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Nun handelte ich sehr schlau und überlegt. In einem der billigen Vorstadt-Kleiderläden kaufte ich einen recht stattlich aussehenden Anzug, bezahlte ihn und ließ meine alte, abgeschabte Garderobe sofort sorgsam einpacken. »Die will ich nun bei der Arbeit tragen,« bemerkte ich. »Schicken Sie sie mir morgen früh sofort in die Chemische Fabrik Heller & Co., wo ich angestellt bin.« Der Händler schrieb die Adresse mit großen Buchstaben auf das Paket. »Wird prompt besorgt,« sagte er dann höflich. »Und wenn Sie wieder etwas brauchen –«

Ich nickte ihm gnädig zu und ging befriedigt davon. Er hatte gewiß schon von dem Morde gelesen, stand noch unter dem frischen Eindruck der Blutthat, aber mein sicheres Auftreten und die vertrauenerweckenden Angaben, die ich machte, ließen auch nicht die flüchtigste Regung eines Verdachtes aufkommen. Diese eine Erfahrung zeigte mir, daß es nur geringer Aufmerksamkeit und Geistesgegenwart meinerseits bedurfte, um allen Fährlichkeiten leicht zu entgehen. Die Schutzleute, denen ich begegnete, flößten mir jetzt keine Furcht mehr ein, sondern forderten vielmehr meinen Spott heraus. »Wenn du wüßtest, wer dir eben vorbeigeht!« dachte ich dann, »du stündest nicht so gleichgiltig und gelangweilt da.« Im Besitz eines fürchterlichen Geheimnisses zu sein, das außer mir niemand lüften konnte, dünkte mich jetzt beinahe reizvoll.

Fast pünktlich auf den Glockenschlag traf ich bei meinen Schülern ein.

Die beiden großen Bengel saßen schon über ihre Hefte gebeugt. Während der Jüngere durch lebhaftes Spiel mit dem Federhalter seine Gedanken zu konzentrieren suchte, starrte der Ältere mit gerunzelter Stirn auf das grüne Tuch des Tisches. »Heut' ist's aber schauderhaft schwer, Herr Doktor!« rief mir Alfred entgegen. »Gott sei Dank, daß Sie kommen. Wir sitzen schon seit halb fünf an der Konstruktion und kriegen sie nicht fertig.« Er hielt inne, sah mich verwundert an und flüsterte dann seinem Bruder ein Paar Worte zu, die den andern bewogen, mich gleichfalls von oben bis unten zu betrachten. Es ward mir überaus unbehaglich unter den dreisten Blicken der beiden, und da ich mir das Ansehen des Unbefangenen zu geben versuchte, muß ich wohl ein recht komisches Bild geboten haben, denn Fritz lachte plötzlich laut auf und verließ mit einer gestotterten Entschuldigung das Zimmer.

»Was haben Sie denn?« fragte ich ärgerlich den Zurückgebliebenen. »Sie thun ja, als wär' ich ein entsprungener Verbrecher.«

»Aber Herr Doktor!« rief Alfred entrüstet. »Wir wundern uns nur – Sie sehen heute so fein aus!«

»Ah – das ist es!« atmete ich erleichtert auf.

»Ja,« fuhr der Bengel fort. »Nehmen Sie's mir nicht übel, aber wie Sie sonst kommen und wie heute, das ist ein himmelweiter Unterschied. Sie haben wohl mächtiges Glück gehabt, Herr Doktor?« setzte er mit naseweiser Neugier hinzu. »Spielen Sie in der Lotterie?«

Ehe ich ihm noch antworten konnte, kam Madame Jonas ins Zimmer gerauscht, hinter ihr Fritz und Fräulein Hilde. »Guten Abend, Herr Doktor!« sagte sie herablassend und beäugelte mich wie ein Meerwunder. »Wollte mit Ihnen ein Wort sprechen, Herr Doktor. Sie wissen, Ostern müssen die Kinder versetzt werden, auf jeden Fall – Herr Jonas würde sonst die Geduld verlieren.«

»Aber Mama!« unterbrach sie Fritz. »Deshalb brauchst du dir wirklich keine Sorgen zu machen. Wir haben doch Oktober wirklich sehr gute Zensuren in Mathematik gehabt.«

»Und das verdanken sie nur dem Herrn Doktor!« fügte Hilde hinzu. Zum erstenmale hörte ich aus ihrem Munde mein Lob. Bei jeder früheren Gelegenheit hätte mich das dankbar gestimmt, heute nicht mehr. Ich wußte, daß Madame es wieder für nötig halten würde, mich anzuspornen und mir mit der Hungerpeitsche zu drohen, und ich war entschlossen, mich energisch zur Wehr zu setzen. Ich hing ja nicht mehr von ihrer Güte ab.

»Das verdanken sie sich!« verbesserte die Mama ihre Tochter. »Der Herr Doktor thut doch nichts, als ihre Arbeiten zu überwachen. Talent läßt sich doch nicht eintrichtern.«

»Na hör' mal, von wegen Talent –,« meinte der ehrliche Alfred, während Fritz dem mütterlichen Lobspruch mit Wohlbehagen lauschte.

»Ich sähe nun gern, Herr Doktor,« setzte Frau Bertha ihre Ermahnungen fort, »wenn Sie von heute an etwas früher kämen, eine halbe Stunde vielleicht. Ich besorge wirklich, Sie erledigen jetzt das Pensum in zu großer Hast, und Herr Jonas legt gerade Gewicht darauf, daß die Kinder in der Mathematik ungewöhnlich Tüchtiges leisten« – Herr Jonas, der ein Maschinengeschäft betrieb, wünschte geniale Ingenieure aus seinen Rangen zu machen – »darum läßt er ihnen ja diese Extrastunden geben. Und die Kinder klagen, Sie gingen viel zu rasch vorwärts –«

»Da bedaure ich, gnädige Frau,« entgegnete ich, ihr ruhig ins Gesicht blickend. »Erstens 'mal hat es keinen Zweck, die Stundenzahl zu vergrößern; ich kann Ihren Söhnen den Stoff nicht klarer machen, und ob's ein anderer kann, scheint mir fraglich. Zweitens aber, mir fehlt die Zeit.«

»Ihnen fehlt die Zeit?« wiederholte Madame mit vernichtender Ironie.

»Ja. Ich bin heute als zweiter Chemiker für eine große Fabrik engagiert mit sechstausend Mark Gehalt jährlich,« ergänzte ich meine Mitteilung, gegen Fräulein Hilde gewandt, die erstaunt näher getreten war.

Ein Pause trat ein. Fritz war der erste, der sie unterbrach. »Dann werden Sie – werden Sie uns am Ende gar keine Stunden mehr geben?« fragte er ängstlich. »Das wäre verdammt – Sie dürfen uns doch nicht sitzen lassen. Man ist an Sie gewöhnt. Ehe sich ein anderer einarbeitet –«

Ich zuckte die Achseln.

»Da gratuliere ich aber von Herzen, Herr Doktor,« sagte Alfred, mir die Hand entgegenstreckend. »Es ist zu schade, daß Sie – aber Sie gehen sich doch selber vor. Natürlich. Nee, es freut mich riesig. Ich hab's immer gewußt, aus Ihnen wird 'was,« setzte er triumphierend hinzu.

»Sie kündigen also Ihre Stellung bei uns?« wandte sich Frau Bertha an mich.

»Was wird mir weiter übrig bleiben, gnädige Frau?« meinte ich gleichmütig. »Die Berufsarbeiten nehmen einen nachher völlig in Anspruch – und man muß sich doch auch erholen. Ich muß Zeit für private wissenschaftliche Arbeit haben –«

»Das geht doch aber nicht!« rief Fritz erschrocken. »Bisher sind wir ziemlich die Besten in der Klasse; wenn Sie abspringen, fallen wir durch.«

»Also doch?« konnte ich mich in meiner befriedigten Eitelkeit nicht enthalten, zu bemerken. »Aber selbstverständlich, Herr Doktor!« sagte Alfred gemütlich. »Mutter hat ja keine Ahnung davon, wie's geht. Und das weiß ich, einen so guten Lehrer wie Sie kriegen wir nie wieder. Einen, der so viel weiß.«

»Es ist ein bißchen undankbar von Ihnen,« bemerkte Madame, auf das beschämende Zeugnis ihres Sprößlings nicht achtend.

»Wieso?«

»Jetzt, wo's Ihnen gut geht –«

»Aber Mama!« fiel ihr Hilde in die Rede. »Nehmen Sie's nicht tragisch, Herr Doktor! Und wenn ich Sie bitten dürfte – die Schlingel verdienen's freilich gar nicht –«

»Ja, bleiben Sie bei uns!« bettelte Alfred. »Sie können sich's ja mit der Zeit einrichten, wie's Ihnen paßt. Nur Sonnabend nicht, da haben wir Tanzstunde.«

»Sonntag wäre gut, weil wir doch die Geometrieaufgabe für Montag machen müssen,« schaltete Fritz ein.

Frau Bertha blickte betrübt auf die beiden Talente und trug sichtbar schwer an ihrer Niederlage. »Sie hören, Herr Doktor, die Kinder wünschen's so sehr, bleiben Sie noch!« sagte sie. »Ich kann mir zwar gar nicht denken – sie müssen doch nun so weit sein – sie brauchen doch sonst keinen Hauslehrer –«

Ich sah, wie Fritz seiner Schwester einen Knuff gab und sie in meine Nähe drängte. Es machte mich stolz, so umworben zu werden, mich zum erstenmal in meinem Leben von diesen Leuten als ihresgleichen behandelt zu sehen, und als das schöne Mädchen mir lächelnd die Hand reichte: »Sein Sie doch barmherzig!«, da hielt ich's für klug, den demütigen Sieger zu spielen. »Wenn Ihrer Frau Mama so viel daran liegt, Fräulein –«

»Na, 's is man een Sejen!« äußerte sich Alfred befriedigt, seinen Platz am Arbeitstisch wieder einnehmend. »Das hätte gut werden können!«

Während ich mich zu meinen beiden Schülern wandte, hörte ich hinter mir Hilde mit ihrer Mutter flüstern und gleich darauf die Alte auf mich zukommen. »Sie verzeihen, Herr Doktor!« sagte sie höflich. »Wenn Sie für heut abend noch nichts Besonderes Vorhaben, dann bleiben Sie doch 'mal bei uns auf ein Butterbrot – ohne Umstände.«

»Wir müssen doch Frieden schließen!« meinte Hilde, mir zunickend.

Ich fühlte, wie ich vor Freude rot wurde. »Vielen Dank, gnädige Frau!« stammelte ich. »Mit Vergnügen!«

Als die Dame aus dem Zimmer war, fiel mir meine Projektion ein, zu der es heute nun wieder nicht kommen würde. So unterblieb sie eben bis morgen. Der lang entbehrte Hochgenuß, im Kreise gebildeter, wohlhabender Leute einen Abend verplaudern zu können, nicht als höherer Bedienter, sondern als Gleichgestellter, Aufstrebender – die köstliche Anregung wollte ich mir nicht entgehen lassen. Um so weniger, als sich ein unbestimmtes Gefühl in meinem Herzen regte, etwas wie warme Sympathie für das stolze, schöne Geschöpf, das eben so tapfer meine Partei ergriffen hatte. –

Ich war kein guter Lehrer. Ich ärgerte mich über jede Dummheit viel zu herzlich, und ein und dieselbe Formel mehrmals wiederholen zu müssen, weil meine beiden Dickköpfe sie schlechterdings nicht verstanden, deuchte mir furchtbarste Qual. Meine bisherige Stellung hatte es mit sich gebracht, daß ich allen Ärger darüber schweigend hinunterschlucken mußte, aber desto gründlicher ward mir meine Thätigkeit verleidet, desto beschränkter schienen mir die beiden Brüder. Heute nun kostete ich unvermutet einmal die spärlichen Wonnen des Lehrerberufes. Ich ging mit jener Freudigkeit ans Werk, die allein schon den Erfolg verbürgt; ich fühlte mich gehoben und betrachtete meine Schüler aus einem andern Gesichtswinkel. Plötzlich fand ich, daß sie eigentlich gar nicht so imposante Esel waren, wie ich bisher stillschweigend angenommen hatte. Alfred drang sogar, nachdem ihm der Weg durch ein paar hinweisende Fragen geebnet war, ziemlich rasch in schwierige Materien ein, und dem Älteren half ich mit einer Geduld auf den rechten Weg, deren ich mich nie für fähig gehalten hätte. Die Brüder fühlten recht gut heraus, daß ich heut' ein ganz anderer als sonst war; sie gaben sich auch ihrerseits die redlichste Mühe, und als wir nach zwei Stunden, allseitig erschöpft, mit der Arbeit aufhörten, meinte Alfred schmunzelnd: »Na, der Olle wird morjen Augen machen – wir wissen ja nu mehr als er! Schade, Herr Doktor, daß Sie nich unser Ordinarius sind, denn bliebe keener sitzen!«

*

Zu meiner großen Überraschung fand ich im Salon außer der Familie Jonas Walter Romberg und seine Schwester, die mir entgegeneilten und mich mit herzlichen Worten beglückwünschten. Man hätte, um mir eine Freude zu machen, nach ihnen geschickt, erklärte Hilde; zudem wäre ihr die liebe Schulfreundin so lange aus den Augen gewesen, daß sie nun ordentliche Sehnsucht nach Gertrud und doppelte Freude über ihr Kommen empfände. Und damit küßte sie das Mädchen herzhaft auf den Mund. Hilde war seltsam erregt, und ich konnte nicht umhin, mir diese jähe Veränderung ihres Wesens in einer für mich recht schmeichelhaften Weise zu deuten. Als sie nachher auf Minuten hinausging, um in der Küche zu helfen, benutzte ich den Umstand, daß Walter mit den andern in langatmige Gespräche über Schulprüfungen vertieft war, ein paar vertraute Worte mit Gertrud zu reden.

»Ich sah dich heute morgen mit Fräulein Hilde im Tiergarten.«

Ihr blasses Gesicht wechselte die Farbe. »Ja, Hilde hat mich von Hause abgeholt.«

»Aber sie sagte doch eben, ihr hättet euch so lange nicht mehr gesehen?«

»Die – ihre Mutter soll's nicht wissen, daß sie bei mir war.«

Ich schüttelte den Kopf, ich verstand sie nicht.

»Ihr habt also ein Geheimnis – ein großes Geheimnis, nicht wahr?«

»Gewiß.« Sie drehte nervös an dem schmalen, goldenen Reif, der den kleinen Finger ihrer Linken schmückte.

»Und ich darf's nicht wissen, Trude?«

»Nein. Es ist mir streng verboten, irgend jemandem etwas darüber zu sagen – selbst dir nicht.«

»Betrifft es mich denn?« fragte ich, mühsam meine Erregung meisternd.

»Ach nein. Dich gar nicht.«

Ich schwieg enttäuscht. Über Gertruds Lippen kam nie auch nur eine Silbe, die nicht strengste, reinste Wahrheit beseelte. Sie haßte die Lüge, auch die unschuldigste, wie etwas unsagbar Gemeines – nein, sie haßte sie nicht, denn sie kannte sie gar nicht. ... Ich hatte mir in der Eile einen kleinen, sehr romantischen Roman zurechtgelegt, darin ich die Hauptrolle spielte, und mußte es mir nun gefallen lassen, beiseite geschoben zu werden. Nun, um so besser. Tilly's schlanke Gestalt stieg mahnend und beseligend vor mir auf.

»Du bist doch ein schrecklich eingebildeter Mensch,« begann Gertrud nach einer Weile. »Als müßte sich die ganze Welt um dich drehen. Als spänne man deinetwegen sogar Intriguen. Ach nein du – wer andere ganz vergißt, den vergessen andere eben auch.«

»Jetzt willst du mir wieder Vorwürfe machen. Dabei weißt du doch, wie gern ich bei euch bin. Aber wenn ich zu arbeiten habe –«

»Du hattest es Walter fest versprochen.«

»Ja – da ist die neue Stellung dazwischen gekommen. Sieh 'mal, Trude, wenn es sich um so viel handelt – um die ganze Zukunft –«

»Aber natürlich!« unterbrach sie mich, froh lächelnd und mit einem Blick voll unendlichem Stolz. »O, wir sind ja so glücklich, der Bruder und ich, daß du nun endlich durchgedrungen bist.«

»Gott – das war überhaupt nur eine Frage der Zeit!« glaubte ich ihr erwidern zu müssen. »Ich hätt' so etwas längst haben können, wenn ich mich darum bemüht hätte. Verloren sind die Jahre ja nicht, wo ich für mich lebte – ganz im Gegenteil. Unter uns, Trude, streng unter uns – ich stehe dicht vor einer großen Erfindung. Wenn die mir gelingt, sag' ich dir, werden wir alle Millionäre.«

»O, wahrhaftig? Ich wünsche es von Herzen.« Ihre großen, blauen Augen glänzten, aber ich wußte, mit keinem Gedanken erwog sie, welche Vorteile ein solches Glück ihr und ihrem Bruder, meinen langjährigen Freunden, bringen könnte; sie beschäftigte sich nur mit mir. –

Bei Tische kam ich zwischen Walter Romberg und Fräulein Hilde zu sitzen. Wir tranken Wein, und der mir ganz ungewohnte Aufenthalt in so guter, liebenswürdiger Gesellschaft, das junge und schöne Mädchen neben mir, das meinen Worten mit unverhohlenem Interesse lauschte; das berauschende Gefühl, nun kein Paria mehr zu sein – alles vereinte sich, meine Lebensgeister zu entzünden. Ich wußte, daß ich der bewunderte Held des Abends war. Ich bemerkte wohl, daß die linkische Schüchternheit mich verließ, die zu meinem starken Selbstgefühl immer in so sonderbarem Gegensatze stand und über die ich mich so oft wütend geärgert hatte. Heute fand ich auf jedes Wort alsbald eine passende, gut klingende Antwort, und hübsche Wendungen fielen mir gleich, nicht erst nachher ein, wenn es zu spät war. Übermütig geworden, suchte ich sogar eine Unterhaltung zwischen meinen beiden Nachbarn, zwischen Walter und Hilde, anzuknüpfen, die kaum voneinander Notiz nahmen und es selbst vermieden, sich anzusehen. Als ich nichtsdestoweniger in meinen Bemühungen fortfuhr und den Freund mit seiner Feindseligkeit gegen das schöne Mädchen zu necken begann, flüsterte er mir, blutrot im Gesicht, hastig zu: »Laß doch, bitte – ich sage dir nachher, weshalb!«

Es schien mir, als wäre ich jetzt hinter Gertruds wohlbewahrtes Geheimnis gekommen. Diese Entdeckung stimmte mich noch fröhlicher.

Herr Martin Jonas, der mir gegenübersaß und sich in nachdrücklichster Weise mit der gebratenen Gans beschäftigte, zwischendurch mir und seiner Tochter fleißig eingegossen hatte, ergriff jetzt sein Glas und stand auf. Wie ich nach den ersten Worten wußte, um einen Trinkspruch auf mich zu halten. Er liebe und lobe alles, was sich aus eigener Kraft emporarbeite, sagte er. Er selbst sei in seiner Jugend ein bitterlich armes Kerlchen gewesen und mit dreißig Thalern mühselig Erspartem in der Tasche nach Berlin gekommen. Es sei ihm geglückt, nach vielen Fährlichkeiten, dank der Entschlossenheit und Courage, die er alleweil an den Tag gelegt habe, dank der Konzentriertheit seines Strebens. Nie rechts, nie links, nur empor, empor! Er spüre wohl, daß ich aus demselben Holz geschnitzt sei, und er wünsche mir noch schönere Erfolge, als er selbst davongetragen habe. Er sei stolz darauf, solchen Lehrer für seine Bengel zu haben, die sich doch ja ein Beispiel an mir nehmen möchten. Hurra hoch!

Alles erhob sich und stimmte jubelnd ein. Herr Jonas, ein prachtvoller Fünfziger mit blondem Vollbart und imposanter Mähne, hatte sich bislang blutwenig um mich gekümmert; selbst das kärgliche Honorar für meine Stunden hatte mir immer Frau Bertha gebracht. Nun, gleichviel. Ich fragte nicht nach dem Grunde seiner Huldigung, die ja auch wirklich aus ehrlichem Herzen zu kommen schien, nahm sie als etwas Selbstverständliches entgegen und schlürfte doch jedes Wort mit unbeschreiblichem Vergnügen ein. Ich vermochte ein überlegenes Lächeln des Triumphes nicht zu unterdrücken, als Hilde sich zu mir neigte, aber es verdroß mich auch, daß sie dies Lächeln bemerkte und daraus erkennen mußte, wie eitel ich war.

Das Gespräch rollte munter fort.

»Talent allein macht's nicht, am wenigsten in Ihrer Kunst!« warf Herr Jonas hin, »es gehört Pfiffigkeit dazu und eine feste Hand. Im allgemeinen erwirbt man sich die nur als Kaufmann, wo einen jeder Tag zwingt, derb zuzugreifen und der Erste beim Wettlaufen zu sein. Sehen Sie, da steht heut' im Abendblatt von einem neuen Mord zu lesen, an 'nem Fachgenossen von Ihnen, so 'nem alten Chemiker, Professor dazu, der in 'ner Dachstube fünf Treppen hoch hauste, ich glaube in der Chorinerstraße, wo die letzten Häuser sind! Soll ein höllisch gescheiter Kerl gewesen sein, aber gebracht hat er's zu nichts, bei all seiner Gelehrtheit.«

Mit leicht zitternder Hand goß ich meiner Nachbarin Wein ins Glas.

»Das ist ja aber für Rotwein, Herr Doktor!« sagte Hilde lachend.

»Variatio delectat!« Es fröstelte mich plötzlich.

»Schon wieder ein Mord, Papa?« fragte das Mädchen dann. »Hoffentlich haben sie doch den Mörder schon?«

Alberne Frage, die immer von neuem an mich herantönte! Nein, mein schönes Kind, sie haben ihn nicht. Sie werden ihn auch niemals haben.

»Keine Spur!« entgegnete Herr Jonas, sich ein Käsebrötchen zurechtmachend und alle Aufmerksamkeit auf den Teller bannend.

»Was es doch für schreckliche Menschen giebt! Erzähle doch, Martin!« bat Frau Bertha.

Der Hausherr probte den Roquefort, trank einen Schluck Rotwein und wischte sich den Mund behaglich mit der Serviette ab. »Ist wenig zu erzählen. Der Alte wohnte schon seit sechs oder sieben Jahren in dem Hause, bezahlte seine Miete pünktlich, lebte aber riesig einfach. Hatte auch gar keinen Umgang, bis auf einen jungen, eleganten Mann, mit dem ihn Nachbarn abends zuweilen gesehen haben wollen. Den jungen Eleganten suchen sie, er soll's nämlich sein; alles deutet darauf hin, daß ein guter Freund der Thäter war. Gestern Mittag ist der Alte ausgegangen, kein Mensch weiß wohin, und keiner hat ihn wiederkehren sehen. Heut' morgen um elf kommt der Portier zufällig nach oben und sieht Blutspuren an der weißen Treppenwand, Fingerabdrücke.«

»Fingerabdrücke? An der weißen Wand?« Ich preßte die Worte mit übermenschlicher Anstrengung hervor und fühlte, wie meine Wangen brennend rot wurden.

»Jawohl, Herr Doktor! Na, das ist sehr erklärlich. Der Mord ist bei Nacht geschehen; der Mörder hat kein Licht angezündet oder wollte es nicht, als er sich nachher durch die Finsternis wieder hinuntertappte –«

»Mein Gott, was für ein Mut gehört dazu!« sagte Walter schaudernd. »Oben liegt der Tote, und ich, sein Mörder, sollte durch die Dunkelheit davonschleichen, langsam, schrittweis, mit verhaltenem Atem ... ich würde vor Grausen vergehen!«

»Ja, du!« rief ich ihm geringschätzig zu.

»Hättest du etwa den Mut? Wie ich dich kenne – versteh' mich nicht falsch: du mit deiner nervösen Poetennatur! – Du kämst nicht einen Treppenabsatz lebend hinunter!«

Ich begnügte mich damit, die Achseln zu zucken.

»Ist denn dem Alten irgend etwas gestohlen worden?« fragte Fritz. »Hast du vielleicht die Zeitung da, Vater?«

Herr Jonas antwortete nicht, sondern räumte mit seinem Roquefort auf.

»Man ist wirklich nicht mehr in seinen vier Pfählen sicher!« entrüstete sich Madame schaudernd. »In jeder Woche beinahe kommt so etwas vor. Und immer entwischt der Verbrecher! Wenn man denkt – in einem Theater, im Restaurant kann man neben ihm sitzen – auf der Straße kann er hinter einem hergehen!« Sie schüttelte sich.

»Was du doch gleich für Phantasien hast, Mama!« lachte Hilde. »Schließlich befürchtest du sogar noch, er säße hier am Tische neben dir!«

Meine Finger klammerten sich unterm Tisch mit wütender Gewalt ineinander, als sie das sagte; ich zitterte am ganzen Leibe und hörte meinen Atem in kurzen Stößen gehen. Ich lächelte noch, aber es muß ein gräßliches Lächeln gewesen sein.

»Was hast du nur?« fragte Walter besorgt. »Da siehst du – schon die Erzählung von solchen Schandthaten greift dich an.«

»Unsinn!« wies ich ihn zurück. »Aber mir thut der alte Mann leid! So etwas müht sich nun zeitlebens um die Wissenschaft – verachtet jeden Erdenlohn – ja –«

»Nicht wahr? So 'n Esel!« fiel mir Herr Jonas ins Wort, und nie ist jemandem für seine Unart inniger gedankt worden als ihm von mir. »Aber wissen Sie, was ich immer glaube? Der Alte hat vielleicht irgend eine wichtige Erfindung gemacht, und der junge Elegant, das ist auch einer vom Fach. Bitte Sie um alles in der Welt, ein gewöhnlicher Strolch kriecht doch nicht fünf Treppen hoch zu solchem Habenichts, der bleibt hübsch unten im Laden oder in der Beletage, wo 'was zu holen ist!«

»In der Beletage!« wiederholte Madame sehr beunruhigt und warf einen scheuen Blick nach der Thür.

»Und sehen Sie,« fuhr Herr Jonas siegesbewußt fort, »im Abendblatte steht, daß die Schränke, wo der Alte seine Mixturen und Manschereien drin hatte, daß in den Schränken alles um und um gekramt war! Na also! Soll mich gar nicht wundern, wenn nach ein paar Monaten irgend ein junger Kerl mit 'ner ganz neuen chemischen Erfindung herauskommt – auf den mag die Polizei achtgeben! Nein, ich habe einen Blick für so 'was – Sie werden sehen!«

Eine halbe Stunde vorher hatte ich noch mit meiner neuen Entdeckung geprahlt, und dabei lag der schreckliche Verdacht doch so nahe! O meine unselige Geschwätzigkeit, die mich zu Grunde richten würde! Ich blickte verstohlen zu Gertrud hinüber, aber sie saß regungslos da, den Blick auf das Tischtuch geheftet.

»Dann müssen sich die Erfinder in der nächsten Zeit ja sehr in acht nehmen!« versuchte ich zu scherzen, während mir der Kopf schwirrte und ich kaum imstande war, einen Gedanken zu fassen. »So zum Beispiel, wenn es mir gelänge –«

»Ja, na Sie! Hüten Sie sich nur auch vor den Elegants! Sie sind wahrscheinlich genau so ein Grübler wie der Alte.«

»Und in 'nem Dachstübchen wohnt er gleichfalls!« sagte Walter mit breitem Lachen. Bei jeder andern Gelegenheit hätte ich ihn ohrfeigen mögen für diese Taktlosigkeit; heut' indessen erwies er mir einen wahren Freundschaftsdienst damit.

»Das Leben in der Dachstube hat seine Annehmlichkeiten!« wandte ich mich rasch an meine Nachbarin. »Erstens – wegen des Geldes! Von seinen Zinsen kann man nicht leben, und allerlei Arbeiten verkaufen sich nicht wie Milchsemmeln. Und zweitens – die Poesie!«

»Poesie? Sie meinen, weil große Dichter sich früher verpflichtet glaubten, in Dachstuben zu hausen?«

»Ach nein, deshalb nicht. Aber so ein Zimmerchen im Giebel macht doch Stimmung. Man wohnt dem Himmel nahe, hoch über der niedern Menge, und die Sonne grüßt einen des Morgens zuerst von allen Bewohnern der Millionenstadt. Abends giebt sie mir die letzten und schönsten Beleuchtungseffekte zum Besten.«

Hildes braune Augen blitzten mich an. »Sie sind ein Schwärmer.«

»Nur mäßig. Nur für den Sonntagsgebrauch. Aber meine Dachstube bietet wirklich ganz besondere Schönheiten. Rechter Hand am Hause fließt die Spree vorbei, gradaus windet sich der Mühlengraben zwischen wackligen, altfränkischen Buden hindurch – eine echte, rechte Lagunenstadt. Wenn nun ein sonniger Frühlingstag draußen liegt und das graue Wasser einen feinen Anflug von Blau trägt, so einen golddurchstickten, dünnen Schleier ... o, das sieht wohl schön aus!« Ich war erstaunt über die Sicherheit, die Ruhe, mit der ich sprach und mich in diese Gedanken versetzen konnte. »Dabei alles so eng und gemütlich, ein Idyll, fünf Minuten von Gerson! Guck' ich aus dem Fenster, so seh' ich die mächtige Kuppel der Schloßkapelle mit ihrem Edelgrün über den schmalen, gedrückten Häuserchen, den winkligen Gassen aufsteigen. Berlin ist nirgends so interessant und so malerisch wie dort, wo ich wohne.«

Hilde Jonas hatte die Hände übereinander gelegt und schwieg.

»Alles, was wahr ist, Sie tragen's mit Humor, das gefällt mir von Ihnen,« lobte mich ihr Vater.

»Mein Geschmack wär's nun gerade nicht,« meinte Frau Bertha kopfschüttelnd. »Es ist immer feucht am Wasser, besonders in der schrecklichen Gegend da! Sie werden nun wohl bald ausziehen, Herr Doktor, nicht wahr?«

»Ganz gewiß. Aber die Gegend verlaß ich nicht. Die ist mir zu lieb geworden.«

»Nun hören Sie! Wir kennen den Friedrichswerder ja auch – mein Mann sollte dort vor ein paar Jahren zum Stadtverordneten gewählt werden –«

»Fang' doch nur nicht wieder davon an!« schnitt ihr Herr Jonas das Wort ab. »Sie müssen wissen, Herr Doktor, meine Frau will mich durchaus zum berühmten Mann machen, und ich habe nicht die geringste Neigung dazu; mir genügt mein Geschäft, das nimmt mich ganz in Anspruch. Wir waren damals mit 'nem Stadtrat aus dem Viertel befreundet, und da haben die Weiber – Pardon, die Damen – hinter meinem Rücken für mich intriguiert. Na, sobald ich's merkte, war natürlich Kette ab.«

»Wie finden Sie Papa?« fragte Hilde scherzend. »Konnte ein Gewaltiger von Berlin werden und schlug es aus, groß in schlichter Bürgerwürde.«

»Ich find' es sehr klug. Ich glaube in der That, das Ich geht der Allgemeinheit beträchtlich vor.«

»Das sagst du jetzt, wo du ein kleiner Millionär geworden bist,« rief Walter ärgerlich. »Aber ich kenne dich besser. Du gerade bist der Mensch, der alles vergißt und sich selbst zuerst, wenn es sich um große, allgemeine Fragen handelt. Mach' dich doch nicht schlechter, als du bist.«

»Der öffentliche Ankläger!« sagte Hilde lächelnd. »Sie sind ja ein Abgrund, Herr Doktor!«

*

Wir gingen auf der Straße nebeneinander her, Gertrud in der Mitte, Walter immer dicht am Rande des Bürgersteiges, übermütig pfeifend. »Ich habe oben absichtlich nicht mit dir gesprochen,« sagte Gertrud. »Die Leute denken wunder, was im Werke ist, wenn ein Mädchen und ein junger Mann sich duzen. Und ›Sie‹ sagen mocht' ich nicht zu dir. Gerade jetzt nicht. Wenn du nun auch zu Gelde kommst und berühmt wirst, ich will die nicht sein, die das ›Sie‹ zwischen uns einführt. Das überlass' ich dir.«

»Trudchen! Hältst du mich wirklich für einen solchen Lump?«

»Kinder, zankt euch nicht!« fuhr Walter dazwischen. »Nach so 'nem vergnügten Abend! Ach, wie war das schön! Schönheit und Freude genug für sechs Wochen! So prächtige Leute, die Jonas!«

»Besonders das Fräulein Hilde, alter Sünder!«

»Du weißt?« stammelte Gertrud.

»Aber natürlich! Die beiden haben's deutlich genug gemacht. Eine heimliche Verlobung, Walter, was?«

»Ach – so weit ist es noch lange nicht! Ich muß doch erst fest angestellt sein. Aber wir haben uns miteinander ausgesprochen – die Eltern sollen's noch nicht wissen –«

»Wenn die nicht blind sind, staarblind, müssen sie's heut' abend in jeder Minute dreimal gesehen haben. So dumm habt ihr Komödie gespielt.«

»Dann hätt' ich dir's auch ruhig sagen können – was mußt du nun wieder von mir denken!« ärgerte sich Gertrud. »Aber ich hatte der Hilde feierlich schwören müssen, niemandem auch nur ein Sterbenswort zu verraten – Hilde ist nun einmal so!«

»Ja, es scheint mir, sie liebt das Abenteuerliche. Ein bissel phantastisch.«

»Wie meinst du das?« fragte Walter betroffen. »Doch nicht etwa –«

»Ach nein – sie hat ihn wirklich sehr gern!« eröffnet mir Gertrud. »Sie hat es mir selbst gesagt. Heut' morgen wieder, als sie bei mir war. Aber die Eltern dürfen's nicht wissen.«

»Das giebt eben der Sache den romantischen Anstrich. Hab' ich nicht recht?«

Es wunderte mich, daß Gertrud teil an diesen Heimlichkeiten nahm. Sie widersprach eigentlich ihrem innersten Wesen damit. Aber die echt frauliche Neigung zu Liebesgeschichten und Hilfeleistungen an Verliebte verleugnete sich auch an ihr nicht und

* * *


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