng bewacht und doch ohne jede Hoffnung, jemals das funkelnde Leben draußen wieder zu sehen. Ich stand auf, um ihn genauer betrachten zu können, und ich zuckte im selben Augenblick erbleichend zusammen. Ja, das war der Fremde, ganz so hatte ich mir die vierschrötige Gestalt aus jener Nacht vorgestellt. Ein Stiernacken, auf dem der derbe Rundkopf fast unmittelbar, halslos, aufsaß, ein herkulischer Gliederbau, strotzende Kraft in jeder plumpen Bewegung. Was hätte ich wohl gegen dies Ungetüm vermocht, dem selbst Kerker und Verhörfolter nichts schaden zu können schienen ... Die Gesichtszüge freilich paßten ganz und gar nicht zu diesen Körpermassen. Sein Antlitz war fahl, vergrämt, eine geheime, furchtbare Angst zuckte in den Mienen; der feine, schmale Mund, die leicht geschwungene Gelehrtennase, all die charakteristischen Furchen und Rinnen sprachen diesen Mann von dem Verbrechen frei, dessen man ihn anklagte. Ich ließ keinen Blick von ihm. Mich täuschte er nicht, der Verruchte. Doch in den verschleierten Augen, die er dazu nur selten vom Boden erhob, vermochte ich nicht zu lesen, und die Falte zwischen den Brauen, die verräterische, die uns alle kennzeichnete, fand ich nicht.

Da verneigten sich die Geschworenen und die Gerichtsbeamten im Hintergrunde tief: die Richter waren erschienen.

Feierliches Schweigen lag im weiten Saale. »Die Sitzung ist eröffnet.«

Über Tod und Leben eines Menschen, eines hochgebildeten und hoffnungsvollen dazu, von dem die Wissenschaft Großes erwartete, fiel jetzt das Los.

Und ich saß, gefangen wie er, vielleicht bestimmt, sein Schicksal zu teilen, vielleicht schon in der nächsten Stunde hinter Gefängnismauern ... Ich hätte mich nicht hierherdrängen sollen, ich weckte selbst den Verdacht durch meine unbegreifliche Neugier.

Endlose Formalitäten, auf die ich kaum achtete und während derer ich weiter das Gesicht des Angeklagten studierte. Er war doch schuldlos, er wußte doch, daß er unschuldig war – und dennoch trug er diese ergebungsvolle Armesündermiene zur Schau? Dennoch sah er so bleich, so zerstört aus? Kalte, graugrüne Schatten lagen auf seinem Antlitz, und die teilnahmslos dreinschauenden Augen waren von schwarzen Ringen umzogen. Wie ganz anders, hohnvoll lächelnd, nicht zusammengekrümmt wie dieser, sondern stolz und fest aufgerichtet, hätte ich dort gesessen, den Blicken der Menge, die mein Blut wollte, herausfordernd Trotz bietend! Ich hatte gestern abend der Meute gespottet und hätte sie um ein Geringes siegreich zu meinen Füßen niedergeschmettert; ich würde hier, wo es sich um mein Leben handelte, verzweifelter noch und tapferer kämpfen. Das war keine Flunkerei ...

»Sie geben also nunmehr zu, Angeklagter, in der Nacht des Mordes bei Professor Erck gewesen zu sein?« Der das fragte, der Vorsitzende, war ein weißköpfiger und sehr rotwangiger alter Herr, mit rasch zufahrenden Bewegungen; gewaltig hohes Selbstvertrauen und eherne Strenge lagen jetzt in seinen Zügen ausgeprägt, die sich, wie ich mir dachte, beim Moselwein gern zu jovialem und lustigem Lachen verziehen würden.

Der Gefangene erhob sich schwerfällig und nickte. »Ja.«

»Nun gut. Und was wollten Sie bei ihm?«

»Wir hatten es so verabredet. Pünktlich um zehn Uhr abends. – Wir pflegten öfters um diese Zeit zusammenzukommen,« setzte er dann schnell hinzu.

»Der Professor hatte den ganzen Tag für sich, war vollkommen ungebunden. Und Sie – waren Sie denn tagsüber so sehr in Anspruch genommen, daß Sie nur zu so später Nachtzeit abkommen konnten?«

»Das – das gerade nicht!« stotterte der Angeklagte, schon jetzt ganz verwirrt, verwirrt an dieser Stätte, wo es um Tod und Leben ging!

»Also – welche Beschäftigung hatten Sie denn am Tage?«

»Keine – das heißt, ich trieb Privatstudien. Ich bereitete mich auf die Experimente vor, die ich dann später gemeinschaftlich mit Erck machte.«

»Sonderbar genug. So viel ich weiß, wählen Leute Ihres Faches nicht gerade die Nachtstunden zu Experimenten.«

»Professor Erck wünschte es. Mir persönlich wäre jede andere Zeit ebenso recht gewesen.« Der Mann richtete sich aus seiner gebückten Haltung ein wenig auf und sah zum Präsidenten hinüber.

»Sie kannten Erck schon lange und waren mit allen seinen Gewohnheiten vertraut?«

»Seit fünf – nein, sechs Jahren.«

»Wollen Sie uns sagen, welcher Art das Experiment war, an dem Sie kurz vor Ercks Ermordung gemeinschaftlich arbeiteten?

»Wir versuchten, aus Blei und einer Masse, deren Zusammenstellung Ercks Geheimnis war, eine neue, kostbare Legierung herzustellen.«

»Der Professor hat Sie in sein Geheimnis nicht eingeweiht?«

»Nein!«

»Auch keinerlei Andeutungen darüber gemacht?«

Der andere besann sich. »Keine.«

»Haben Sie das Präparat wenigstens gesehen?«

»Nein. Erck war viel zu mißtrauisch.«

»Und Sie gaben sich ohne weiteres damit zufrieden?«

»Ich mußte wohl. Übrigens vertraute ich Erck und seinem Können unbedingt.«

»Sie nannten die neue Legierung, an deren Herstellung Sie angeblich zusammen arbeiteten, kostbar. Wenn Sie keine Ahnung von der Zusammensetzung des Präparates hatten, welches Interesse konnten Sie dann als Wissenschaftler an der Arbeit nehmen?«

»Ich war vor allen Dingen sehr neugierig darauf, ob das Experiment überhaupt gelingen würde.«

»Wie lange beschäftigte Sie die neue und kostbare Legierung schon?«

»Nun – reichlich anderthalb, vielleicht auch zwei Jahre. Ganz genau weiß ich es nicht.«

Der Präsident lächelte, der zweite Staatsanwalt blickte seinen Chef kopfschüttelnd an.

»So lange also waren Sie damit zufrieden, einfach zuzusehen und im besten Falle Ercks Handlanger zu sein? Sie, der doch in der wissenschaftlichen Welt einen Ruf hat, von dem alle Zeugen, die mit Ihnen verkehrten, aussagen werden, daß Sie sehr ehrgeizig und mehr als strebsam und wißbegierig gewesen sind. Hören Sie, Angeklagter, Sie thun gut, uns wenigstens in solchen Dingen die Wahrheit zu sagen!«

»Ich sage die Wahrheit. Ich kannte das Präparat nicht. Erck hätte es um keinen Preis der Welt aus der Hand gegeben.«

»Dies sein Mißtrauen erbitterte Sie, nicht wahr? Kam es deshalb nicht manchmal zu Streitigkeiten zwischen Ihnen?«

»Nie. Es erbitterte mich auch nicht. Ich hatte Ercks festes Versprechen, mich angemessen am Gewinn zu beteiligen. Er brauchte einen Gehilfen bei dem Werk, seine Wahl fiel auf mich. Und wer Erck kannte und wer den Respekt kannte, den sein Wissen allen Fachleuten einflößte, der wird verstehen, weshalb ich freudig seinem Rufe folgte.«

»Sie behaupten, es habe sich bei dem Experiment darum gehandelt, aus Blei und dem Präparate eine neue, kostbare Legierung zu fertigen. Schön. Aber Blei zu schmelzen ist doch wahrhaftig keine große That; dazu bedurfte Erck doch keines so gewiegten Chemikers wie Sie. Und über das Präparat bewahrte er strengstes Stillschweigen; Sie haben es nie gesehen, wußten nichts von den einzelnen Bestandteilen – folglich brauchte er Sie dazu doch noch viel weniger!«

Wie geschickt der Weißkopf den Dümmling schon beim ersten Vorpostengefecht in die Enge trieb! Und wie albern von dem, alles zu leugnen, etwas zu verschweigen, was er wissen mußte und was, ruhig eingestanden, ihm nur Vorteil, keinen Schaden bringen konnte! Seine bisherigen Aussagen stempelten ihn zum dreisten Lügner, zum Verbrecher, der jede Frage verneinte, jede Thatsache bestritt, um sich nicht fangen zu lassen, und der gerade dadurch immer tiefer in die Netze geriet.

»Erzählen Sie uns nun, was Sie in der Mordnacht trieben.«

»Ich ging zu Erck, wie verabredet war –«

»Wann verabredet?«

Der Angeklagte lächelte spöttisch. »Am selben Nachmittag, in Ercks Wohnung.«

»Um welche Stunde trafen Sie morgens bei ihm ein?«

»Zwischen neun und zehn. Ich blieb dann bis gegen drei.«

»Überließ Ihnen Erck bei diesem Besuche außer dem Hausschlüssel auch den Stubenschlüssel?«

»Gewiß.«

»Ein kurioser Herr. Besaß er denn zwei Hausschlüssel?«

»Ich weiß nicht.« Der Angeklagte blickte nachdenklich vor sich hin. »Ich glaube aber, nur einen.«

»Sehr richtig. Das hätten wir Ihnen auch durch Zeugen nachweisen lassen. Stubenschlüssel besaß er nun allerdings zwei. Aber wenn ich schon annehmen will, daß er Ihnen aus Bequemlichkeitsgründen den Hausschlüssel überlieferte – den Stubenschlüssel brauchte er Ihnen nicht zu geben. Das ist Unsinn. Er war ja oben, und wenn er Sie wirklich erwartete, bedurfte es nur Ihres Anklopfens, und er ließ Sie ein.«

Was der andere nun wohl entgegnen würde! Die Wahrheit mußte er verschweigen, er durfte nicht sagen, daß er, vom Lampenscheine benachrichtigt, mich oben in der Mordhöhle wußte und nun unversehens, leise, leise ins Zimmer dringen mußte, um mich von hinten zu überfallen und niederzuschlagen. Ich hätte an seiner Stelle wohl eine Antwort bereit gehabt, hätte behauptet, das Erck an jenem Tage einen wichtigen Besuch geplant und mir davon Mitteilung gemacht habe mit den Worten etwa: ›Ich komme vielleicht erst sehr spät abends zurück – nehmen Sie auf jeden Fall den Stubenschlüssel, damit Sie nicht im dunklen Flur auf mich zu warten brauchen‹. Das hätte ich gesagt. Und nichts wäre plausibeler gewesen.

»Erck wollte es nun einmal. Er behandelte mich wie seinen Sohn. Ich hatte keinen Grund, ein Zeichen seines Vertrauens zurückzuweisen.«

Der Vorsitzende blätterte jetzt in den Akten. »Vor dem Untersuchungsrichter sagten Sie doch aus, Erck habe Ihnen den Schlüssel nur mitunter, zwei oder dreimal, anvertraut?«

»Mag sein, daß ich das ausgesagt habe. Ich habe da viel ausgesagt. Ich bin mit Fragen rein toll gemacht worden, Tag für Tag. Und es waren immer dieselben Fragen. Ich wollte nur endlich Ruhe haben, und um nur Ruhe zu haben, hätte ich am Ende alles gestanden, was der Herr Untersuchungsrichter irgend wünschte.«

»Sie trugen also beständig die Schlüssel bei sich?«

»Doch nicht beständig!« Der Angeklagte sagte das in sehr ungeduldigem Tone. »Erck gab sie mir immer dann, wenn wir noch spät nachts experimentieren wollten. Er liebte diese nächtlichen Experimente. Er behauptete, dann ungestört zu sein und praktisch erproben zu können, was er tags über durchdacht hatte.«

»Sie kamen also in der Mordnacht ein paar Minuten nach zehn ins Haus. Fiel Ihnen auf der Treppe irgend etwas auf?«

»Nichts.«

»Zündeten Sie Licht an, als Sie die Treppe hinaufgingen?«

»Nein. Ich bin es seit frühester Jugend gewöhnt, mich nachts bei der Heimkehr ohne Licht zu behelfen. Ich ziehe mich im Dunkeln aus, ich –«

»Aber im Hause Ercks waren Sie doch nicht so bekannt?«

»Ich fand mich zurecht. Übrigens brauchte ich auch auf Ercks ausdrücklichen Wunsch kein Licht. Er wünschte nicht, daß man mich sähe.«

»Er wünschte es nicht?«

»Ja, er. Er that sehr geheimnisvoll mit seinen Plänen, auch den Hausleuten gegenüber.«

»Dann betraten Sie sein Zimmer. Und nun?«

»Die Lampe brannte noch. Ich – ich war gleich sehr erstaunt, es so still zu finden. Ich sah Erck zuerst garnicht.«

»Riefen Sie ihn nicht beim Namen?«

»Freilich that ich das.«

»Gleich als Sie eintraten?«

»Wozu denn? Ich mußte doch annehmen, daß er da war.«

»Sie sagten aber, die Stille wäre Ihnen aufgefallen.«

»Er konnte hinaus gegangen sein!«

Der Vorsitzende nickte humoristisch mit dem weißen Kopfe. »Das sehr kleine Gemach ist doch wahrhaftig mit einem Blicke zu übersehen.«

»Ich war so – so erstaunt, als ich eintrat.« Damit verstummte er wieder.

»Alles, was Sie sagen, ist sehr unklar. Nun, und weiter?«

»Er lag neben dem Tische, tot, durch den Hals gestochen. Ich bemühte mich um ihn, es nutzte nichts mehr.«

»Warum schrieen Sie nun nicht sofort nach Hilfe?«

»Ich wäre ein Narr gewesen. Man hätte mich für den Mörder gehalten.«

»Das hätte man nicht gethan. Ein Mörder, der so leicht und ungefährdet entwischen konnte wie Sie, mitten in der Nacht, mit allen nötigen Schlüsseln, der ruft nicht die Nachbarn herbei, macht den Mord nicht bekannt. Solch ein Mörder wäre ein Narr gewesen. Sie dagegen handelten sehr klug und zweckmäßig. Sie raubten dem Professor, was Ihnen an seinen Sachen gefiel und wonach Ihnen wahrscheinlich schon lange gelüstet hatte, dann entfernten Sie sich still, wie Sie gekommen waren, machten auch am nächsten Tag bei der Polizei keine Anzeige.«

»Ich war von dem gräßlichen Anblick so erschrocken und verwirrt, daß ich meiner Sinne nicht mehr mächtig war.«

»Aber stehlen konnten Sie noch.«

»Ich habe nicht –« hob der Angeklagte trotzig an.

»Leugnen Sie doch das nicht! Sie haben es ja bereits unumwunden eingestanden, und zudem werden's Ihnen die Zeugen genau nachweisen. Vergessen Sie nicht, daß Sie durch freches Leugnen Ihre Lage immer mehr verschlimmern.«

»Ich mochte mit der Polizei nichts zu thun haben. Man hätte mich doch sicher im Gefängnis zurückbehalten. Und darauf wollt ich's ankommen lassen.«

»Ein lobenswerter Grundsatz. In der That, Sie handelten wie ein wirklicher Freund des Toten.«

Das Schicksal dieses Mannes war entschieden, ehe noch die Zeugenaussagen begannen. Und ich – gütiger Gott! – ich war gerettet!

»Ein märchenhaft dummer Kerl!« hörte ich vor mir flüstern. »Fast bemitleidenswürdig dumm!«

Das Verhör der Zeugen nahm über zwei Stunden in Anspruch. Sie wurden einzeln in den Saal geführt und feierlich vereidigt. Alles, was sie zu bekunden wußten, belastete den schwer verklagten Mann aufs Äußerste. Kollegen und Bekannte konnten ihm kein günstiges Zeugnis ausstellen; er galt für verschlossen, gewaltthätig, unberechenbar in seinen Launen. Genaues über seinen Verkehr mit Erck wußte niemand. Ercks Aufwartefrau stellte es ganz entschieden in Abrede, daß der Professor gewohnheitsmäßig oder auch nur mitunter zu so vorgerückter Stunde experimentiert und Besucher empfangen habe, dazu wäre er viel zu geizig und sparsam mit dem Lichte gewesen. Kein Hausbewohner wußte sich zu entsinnen, daß Erck jemals in der Nacht »Großfeuer gemacht,« will sagen, laboratorische Arbeiten vorgenommen habe. Und den alten Sonderling beobachtete doch alles aufs Genaueste. – Mit jeder Viertelstunde sanken die Aussichten des Beschuldigten tiefer, und wie verzweifelt sein Verteidiger auch kämpfte, es gelang ihm nicht, das felsenfeste Gebäude der Anklage zu erschüttern. In mir schien es manchmal, als thäten die Belastungszeugen, besonders die Frauen, des Guten allzu viel und häuften Beschuldigungen auf das Haupt des stumpf vor sich hinstierenden Verbrechers, die er in dieser Schärfe nicht verdiente.

Und dann nahm die Verhandlung jäh eine Wendung, auf die ich nicht vorbereitet war.

Ein Zeugenname ward aufgerufen, den ich der eintönig und müd gewordenen Stimme des Richters wegen nicht verstand, dessen Klang mich aber unwillkürlich zusammenfahren machte. Mit weit geöffneten Augen, in schaudernder Angst starrte ich nach der Thür ... Ich hatte mich nicht getäuscht – da vorn stand der greise Trödler-Patriarch, der mir meine erste Projektion abgekauft hatte.

Ich versteckte mich, ich verkroch mich, so gut es ging, hinter die andern; ich senkte den Kopf tief auf die Brust, um nicht von ihm gesehen zu werden. Und die Hände fest ineinander gekrallt, daß sich die Nägel ins Fleisch eingruben, in hündischer Scheu zuweilen auflugend, gähnend vor Furcht und plötzlicher Ermattung, lauschte ich den gespenstischen Worten ...

»Ich habe den Zeugen vorladen lassen, um dadurch der Wahrheit näher zu kommen, die den Angeklagten retten wird und die er uns trotzdem zu verheimlichen sucht!« klang es vom Tische der Verteidigung. »Mein Klient erschwert mir die Führung seiner Sache ganz ungemein dadurch, daß er nicht ehrlich und offen sein, ein Geheimnis nicht preisgeben will, dessen Kenntnis uns sein ganzes Treiben in einem völlig veränderten Lichte erscheinen läßt. Die Verteidigung ist durch anonyme Briefe davon unterrichtet worden, daß in unserer Stadt, wie übrigens anderwärts auch, eine Sekte mittelalterlicher Alchymisten besteht, ein kleiner Kreis von Männern, die allen Ernstes der Hoffnung nachhängen, die rote Tinktur, den Stein der Weisen finden und dann Gold herstellen zu können. Ich werde beweisen, daß mein Klient sowie der Ermordete zu dieser Sekte gehörten.«

Der Vorsitzende fiel dem Rechtsanwalt in die Rede, und ich hörte einen feinen, aber vernichtend scharfen Hohn aus seinen Worten klingen: »Es bleibt der Verteidigung überlassen, ihre Beweisanträge zu stellen, ich will sie nicht im geringsten beschränken, aber ich möchte doch bitten, eine offenbare Fopperei nicht tragisch zu nehmen.«

»Herr Zeuge,« wandte sich der Rechtsanwalt an den Trödler, ohne den Spott des Vorsitzenden zu beachten, »Sie sind mir als Autorität und Sachverständiger auf diesem Gebiete genannt worden. Wissen Sie etwas davon, daß man sich auch in der Gegenwart noch bemüht, die sogenannte Projektion, die Umwandlung, die Veredlung von Blei und Quecksilber in Gold, vorzunehmen?«

Ich getraute mich nicht aufzublicken, aber mein Atem jagte, es flimmerte mir dunkel vor den Augen, und der Schweiß stand mir in großen Tropfen auf der Stirn.

»Freilich weiß ich das. Es giebt sehr viel solche Leute, 's sind aber Narren, allesamt hirnverdrehte Narren.«

»Mag sein,« fuhr der junge Rechtsanwalt fort, den das leise, unterdrückte Kichern im Saale nicht zu beirren schien. »Wenn man mich recht berichtet hat, kannten Sie Professor Erck persönlich.«

»Jawohl, ich kannte ihn.« Das kam sehr widerwillig, sehr zögernd heraus.

»Sie standen mit ihm in Geschäftsverbindung?«

»Nun ja.«

»Sie wußten, daß er ebenfalls zu dieser Sekte hirnverdrehter Narren gehörte, von der Sie soeben sprachen?«

Jetzt besann sich der Zeuge ein wenig. Das Intermezzo schien die Zuhörer überaus zu langweilen; ganz leises Flüstern erwachte. Ich hatte mich so weit gefaßt, daß ich es wagte, flüchtig zu dem Patriarchen und dem Verteidiger hinüberzusehen. Der Trödler stand, das Gesicht dem Richtertische zugekehrt, unschlüssig da, in den Augen des jungen Rechtsanwaltes aber leuchtete eine Siegeszuversicht, die mich erschauern machte.

»Sie müssen die Frage des Herrn Verteidigers jedenfalls beantworten, Zeuge,« mahnte jetzt der Vorsitzende. »Ich erinnere Sie an Ihren Eid.«

»Es kann wohl sein, daß Professor Erck solchen Hirngespinsten nachhing; bestimmt weiß ich es nicht,« sagte der Trödler unsicher. »Es ging so die Rede unter uns, daß er manches verstand, aber ich habe nie mit ihm darüber gesprochen.«

»Sie kauften dem Ermordeten auch niemals eine Legierung ab, die er für Gold hielt und die er selber geschmolzen hatte?«

»Dem Ermordeten nie.« Ich biß mir die Lippen wund. Waren sie denn alle behext, diese Einfaltspinsel, diese läppischen Gesellen, daß sie sich ohne Widerstand gefangen gaben?

»Aber sonst jemand, nicht wahr? Und bald nach Ercks Tode?«

Wie gebannt starrte ich auf den Greis, der sich immer fester, immer unlösbarer in die Schlinge verwickeln ließ. Man wurde aufmerksam, ich sah, daß einige Geschworene, die bisher sehr gleichgiltig dagesessen hatten, ihr Gesicht dem Zeugen zuwandten.

Jetzt schien sich der Alte aber vom Schreck der Überrumpelung erholt zu haben. »Ich kaufe mancherlei Metalle, das ist mein Geschäft. Ich probiere auch mancherlei, was mir Gelehrte ins Haus bringen. Gold war freilich bisher nicht darunter. Seit der Ermordung Ercks geb' ich doppelt acht, aber es ist mir nichts Verdächtiges vor die Augen gekommen.«

»Sie waren also immerhin der Meinung, daß der Mörder in Ercks Nachlaß ein Präparat gefunden haben könnte, mit dem die Tingierung möglich war?«

»Möglich ist alles. Ich nenne nichts unmöglich, dafür bin ich zu alt und habe zu viel Seltsames gesehen. Aber so lange mir einer nicht das Gegenteil beweist, so lange nenne ich die Faxen der Alchymisten hirnverdreht.«

»Es ist demnach nicht ausgeschlossen, daß Erck sich wirklich mit der Herstellung der mysteriösen Tinktur befaßte?« fragte ein Geschworener, wie es schien, ein Schriftsteller oder ein Arzt, an den Zeugen.

»Nein, das ist nicht ausgeschlossen. Der alte Herr war immer ein bischen verrückt, von dem glaub' ich's sogar.«

»Ich werde noch durch einen zweiten Zeugen diese Wahrscheinlichkeit betonen lassen,« fuhr der Verteidiger fort. »Erck besaß oder glaubte ein chemisches Mittel zu besitzen, wodurch die in Rede stehende Umwandlung unedler Metalle erzielt wurde. Er verband sich mit dem Angeklagten zur Ausführung des Experimentes, ohne ihn indes ins eigentliche Geheimnis einzuweihen. Ist es nicht so?« Und er wandte sich unvermittelt an seinen Klienten, der wie geistesabwesend, mit geschlossenen Augen, dasaß. »Ja,« stammelte er hervor.

»Ich kann derlei suggestive Fragen unter keiner Bedingung zulassen,« wies der Vorsitzende den Verteidiger scharf und ungeduldig zurecht. »Und was denken Sie mit alledem zu beweisen?«

»Über die wunderthätige Tinktur Ercks ist in Fachkreisen allerlei Gerede entstanden. Ich nehme an, daß jemand, den wir bis zur Stunde nicht kennen, den Plan gefaßt hat, sich ihrer gewaltsam zu bemächtigen, daß er sich in jener Nacht unter irgend einem Vorwand bei Erck einschlich und den Raubmord beging. Mein Klient hätte das nicht nötig gehabt, er besaß Ercks unbedingtes Vertrauen, hätte den Diebstahl bequem in der Abwesenheit des Ermordeten ausführen können. Wichtig ist es auch, zu wissen, ob thatsächlich nach der Verhaftung meines Klienten mit der Tinktur behandelte Metalle irgendwo zum Kauf angeboten worden sind. In dem mir zugegangenen Briefe wird das mit Bezug auf den Zeugen Bloch mit aller Bestimmtheit behauptet, und ich glaube dem Briefschreiber.«

»Der Zeuge hat bereits unter seinem Eide das Gegenteil versichert,« unterbrach ihn der Vorsitzende schroff. »Ich muß es ernstlich rügen, daß Sie ohne Not, auf Grund eines anonymen Schreibens die eidliche Aussage eines ehrenhaften und durchaus einwandfreien Zeugen für unwahr erklären.«

Blochs Dreistigkeit zerstörte das kunstvoll aufgeführte Beweisgebäude des jungen Rechtsanwaltes, der sich an diesem Prozeß vielleicht seine goldenen Sporen verdienen wollte. Trotzdem gab er die Schlacht nicht verloren, diese schwere Schlacht, in der ihm selbst von seiten des Angeklagten keine Hilfe kam.

»Ich würde bitten, zur Vernehmung des Zeugen Heller zu schreiten. Weitere Fragen an den Zeugen Bloch behalte ich mir vor.«

Eine Sekunde lang, als ich den verhaßten Namen hörte, wollte es mich drängen, aufzuspringen, vor die Richter hinzutreten und alles, alles einzugestehen. Die hämische Freude wenigstens, mich hier, vor dem Tribunal, durch sein Wort vernichtet zu haben, wollte ich ihm nicht gönnen. Dann aber bedachte ich, daß er mir ja bis zum Dienstag Frist gegeben hatte, daß er heut' in seinem eigenen Interesse nichts gegen mich unternehmen würde. Und ich fühlte nach der Tasche, wo ich die Tinktur verborgen trug.

Seine Stimme klang wie aus weiter Ferne an mein Ohr.

»Sie meldeten sich freiwillig als Zeuge in dieser Sache, Herr Heller. Sie waren zwar mit Erck nicht persönlich, aber doch mit seinem Streben und Wollen bekannt. Können Sie uns sagen, ob er thatsächlich wegen seines alchymistischen Wissens in manchen Fachkreisen beneidet wurde?«

Heller ließ seine Blicke rasch durch den Zuschauerraum schweifen, als suchte er mich. »Ich glaube das in der That. Ich beispielsweise beugte mich vor diesem Mann und beneidete ihn um seine Erfolge.«

»Das heißt, Herr Zeuge, Sie halten die Herstellung der sogenannten roten Tinktur ganz im Ernst für möglich?«

»Mehr noch, ich vermute, daß Erck wirklich in ihrem Besitze gewesen ist.«

»Die Hoffnung, ein Präparat zu finden, das sogenannte, unedle Metalle in Gold verwandelt, ist in Chemikerkreisen noch immer nicht ausgestorben,« belehrte der Präsident mit dem feinen, ironischen Lächeln der Überlegenheit die Geschworenen. »Angeklagter, ließ der Professor Ihnen gegenüber Andeutungen fallen, daß ihm dieser Fund geglückt sei?«

»In eben der Nacht, wo man ihn ermordete, wollte er mir beweisen, daß er im Besitz des Geheimnisses wäre. Er ...« Der Riese verstummte plötzlich, als sei er im Begriff, zuviel zu sagen, und starrte wieder mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin.

»Wenn Erck die Tinktur besessen hat, so ist sie ihm nach seiner Ermordung geraubt worden, denn man fand sie in der Wohnung nicht mehr vor. Mein Klient aber hat sie nicht gestohlen, die Haussuchung bei ihm, der sich für vollkommen sicher hielt, förderte alles mögliche, nur nicht die Tinktur zu Tage.«

»Sie schließen daraus, daß jemand anders der Mörder war und den Raub beging?«

»Ich sagte das schon.«

»Sehr gut.« Die einander schnell folgenden Wechselreden und der gereizte, spöttische Ton des Vorsitzenden verfehlten ihre humoristische Wirkung auf das Publikum nicht, man kicherte, und ich meinerseits war unklug genug, laut aufzulachen. Um harmlos zu scheinen wie die andern, übertrieb ich in meiner Nervosität. Dem Präsidenten mochte nun zum Bewußtsein kommen, daß er nicht ganz nach den Regeln verfahren war; er erhob sich und ermahnte uns mit strenger Stimme, unbedingte Ruhe zu bewahren. Das Auditorium würde sonst unverzüglich geräumt werden.

Der Zwischenfall hatte die allgemeine Aufmerksamkeit auf mich gezogen, ich fühlte, daß Heller die Augen nicht mehr von mir ließ, und es war mir, als wollte er mich zur Vorsicht mahnen. Und sein feines, höhnisches, verhaßtes Lächeln spielte wieder um die sinnenfröhlichen Lippen.

»Wissen Sie, Zeuge Heller,« rief ihn der Vorsitzende auf, »mit positiver Gewißheit, daß der Ermordete thatsächlich das hier viel erwähnte Präparat, die rote Tinktur, besaß?«

»Das weiß ich nicht.«

»Dann wundert es mich auch kaum, daß sich solch' eine märchenhafte Tinktur nach seinem Tode nicht mehr vorfand. Sie ist eben nie dagewesen.« Ich sah, daß Heller und der Verteidiger einen Blick mit einander wechselten. »Hat der Herr Staatsanwalt noch eine Frage an den Zeugen – oder Sie, Herr Verteidiger?«

Der junge Rechtsanwalt sah sich mit selbstzufriedener Miene um. Ich hätte diesen Menschen auf der Stelle töten können, diesen arroganten Gesellen, der sich anmaßte, mein Geheimnis mit seinem Juristenverstande zu entwirren! Dem Heller ein paar dunkle Andeutungen hingeworfen haben mochte und der nun mit plumper Dilettantenfaust das feine Gewebe zerriß!

»Herr Zeuge,« sagte er mit Nachdruck, »Sie halten den Angeklagten für unschuldig?«

»Ich?« entgegnete ihm der Befragte. »Darüber habe ich doch kein Urteil. Das steht mir ja auch gar nicht zu!«

Die Antwort kam offenbar sehr unerwartet, denn die leuchtende Siegeszuversicht verschwand vom Antlitz des Offizialverteidigers, und er fand nicht gleich eine neue Frage. Auf mich aber, der mit starrem, bangem Entsetzen, an die Folterbank geschraubt, jedem seiner Worte gefolgt war, wirkte der Ausdruck seiner jähen Enttäuschung so unsagbar komisch, daß ich mich nicht mehr beherrschen konnte. Die fürchterliche, qualvolle Spannung meiner Seele löste sich mit einemmal, und ich brach in ein konvulsivisches, schallendes Lachen aus.

Totenstille herrschte dann im Raume. Alle Gesichter waren mir zugewandt, höchstes Befremden malte sich in allen Mienen. Der Vorsitzende hieß mich mit starker Stimme an den Richtertisch treten, stellte meinen Namen und meine Wohnung fest.

»Sie stören die Verhandlung zum zweiten Male in unqualifizierbarer Weise. Sie scheinen sich des Ernstes dieser Stunde absolut nicht bewußt, aber ich werde Ihr ungehöriges Benehmen nicht länger dulden. Haben Sie einen Antrag zu stellen, Herr Staatsanwalt?«

Ernüchtert und erschrocken sah ich auf. Und gleichzeitig wurde mir klar, daß ich mich nun selbst der Polizei überliefert hatte. Man würde die Tinktur bei mir finden, man würde ... Ich wagte nicht, seitwärts zu blicken, wo Heller stand, aber ich sah sein dämonisches Lachen, den Hohn in seinen Augen. Was hatte ihn dazu getrieben, sich in die Verhandlungen einzudrängen, was anders als die Begier, mich neuerdings zu martern und seinen Wünschen gefügiger zu machen! Und nun hatte er ja seinen Zweck erreicht, nun war ich armer Tölpel gefangen.

»Ich beantrage eine Haftstrafe von drei Tagen wegen Ungebühr!« ließ sich der Staatsanwalt vernehmen.

Diese teuflischen Fratzen rings umher, diese zum Ersticken schwüle, von Qualm erfüllte Luft, dies lodernde, rote Feuer ... Ich taumelte, ich wäre gestürzt, wenn mich nicht ein Gerichtsdiener aufgefangen hätte. »Was ist Ihnen denn?« fragte der Präsident, mich scharf ins Auge fassend. »Sie haben zuviel getrunken.«

»Mir ist sehr schlecht ... Hunger!« hauchte ich, trotz meines Unwohlseins die mir günstige Wendung geschickt für mich ausnutzend und mich noch kränker stellend. »Ich – ich habe seit gestern mittag nichts mehr gegessen. Ich – es war nicht böse Absicht. Es kam plötzlich so über mich – ich mußte ...«

»Dann ist es doch eine unverzeihliche Thorheit von Ihnen, hierherzugehen!« sagte der Richter in bedeutend milderem Tone. »Machen Sie, daß Sie nach Hause kommen, suchen Sie sich Arbeit, statt hier herumzulungern. Bote, bringen Sie den Mann auf die Straße, daß ihm nichts passiert. – Wir fahren in der Verhandlung fort!« ...

Die schmutziggrauen Wolken hingen fast bis auf die Erde herab, und in ihrem Dunst verschwammen alle festen Linien zu breiten, unförmigen Massen. Es lag wie Regen in der Luft, von den Dächern tropfte und triefte es, als stünde der Frühling nahe bevor. Frühling ... Frühling ... Die Gänge des Thiergartens, durch den ich nach Hause schlich, waren aufgeweicht, die eiskalte Nässe des Bodens durchschauerte mich, mich fror und hungerte. Aber die Trostlosigkeit der toten Natur, die tiefe, tiefe Stille um mich her empfand ich fast wohlthuend. Da drinnen in der Stadt gab es so wenig Brot und Liebe für mich wie hier und den Lärm da drinnen würd' ich jetzt nicht ertragen. Warum entfloh ich ihm nicht durch einen raschen Entschluß? Warum machte ich nicht ein Ende? Klammerte ich mich denn so feige an das elende Lebensrestchen, ich, der Kranke, Zerstörte, dem keine Daseinsfreude mehr lachen konnte? Ich war durch Hunger und Entbehrungen zum Tiere herabgesunken, meiner Sinne nicht mehr mächtig, ein Gespött der Gassenbuben; mein zerrissenes, schmutziges Kleid, mein fahles Gesicht, mein unheimliches Gebahren, ich wußte es, schreckten jeden Menschenfreund ab, ich durfte nicht mehr hoffen, hatte nur noch zu fürchten ... Warum machte ich kein Ende?

Vor mir lag das trübe, sich zu einem kleinen See ausbuchtende Gewässer, darin die grauen Wolken sich verdrießlich spiegelten. Ringsum kahles, feuchtes Gesträuch, kahle, feuchte Öde; selbst die Krähen, die über den Park hinhuschten, gaben keinen Laut. Ein verwunschenes Land .. Kein Mensch im weiten Umkreise, ich ganz allein; einsam wie ich gelebt hatte, würde ich sterben. Nur ein Sprung .. und niemand würde mich vermissen.

Dann war alles vorüber, alle Schuld bezahlt. Und dann nahm ich auch das verfluchte, unholde Gold mit mir, das mich aus der Bahn geschleudert hatte, um dessentwillen ich krank und elend geworden war, in dessen Dienst ich meine einst so hoch angestaunten Fähigkeiten vergeudet, verloren hatte, daß ich jetzt nicht mehr war als sie alle, die ich so verachtete. Ja, was that ich hier noch? Was konnte ich noch Gutes thun? Woher nahm ich heut ein Stückchen Brot, wenn ich nicht betteln oder stehlen wollte? Und während ich hier durch den kalten, häßlichen Wintertag ging, fahndete vielleicht schon die Polizei nach mir, hatte Heller schon die entscheidende Aussage gemacht und mich als den wirklichen Mörder gebrandmarkt. Zog ich wirklich den schimpflichen Tod im Zuchthause dem ehrenvollen durch eigene Hand, dem Tod des freien, selbstherrlichen Mannes vor?

Doch nein. Noch nicht. Noch hatte ich den Bluthund nicht gerichtet. Wenn ich jetzt aus dem Leben schied, ohne mein verpfuschtes Leben an ihm gerächt zu haben – gab ich ihm dann nicht neuen Anlaß, über mich zu lachen? Einer von uns mußte dem andern weichen, das hatte ich mir immer, immer wieder ins Herz geprägt – aber weshalb sollte gerade ich der Unterliegende sein? Mehr als von ihm durfte die Welt von mir erhoffen; von meiner Krankheit genesen, würde ich ein schaffensfrohes Mitglied der Menschheit werden wie ehemals. Nur gefesteter durch furchtbare Erfahrungen, nur reicher. Vertraute ich mich meiner Wirtin an, so gab sie mir wohl für heut und morgen einen Bissen Brot, und mehr bedurfte es nicht. War ich mutig und würdig, weiter zu leben – wohl, so atmete er an jenem Tage nicht mehr, den er mir mit satanischem Hohn als den letzten genannt hatte. Die Frist war dann abgelaufen, doch nicht für mich – für ihn.

Und ich grübelte darüber nach, wie ich mich ihm nähern konnte, ohne daß er meine Absicht erriet. Allzu oft hatte ich ihn meines brennenden Hasses versichert, er war mißtrauisch geworden, war gerüstet. Und er mußte auf den ersten Streich fallen, sonst unterlag ich ihm, ich, der an Körperkraft Schwächere, der Hungerleider.

Es kostete mich nachher nur ein Wort, und mit meinem Golde konnte ich Hilde wiedergewinnen, die Herzlose demütigen, ihren protzigen Vater in den Staub zwingen  ... Nein, nicht sie. Nicht diese Menschen. Mit ihnen hatte ich abgeschlossen. Tilly würde wieder zu mir kommen, Tilly, die ich auch im Rausche der lärmendsten Seligkeit nicht vergessen hatte, und wir würden wieder glücklich werden. Dann konnte ich ihr ja alles, was sie von mir erbat, in den Schoß legen, dann war kein König reicher und mächtiger als ich. Sie hatte mich mehr geliebt als irgend wen, hatte mich dann einer flüchtigen Laune geopfert, sich blenden und beschwatzen lassen von dem, den sie für meinen Freund hielt. Sie würde ihn hassen und verachten wie ich ...

Wie mußte ich's nur anstellen, um ihn in die Falle zu locken ... Ich mußte sehr geschickt sein. Eine hastige Bewegung, ein vorschnelles Wort verdirbt in solchen Minuten alles. Und besonders im Kampfe mit diesem ...

Ich war ihm nicht feindselig gegenübergetreten. Gott weiß es. Ich hätte ihn wohl lieb gewonnen, ihn wie einen Bruder gehalten, den verwandten Geist, den Mitkämpfer in ihm begrüßt. Aber er sah vom ersten Tage an in mir nichts als den glücklichen Nebenbuhler, den er um sein Gut zu betrügen dachte. Er hatte die unmenschlichsten Qualen ersonnen, mich systematisch zur Raserei getrieben. Wäre er behutsamer und feinfühliger zu Werke gegangen, so hätte ich meinen Schatz vielleicht willig mit ihm geteilt, besonders jetzt, wo er dem Ruin zutaumelte. Statt dessen hatte er mich mit Drohungen, Willkür und niedrigen Verrätereien zu beugen gesucht. Nicht sein Freund, sein Sklave sollte ich sein. Aber über mich konnte man nicht lachend hinwegschreiten wie über irgend einen furchtsamen und gedankenarmen Proletarier, mein Nacken ertrug die Wucht keines Fußes, und vor niemandem beugte ich in Demut mein Haupt. Er hatte den Kampf begonnen, mich zur Gegenwehr gezwungen, und er zwang mich jetzt zu dieser That ... nun gut denn.

Es gab kein Zurück mehr, und jeder Einwand, den mein Haß erfülltes Herz widerwillig erwog, bestärkte mich nur noch in dem Entschlusse. Und ich sah des Feindes nichtswürdiges Lächeln, sah in die Zukunft, sah mich vor ihm kriechen, ihm knechtisch gehorchen und wie ein geprügelter Hund noch obendrein danken dafür, daß er mich immer noch nicht dem Schinder ausgeliefert hatte. Und jeder Gedanke war vergiftet von Wut und wahnwitzigem Zorn, jedes Wort, das ich vor mir hinmurmelte, war ein Fluch. So ging ich nach Hause. Ich setzte mich an den Schreibtisch und vermochte doch nicht den kleinsten Satz zu bauen, ich dachte nur an den Einen. Und als es mir endlich gelang, das Gespenst zu verscheuchen und meinen Geist an die Arbeit zu bannen, die halb vollendet vor mir lag, da fühlte ich wieder, daß diese Thätigkeit meine Kräfte überstieg, mein Hirn weigerte sich zu schaffen, mein Kopf war dumpf und benommen, als wäre ich vor wenigen Stunden von einem wüsten, nächtlichen Gelage heimgekehrt und spürte noch alle bösen Geister des Alkohols, eine Müdigkeit, die mir die Augen zudrückte, in den Glieder. Ich konnte nicht, mein Gott, ich konnte nicht mehr arbeiten. Tot ...

Der Hunger dabei ... die Aufregungen des Vormittags hatten mich so betäubt, daß ich ihn minder schmerzhaft empfunden hatte, aber nun kam er wieder, und es war mir, als verbrenne ich innerlich und breche morsch zusammen. Mir wurde sehr unwohl ...

Ich tastete mich zur Küche hinüber, die Wirtin um ein Stück Brot anzugehen. Sie war nicht da – ich horchte – sie war auch nicht im Nebenzimmer – und gierig durchsuchte ich nun das niedrige Spind. Ich fand ein paar steinharte, derbe Brotkanten, die wohl schon mehrere Wochen alt sein mochten und zur Suppe dienen sollten; ich steckte sie mit einem Gefühl überschwenglichen Jubels ein, weichte sie in meiner Stube in kaltem Wasser auf und verschlang sie, sobald sie zu kauen waren. Köstliche, leckere Mahlzeit! Nur genügte sie meinem Heißhunger nicht. Aber sie ermutigte mich doch, es noch einmal mit der Arbeit zu versuchen ...

Es war umsonst. Die wenigen Zeilen, die meine widerspenstige, klexende Feder auf das Papier brachte – wie gequält nahmen sie sich aus, wie armselig! Der Gedankengang so wirr und matt und zusammenhanglos – eine Schnecke, die mühsam im Zickzack über die Erde kriecht und schleimige Spur hinterläßt. Die Müdigkeit wich nicht von mir und machte mich immer häufiger gähnen, zwang mich zu immer größeren Pausen, während welcher ich in stumpfes Brüten versank, riß mir zuletzt die Feder ganz aus der Hand und umfing mich mit tiefer Ohnmacht.

Im Traume aber sah ich den Sommer, den strahlenden, schönen Sommerjüngling, und er neigte sich zu mir und setzte mir seine Krone aufs Haupt. Es war die glühende Sonne selbst, die am Firmamente hing, und anfangs blutrot zuckte, wie ein Menschenherz zuckt. Es war die Sonne, die mich jahrelang hier oben immer zuerst gegrüßt hatte von allen Menschen der Millionenstadt, wenn ich über die unseligen Manuskripte gebeugt saß, die dann mit ihrem roten Lichte wie in vergnügtem Hohn mein dürftiges Gemach schmückte. Nun aber trug ich sie auf dem Haupte, die glühende, und alles, was ich berührte, ward Gold, lauteres, rotes Gold ... Ein Meer von flüssigem, blutigem Golde umwogte mich.

* * *


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