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Trink nur! Er ist extra deinetwegen so stark gekocht!« ermunterte mich Walter, als ich lachend Gertruds Versuch, mir die Kaffeetasse zum drittenmal zu füllen, abwehrte. »Wenn wir beide allein sind, geht's nicht so hoch her.« Und damit reichte er mir dienstfertig die Zuckerbüchse herüber, drehte eine frische Zigarette und schob sie mir mit den Zündhölzchen zu. Seine Augen strahlten vor Wonne darüber, daß er mich bewirten konnte.

Ich lehnte mich behaglich in den alten Erbsessel zurück, der mir immer eingeräumt wurde, wenn ich zum Besuch kam, und blies die blauen Rauchwolken in die Luft. Es war eine bescheidene Häuslichkeit, die die beiden führten, fast mehr als bescheiden. Die wackligen Möbel stammten aus der Urväter Hausrat, das Sofa sah über die Maßen angegriffen aus, und der Teppich ließ von ehemaliger Farbenpracht schon gar nichts mehr erkennen. Aber in dem Stübchen waltete und webte doch eine stille Heiterkeit, die mehr anheimelte und diesen Beiden köstlicher schien als aller Luxus der Welt. Von dem gipsernen Bismarck auf stolzem Konsol, dem Prachtstück der ganzen Einrichtung, bis zu den hübschen Radierungen in schlichten Holzrahmen, die die Wände schmückten, von den Stoffdekorationen überm Sofa, die Gertrud selbst ersonnen und ausgeführt hatte, bis zur verborgensten Gardinenfalte atmete alles kleinbürgerliche, fromme Gemütlichkeit, verriet so viel Liebe und Sorgfalt, wie sie nur die Frau des deutschen Mittelstandes für ihr eignes Heim aufzuwenden weiß. Die große, schwarze Katze, die vorm Ofen saß und den Kopf zwischen den Pfoten vergraben hatte, das Kanarienvogelweibchen, das auf dem Tische herumspazierte, selbst die trägen Winterfliegen, die schwerfällig am Milchtopf emporkrochen, konnten sich dem Einfluß dieses Geistes offenbar nicht entziehen. Sie vertrugen sich miteinander und lebten harmlos, in Freiheit und Frieden; sie ließen sich an dem genügen, was sie hatten, und hegten keinerlei ehrgeizige Wünsche. Was die Katze anbelangt, so war sie an einem Winterabend vor vier oder fünf Jahren von Walter mit nach Hause gebracht worden; das putzige, kleine Ding hatte gottverlassen in einem kalten Kellerloch gesessen und jammervoll miaut, worauf er sich seiner erbarmte. Gertrud zog das zierliche Geschöpf auf, und man muß sagen, ihre erzieherische Kunst errang seltene Triumphe. Niemals hat es eine Katze gegeben wie die Rombergsche. Alle mit Recht gefürchteten Eigenschaften der Katzennatur waren diesem wunderbaren Tiere fremd, und in den guten excellierte es. Gerade herausgesagt, es war ein Genie. Wenn Kinder kamen – und die kleinen Mädchen kamen oft zu ihrer vergötterten Lehrerin, unter den phantastischsten Vorwänden – dann ließ sich Muschelschwanz – ich kann's nicht ändern, die Katze hieß so, und das »u« in der ersten Silbe wurde gedehnt ausgesprochen – dann ließ sich Muschelschwanz stundenlang wie eine Nudel durchs Zimmer wälzen, ließ sich wie einen Ball in die Höhe werfen und wieder auffangen, selbst vor einen Puppenwagen konnte man sie spannen, ungelogen. Oder als Puppe herrlich ankleiden und danach an den Pfoten aufrecht spazieren führen. Ihre großen, gelben Augen rollten dann vor Vergnügen, und sie knurrte, als könnte sie gar nicht genug kriegen. Mit dem Kanarienvogelweibchen stand sie sozusagen auf dem Duzfuße. Niemals machte sie sich den Spaß, die fidele Witwe zu haschen, und niemals beobachtete sie raublustig ihre Bewegungen. Überhaupt schien sie ihre Krallen nur zu besitzen, um damit die Thür zu kratzen, wenn sie von einem längeren Ausflug heimkehrte und Einlaß heischte. Mittags hockten sie beide, Katze und Vogel, gierig lauernd neben Gertruds Stuhl und warteten, bis ihnen das Mädchen ein paar Stücke Kartoffel oder dergleichen zuwarf. Die Katze nahm dann den Bissen auf und verschlang ihn; was sie von ihm versehentlich fallen ließ, genoß der Kanarienvogel. Es war ein sehr gemütliches Verhältnis zwischen ihnen, wirklich; sie schienen aus dem wegen seiner Verträglichkeit altberühmten Geschlecht der Bremer Stadtmusikanten. –

»Du mußt doch jetzt ein schönes Stück Geld verdienen,« sagte Walter bewundernd, denn er hatte vorhin, als ich meine Schulden bei ihm bezahlte, Hundertmarkscheine in meiner Börse gesehen. »Herrgott, ich bin nur neugierig, ob es mir noch einmal gelingen wird, auch so viel zusammenzukriegen, daß ich –«

»Daß du heiraten kannst?«

Er errötete über und über. »Ach, daran ist ja natürlich noch gar nicht zu denken. Zwar, auf nächsten Ostern oder spätestens Johannis ist mir eine feste Anstellung versprochen. Wenn ich so vielleicht zwölfhundert Mark bekomme und arbeite noch fleißig nebenbei, daß es zweitausend im Jahre werden, damit ließe sich schon etwas anfangen. Ich helfe jetzt in so 'ner kleinen Redaktion, schreibe Philologie und Naturwissenschaften, auch Musikkritik –«

»Du?«

»Na, meinst du, ich wär' so 'n Esel, daß ich das nicht einmal verstünde? Na, und siehst du, die Redaktion bringt auch fünfzig Mark jeden Monat. Hm. Ich muß immer schon an ein eignes Heim denken; Trude verheiratet sich doch 'mal Hals über Kopf.«

»Glaub' doch den Unsinn nicht!« verteidigte sich Gertrud, auf ihre Häkelarbeit gebeugt.

»Ich sage dir, sie kann heiraten, wann sie nur will – vorgestern hat ihr wieder ein Kollege 'nen Antrag gemacht.«

»Ich heirate überhaupt nicht.«

»Ach, lächerlich. Dabei ist der Wendtland wirklich ein sehr anständiger, guter und kluger Mensch, und ich weiß, daß er sie sehr lieb hat. Michaelis ist er Ordinarius in der Unter-Tertia geworden – du mußt ihn nur kennen lernen, Max. Famoser Historiker. Reiflich überlegen solltest du dir's doch noch, Trude, ehe du ihm ein für allemal einen Korb giebst.«

Gertrud stand ganz verlegen auf und begann das Kaffeegeschirr zusammenzuräumen.

»Er quält sich meinetwegen, weil er selbst so viel Heiratsgedanken im Kopfe hat,« sagte sie, in der Absicht, das Gespräch auf andere Dinge zu lenken. »Ahnst du überhaupt, Max, was für hohen Besuch wir noch erwarten? Fräulein Hilde Jonas wollte heut' nachmittag kommen; sie hat mir's gestern fest versprochen.«

»Wissen denn die Alten noch immer nichts?« fragte ich den Freund.

»Keine Silbe!« fuhr Walter erschreckt empor und bemühte sich dann, seinen struppigen Schnurrbart mit beiden Händen aufzuzwirbeln. »Ich weiß wahrhaftig nicht, wie's enden soll!« setzte er bekümmert hinzu. »Ich trau' mich schon gar nicht mehr, den beiden alten Leuten unter die Augen zu treten. Was müssen die bloß von mir denken, wenn's doch einmal an den Tag kommt!«

»Einfaltspinsel!« sagte ich ärgerlich. »Wenn man verliebt ist und solche moralischen Bedenken hat, dann thäte man besser, sich auf der Stelle in ein Kloster oder ein anderes Hotel mit guter Küche zurückzuziehen. Du hast das Mädchen gern, und sie verdient's, denn sie ist bildsauber; dir wird eine Romantik geboten, wonach sich jeder, der ein bischen Dichter ist, mit allen Fasern seines Herzens sehnt, und du graulst dich davor, der Alten wegen. Red' du einmal, Trudchen, ist er nicht ein unbeschreiblich großer Tropf?«

Sie hob die schönen, blauen Augen zu mir auf. »Ich habe schon lange die Empfindung gehabt wie er. Es ist nicht recht, was wir thun.«

»So?« wandte ich spöttisch ein. »Nun möcht' ich dich sehen, wenn du endlich einmal einen braven Mann lieb hast – ob du dich durch irgend ein ethisches Bedenken davon abhalten lassen würdest, ihn zu sehen! Ob du nicht Himmel und Hölle in Bewegung setztest und alles für ihn opfertest! Du, gerade du, wie eiskalt du auch thust. Ich kenne dich besser. Du kämst ja um, wenn du ihm nicht siebenmal in der Woche guten Tag sagen könntest! Geht's eben nicht öffentlich, weil dumme, stolze, eingebildete Protzen Einen daran hindern, so –«

»Ich erwarte so etwas nicht, das weißt du, und mir begegnet so etwas nicht,« unterbrach sie mich hastig.

»Aber wenn nun doch – und das darf niemand verschwören – sag' einmal ganz ehrlich, wie du dann handeln würdest! Nein, du mußt dem Walter nicht das Herz schwer machen, sonst spielt er vor dem Fräulein Hilde eine gar zu trübselige Rolle.«

»Magst du sie sehr leiden?« fragte Gertrud. »Sie ist entzückend, nicht? Solch eine Schönheit! Ach, ich gehe zu gern mit ihr. Alle Welt bewundert sie.«

»Und gerade Walter ist nun der Glückspilz – kaum zu glauben!«

»Sie hält auch von dir sehr viel,« fuhr das Mädchen fort. »Wie ihr Vater. Weißt du, was sie gestern sagte? Aber nimm's nicht übel. Du machst einen ganz unheimlichen Eindruck, ganz wie ein Gespenst, wie Einer, der weder Tod noch Teufel mehr fürchtet. Du wärst so anders als wir alle – und das interessiere sie.«

»Natürlich hast du das Fräulein über mein harmloses Menschentum aufgeklärt?«

»Nein, das hab' ich nicht,« erwiderte Gertrud entschlossen. »Denn ich finde, sie hat recht. Vollkommen recht. Ich bemerkte schon lange, wie sehr du dich verändert hast. Wirklich, du gehst umher, dein Gesicht hat einen Ausdruck – nun, als dächtest du immerfort an Dinge, die ganz außerhalb der Welt liegen. Als lebtest du gar nicht mehr unter uns –«

»Geistergeschichten! Laß doch den Kempff in Frieden!« fiel ihr Walter in die Rede. »Der hat jetzt natürlich seine Sorgen und seine Ideen. Sie nimmt dir's so übel, daß du dich immer mehr von uns zurückziehst, Max. Na ja, lieb ist mir's wahrhaftig auch nicht, aber der Beruf geht doch vor, Teufel noch 'mal –«

»Was du da über mich sagst, Gertrud – von wem hast du das?« fragte ich finster. Hier, bei diesen beiden, in diesem Revier glaubte ich sicher zu sein vor dem Dämon, der mich verfolgte, vor den Schwärmen toller Gedanken, die mich umflatterten. In der wohligen Ruhe hier vergaß ich den wüsten Lärm da draußen, und nun störte sie mich auf, sie, die Friedenbringerin. –

»Von wem ich das habe?« wiederholte sie, mich ganz erstaunt anblickend. »Nein, nein – wenn mich Hilde auch zuerst darauf aufmerksam machte – unbewußt hab' ich's schon längst gedacht. Ich fürchte, Max, du überarbeitest dich – und daher kommt das alles!«

Völlig aus der Stimmung gebracht, düster und mißtrauisch blickte ich vor mich nieder. Heller kannte Jonas und hatte ihm in wohlberechneter Absicht eine Schilderung von mir gegeben, die der schwatzhafte Alte zu Hause sofort ausführlich vortrug. Auf dem Umweg über Hilde und Gertrud sollte ich seine Meinung über mich erfahren. Das war fein ersonnen – mußte mir doch so die Vorstellung beigebracht werden, alle meine Bekannten, meine Freunde selbst beargwöhnten mich. Auf diese Weise hoffte er den Widerstrebenden schneller einzuschüchtern und zum Vertrage zu zwingen. Aber er täuschte sich in mir.

»Ich kenne die Quelle, aus der all diese Albernheiten fließen,« sagte ich zornig, mit dem Ausdruck höchster Verachtung. »Ich kenne sie genau. Sei so gut, Gertrud, und gieb dich in deiner Unschuld nicht zur Verbreitung solcher Kindereien her.«

Sie sah mich bekümmert an, erwiderte aber kein Wort.

»Du faßt alles viel zu ernst auf – wir sind ja unter uns Freunden!« entschuldigte Walter gutmütig seine Schwester »Die Mädel reden manches und denken sich absolut nichts dabei. Neider wirst du ja schon 'ne ganze Menge haben und wirst noch mehr kriegen; daran mußt du dich gewöhnen.«

Es war gut, daß in diesem Augenblicke allgemeinen Unbehagens die Glocke draußen hell erklang. Gertrud sprang auf, hastig und mit zuckenden Lippen, gleich als hätte ich sie tief verletzt. Walter blieb bei mir zurück.

»'s ist 'was los mit der Gertrud, schon lange!« flüsterte er mir kopfschüttelnd zu. »Sie grämt sich über irgend etwas, sie ist gar nicht mehr wie 'n junges Mädchen. Den Wendtland, so einen prächtigen Kerl, mag sie nicht – und der wäre wirklich eine passende Partie für sie. Reservelieutenant, hübsches Gehalt, und vornehm, sag' ich dir, in jeder Beziehung. Ich weiß, er hat sie riesig lieb, er schwärmt so sehr von ihr, schon seit Monaten. Ehe – ehe ich soviel an Hilde dachte, kam es mir oft ganz komisch vor; jetzt verstehe ich's freilich. Red' du doch einmal mit ihr; auf mich hört sie nicht mehr. Und es wäre wirklich ein großes Glück für sie. Ich gönn's ihr von Herzen; sie hat bis jetzt vom Leben so gut wie gar nichts gehabt, aber auch rein gar nichts.«

Da trat Hilde Jonas ein, und frischer Duft winterlicher Kälte strömte von ihr aus, drang mit ihr ins Zimmer. Sie hatte den Mantel schon abgelegt; ein elegantes, grünes Kleid umschloß schmiegsam den holden Reiz der schönen Gestalt. Ihr Gesicht war gerötet, und ihr üppig schwarzes Haar schien an der Stirn ein wenig zerzaust, als hätte der Wind trotz des Schleiers mit ihm gespielt. Walter hatte seine ungefüge Brille, die am Bügel des Druckes wegen außerdem noch dicht mit Zwirn umwickelt war, rasch abgelegt und mit einem silbernen Kneifer vertauscht. Im schwarzen Anzug, sorgsam herausgeputzt, sah er nun gar nicht so übel aus. Hilde reichte ihm lächelnd die Hand, die er ehrfurchtsvoll nur leicht berührte, dann wandte sie sich an mich.

Ihre Ankunft stellte die Stimmung wieder her. Nachdem sie eine Weile mit der Katze getändelt hatte, begann sie von häuslichen Leiden und allerlei Vorbereitungen für Weihnachten zu plaudern, sehr amüsant, mit sehr feinem Spott. Wir hörten ihr aufmerksam zu, Walter ganz entzückt, Gertrud übertrieben ernsthaft, während ich als eine Art Gegenspieler ihrem spaßhaften Monologe die Gesprächsform verleihen mußte. Sie richtete die Rede fortgesetzt an mich, und ich ging, so weit ich es vermochte, auf ihren Ton ein. Wäre es mir doch peinlich gewesen, diesem klugen Mädchen als ein Pedant zu erscheinen, der sich immer nur in feierlichen Ernst standesgemäß zu kleiden vermochte. Ich gönnte ihr den billigen Triumph nicht, die Geistreichste in unserm kleinen Kreise zu sein, und ich bestritt ihr den Sieg nach besten Kräften. Um ihr zu imponieren, zögerte ich sogar nicht, allerhand Bosheiten und Pikanterien, die ich gelesen und im Gedächtnis behalten hatte, an geeigneter Stelle einzustreuen, so daß sie Kinder meines Geistes schienen. So tanzte wohl eine gute Stunde lang das Gespräch hin und her, und es schmeichelte mir, zu bemerken, daß Hilde immer wärmer, immer interessierter wurde. Sie lachte häufig über Bemerkungen von mir, die im Grunde recht fad und inhaltslos waren und die Gertrud schweigend vorübergehen ließ. Sie lachte silberhell, und es bereitete mir Vergnügen, ihr Lachen stets von neuem auszulösen; sie wandte sich immer ausschließlicher mir zu. Erst als ihr Geplauder auf die gestrige Theaterpremière kam und sie die Handlung des Stückes mit einer Urteilsschärfe wiedergab, die ganz sicher einem Zeitungsfeuilleton entstammte, drehte sie sich jählings zu Gertrud herum. »Ach du, bitte – sag' uns doch etwas auf!«

Das Mädchen hatte zuletzt scheinbar fast anteillos dagesessen und sich daran genügen lassen, bei den doktrinären Sentenzen, die Walter manchmal ins Gespräch warf, wie beifällig zu nicken. Als ich sie jetzt anblickte, glaubte ich einen leisen Vorwurf, Unzufriedenheit mit mir in ihren Augen zu lesen. Sie war anfänglich entschlossen, Hildens Bitte nicht zu erfüllen; ihr kurzes: »Nein! Ein ander Mal!« hatte einen recht unfreundlichen, fast feindseligen Klang. Ich wußte, daß Gertrud leidenschaftliche Neigung zur Schauspielkunst empfand, daß sie sich an den Dramen der Klassiker berauschte und kein seligeres Vergnügen kannte, als sie im kleinen Kreise, mit ganzer Inbrunst, von der bezwingenden Macht ihrer melodievollen Stimme unterstützt, zum Vortrag zu bringen. Was konnte also diese ihre Weigerung bedeuten? Erst als ich mich ins Mittel legte und beleidigt that, gab sie nach. Aber nun drangen ihr auch die glutenden Jamben Friedrich Schillers, die bei all ihrem verstiegenen Pathos immer noch wie griechisches Feuer in junge Herzen niederfallen, prachtvoll aus der innersten Seele, und nie zuvor hatte ich sie mit so hinreißender Begeisterung sprechen hören. Es war, als ringe sie im Wettkampf um einen Preis, als gebe sie ihr Höchstes und nehme alle Kraft zusammen, den bisherigen Eindruck des Tages zu verwischen.

Nach unserer Gewohnheit hätte sich nun an ihre Darbietung ein weitausgreifendes, litterarisches Gespräch geknüpft, aber Hilde verhinderte das. »Wem so die Macht gegeben ist, mit seiner Kunst alle Herzen in Bann zu schlagen – wie glücklich der doch sein muß!« sagte sie hochaufatmend. »Ich beneide dich, Gertrud. Wäre ich wie du, wäre ich überhaupt irgend etwas – ich ergäbe mich ganz der Kunst.«

»Sie sind etwas,« antwortete ich für Gertrud, die nur leicht die Achseln zuckte. »Und ich glaube, Sie verstehen eine Kunst aus dem Grunde.«

»Gilt das als Rätselfrage?«

»Nein. Ich meine die Kunst, andere glücklich zu machen.«

Das klang wie ein Kompliment, obwohl es keines sein sollte. Ich hatte nur auf Walter anspielen wollen. Statt dessen sah ich, wie Hilde dankbar schelmisch lächelte und von Gertruds blassem Antlitz der sonnenhelle Schimmer wich, der es eben noch so eigenartig verschönt hatte.

»Sollte diese Kunst nicht etwas rein Menschliches und jedem eigen sein, der sich die Mühe giebt, nach ihr zu streben?« fragte sie dann.

»Zum mindesten jedem Mann,« fügte Hilde hinzu.

»Wie meinst du das?«

»Nun, ganz einfach.« Sie besann sich und lächelte wieder. »Es ist doch eine große Zeit, in der wir leben. Wenn man dem politischen Treiben und den andern öffentlichen Interessen auch fern steht, man fühlt doch, daß etwas Bedeutendes wird, daß eine neue Macht heraufzieht. Sehen Sie nur die Arbeiterbewegung. Und nun ist es doch jedem Manne leicht, ich meine, jedem wirklichen Manne, hier ein Führer und Lehrer der Aufstrebenden zu sein, ihres Glückes Baumeister zu werden ... Wie wunderschön denk' ich mir das Gefühl, so mit Einsetzung seiner ganzen Kraft das Glück und den Frieden von Hunderttausenden begründen zu helfen!«

Das alles war weit hergeholt, schien angelesen und klang ein wenig phrasenhaft, aber es machte mir helle Freude, solche Fragen von einem Mädchen gestellt zu hören, von einer Dame, in der ich bis vor kurzem nur eine modisch plappernde Zierpuppe gesehen hatte.

»Wenn es mit der Führerschaft allein gethan wäre, dann fänden sich der Glücklichmacher schon viele!« entgegnete ich ihr. »Aber diese Kunst ist doch bedeutend schwieriger, als Sie annehmen.«

»Wieso? Sind nicht Wege zum Ziel gezeigt worden? Es fehlt doch nur an entschlossenen Männern! O, welch ein Beruf winkt Ihnen und Ihresgleichen da!«

»Sie wollen uns alle zu Sozialreformern machen, Sie sind ganz staatsgefährlich!« scherzte Walter. »Ich habe dem gnädigen Fräulein nämlich Henry George und Bebel geliehen,« fügte er erklärend hinzu.

Hilde zog die Brauen zusammen, als ärgere sie sich über diesen indiskreten Nachsatz, aber Gertrud sprang mit auffälliger Eilfertigkeit dem Bruder bei. »Wie schnell dich doch so ein Buch überzeugt – es hat diesmal kaum vier Tage gedauert, Hilde.«

»O bitte, bitte,« versetzte Fräulein Jonas gereizt. »Ich denke schon lange so. Schon sehr lange. Dazu bedarf es der Bücher nicht – und überhaupt, ein Mädchen, das mit Bücherweisheit paradiert, ist mir widerwärtig.«

Gertrud lächelte sehr fein.

»Aber ich werde dir sagen, wie ich auf den Gedanken kam. Im vorigen Jahre, in dem wunderschönen Herbst, war ich mit Papa, im Harz. Wir wanderten beide sehr viel, du weißt ja, was ich für eine Läuferin bin, und als wir vom Brocken hinuntergingen, wählten wir den Abstieg über Altenau, nach Goslar zu. Es war Mittag geworden, rechter glühheißer Mittag; die Sonne brannte auf die Felsen. Da kletterten wir mühsam eine grüne, schattige Lehne hinauf, am Oberschulenberg, und plötzlich ... ich werde diesen Anblick nie vergessen. Plötzlich tauchte ein Trupp Arbeiter auf, dicht vor uns; sie gingen aber einzeln und kamen aus den Schwefelgruben. Mein Gott, wie sahen die Armen aus! Gesicht und Haare gelb, giftig gelb, schwindsüchtig mager alle; die Backenknochen standen weit hervor, und sie schwankten mehr als sie gingen. Und sie sahen so elend, so zerlumpt aus, über alle Beschreibung elend. Ich empfand ein solches Mitleid mit diesen Leuten ... es war thöricht, gewiß – aber ich setzte mich am Wege hin und weinte.«

Keiner von uns sprach ein Wort, als sie geendet hatte. Ihre einfache Erzählung erschütterte mich mächtig.

»Ich sehe das schreckliche Bild immer vor mir – nachts sogar, bis in den Traum verfolgt es mich,« fuhr sie fort. »Heute aber spreche ich davon, weil ich gestern ganz zufällig in Papas Comptoir den Mann kennen lernte, dem jene Schwefelgruben gehören. Es ist Herr Heller, Ihr Chef, nicht wahr?«

»Herr Heller?«

»Ja. Und da hoffte ich –«

»Was denn, Fräulein Hilde?«

Aber sie verriet ihre Hoffnung nicht. Und in dem allgemeinen Stillschweigen, das wieder eintrat, dachte ich des heiligen Versprechens, das ich mir selbst gegeben hatte, damals, vor wenigen Tagen, als die Tinktur in meine Hände gekommen war. Nicht zu meinem eigenen Besten, nicht damit ich in fauler Üppigkeit schwelgen konnte, hatte Gott mir das Kleinod anvertraut; ich hatte mir geschworen, mit seiner Hilfe das Elend niederzuringen, so viel an mir lag, die Not und den Hunger, die meine Brüder peitschten, wie sie mich gepeitscht hatten, bis aufs Blut. Ein Heiland wollte ich den Mühseligen und Beladenen werden, ein Herzog und Führer der Menschheit; mein Gold sollte das goldne Joch sprengen, unter dem sie dahinsiechte. Diese hier mahnte mich an meine Berufung, meinen Eid. Es überrieselte mich heiß und kalt, wie ich daran dachte, und es war mächtiger als ich, es riß mich hin, ich sprang auf –

»Wenn meine schwache Kraft hinreicht, will ich den Kampf auskämpfen – o gewiß – ich fühle den Geist auch in mir und die Sehnsucht, die Liebe ...« Ihr schönes Gesicht schimmerte wie Marmor, verheißungsvoll, geheimnisvoll, durch die halbe Dämmerung.

Sie reichte mir die Hand, ihre Augen flammten in einem seltsamen Feuer, ein fremdes Lächeln schmückte ihren Mund. Sie sah in dieser Minute wie eine Überirdische, wie die Göttin der Wahrheit aus, groß, anfeuernd, unnennbar beseligend –

»Ich will doch Licht anzünden,« sagte Gertrud mit heiserer Stimme, sich hastig von uns wendend.

Als die Lampe brannte und ich ihr wieder gegenüber saß, schien sie mir bleicher als vorher, ihre Stirn war gefurcht, ihre Lippen hatten sich entfärbt. Und da glaubte ich zu bemerken, daß die Blicke der beiden Mädchen sich kreuzten wie zwei Klingen, daß Gertrud drohend und düster, Hilde mit triumphierendem Lächeln dreinschaute. Ich glaubte das zu bemerken, aber es mag sein, daß die Erregung der Stunde mir ein Trugbild vorgaukelte. Ich glaubte es zu bemerken, und rasende, grenzenlose Eitelkeit packte mich, betäubte mich und machte mich zittern vor süßseliger Lust, unerhörter Wonne.

* * *


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