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Sein wohlbekanntes, schüchternes Klopfen an der Thür rüttelte mich aus all den sonnigen Träumen auf.

Draußen braute der Herbstabend graue Wetterwolken, und verdämmerndes Zwielicht ließ die Umrisse des armseligen Gemaches verschwimmen, darin ich nun schon so viele, viele Monate hindurch rastlos, mit immer wachsendem Eifer dem seltsamen Problem nachgrübelte. Von Tag zu Tag hatte ich gehofft, aus dieser elenden Umgebung emporsteigen zu können, ein Sieger, ein Geistesfürst, vor dem alle Welt huldigend sich beugen würde; aber noch hatte jede Nacht zusammenbrechen sehen, was tagsüber in ehrlicher, angestrengter Arbeit langsam entstanden war. Das Schlußglied der Kette fehlte noch immer. Und trotz alledem verzagte ich nicht. Ich wußte ja, daß jeder Mißerfolg mich dem heißersehnten Ziele näher brachte; immer sah ich den Weg dahin deutlich vor mir, weiß schimmernd, lockend, wie man in finsterer Frühlingsnacht den Waldpfad vor sich sieht. So jung und unbekannt ich war, so bleich und mager mein Gesicht, so abgetragen, ja zerlumpt meine Kleider – ich durfte doch von der Höhe meines Dachstübchens stolz und selbstbewußt auf die da unten hinabschauen. Mochte man immerhin über mich lächeln und den Kopf schütteln über mich; mochte die Wirtin, der ich den Mietzins bereits seit acht Wochen schuldig war und die mich nur deshalb nicht von der Polizei aus dem Hause bringen ließ, weil sie zur Winterszeit doch keinen andern »Zimmerherrn« für die erbärmliche, eiskalte Dachhöhle gefunden hätte, mochte sie immerhin auf der Treppe so hämisch laut über mich zetern, daß ich jedes böse Wort hören mußte – ich ertrug geduldig all diese Quälereien. Der Tag des Ruhmes und der Befreiung rückte heran. »Preisgekrönt! Gekrönt mit dem ersten Preise!« und zweitausendfünfhundert Mark dazu – o ja, der Zauberspruch würde mir alle Thüren öffnen. Ich könnte dann ein gemütliches, warmes Stübchen bewohnen, mich ruhig und sorgenfrei den großen Arbeiten widmen, die ich plante; und die Nachtstunden, die ich jetzt am wurmstichigen Schreibtisch durchwachte, könnte ich mit meinem holdseligen Mädchen verplaudern ... Mit Tilly! ... Natürlich gäb' ich dann die mathematischen Stunden sofort auf, zum Teufel jagte ich die blitzblöden beiden Primaner, deren wissenschaftliche Förderung man mir gegen einen Bettellohn anvertraut hatte und deren Mutter mich immer so ironisch-mitleidig betrachtete, weil ich einen zerrissenen und viel zu weiten Rock trug ... Zum Teufel jagte ich sie alle. Heute freilich brauchte ich diese Menschen noch, ich wäre sonst verhungert; und ich brauchte sie, um wenigstens mit flüchtigen Blicken die goldene Pracht einschlürfen zu können, in der diese beneidenswerten Tölpel lebten. Wenn ich mit meinen beiden Schülern trigonometrische Sätze durchnahm, die sie absolut nicht begriffen und die mir, dem wenig Älteren, so geläufig waren wie meine Muttersprache, dann durchschweifte mein Geist verstohlen die prunkvollen Zimmerreihen und träumte von der goldenen Zukunft ...

Walter klopfte abermals und ich rief ihn herein.

Er und seine Schwester waren außer Tilly die einzigen Menschen, mit denen ich freundschaftlich verkehrte. Es ging ihm besser als mir; er unterrichtete als Schulamtskandidat an dem Gymnasium, das wir gemeinschaftlich besucht hatten, und schriftstellerte nebenbei. Ich muß sagen, daß ich ihn eigentlich verachtete, trotzdem er ein guter, ehrlicher Kerl war und mich aufrichtig liebte; seine bedächtige Art, allerhand kleinen Erwerb zu suchen, sich fügsam der Laune anderer unterzuordnen, des täglichen Brotes halber, verdroß mich und widerte mich an. Solche Arbeit schien mir verloren und wertlos. Walter Romberg glaubte an mich und traute mir Ungeheures zu, ganz wie seine Schwester Gertrud; er bemühte sich für mich, verschaffte mir Unterrichtsstunden, lieh mir auch Geld und mahnte mich nie darum. Unter den Verhältnissen, in denen ich jetzt lebte, war er mir unentbehrlich.

»Noch kein Licht angezündet?« fragte er, sich vorsichtig an den Foliantenhaufen vorbei durchs Zimmer tastend und mir die Hand drückend. »Das ist brav, daß du dich auch 'mal ausruhst.«

»Ich wollte nachher in die Bibliothek. Muß dort arbeiten. – Für heut abend kann ich kein Petroleum kaufen, sonst langt's nicht für morgen.«

»Das ist doch Unsinn, daß du Einem so was nicht sagst,« erwiderte Walter, und ich bemerkte trotz der Dunkelheit im Zimmer, wie seine braunen Augen vorwurfsvoll-zärtlich aufleuchteten. »Du weißt doch recht gut –«

»Gar nichts weiß ich. Ich will dein Geld nicht. Erstens hast du selber so wenig, und zweitens – zweitens dauert's doch nicht lange, dann bin ich aus der ganzen Geschichte heraus. Jawohl. Meine Arbeit ist so gut wie fertig.«

»Du – das hast du schon oft gesagt. Gertrud meint auch, ob es nicht besser sei, wenn du die Arbeit 'mal ein paar Wochen liegen läßt – sie eilt ja nicht so – und statt dessen ... na, sieh 'mal, wir haben nämlich etwas für dich. Es bringt gleich Geld, nicht viel, aber für unsere Verhältnisse ganz schön. Und ich fürchte, wenn du an weiter nichts als an die Preisarbeit denkst –.«

»Das ist ja eben das Elend mit dir!« unterbrach ich ihn, höhnisch auflachend. »Du verstehst ja nicht, was es heißt, wenn ein Mensch sich konzentriert. Du mit deinen tausend Kinkerlitzchen, natürlich, du schnappst hier und da ein paar Pfennige auf, aber wo bleibt dabei das große Werk, das Befriedigende? Nein, ich will lieber darben und frieren, aber dafür etwas schaffen, worauf ich stolz sein kann – dem Gesindel zeigen, was ich vermag, ich, der Doktor Kempff! Das nenn' ich mir eines Mannes und eines Gelehrten würdig. Und nachher, wenn's einschlägt, bringt es auf einmal viel Geld.«

»Wenn's einschlägt,« wiederholte Walter, dann schwieg er.

»Ich bin nun so weit, daß ich morgen finis unter die Arbeit schreiben kann,« fuhr ich mit erhobener Stimme fort. »Ich habe dir schon vor vierzehn Tagen erzählt, daß nur noch ein Buch nötig sei, ein einziges, dann könnt' ich die Beweiskette schließen. Ich meinte Setonius' urkundlich von ihm mit eigener Hand geschriebenes Testamentum ultimum. Na ja, so leicht zu kriegen war das Pergament natürlich nicht; ich weiß bestimmt, es giebt nur noch zwei Exemplare davon. In der Bibliothek hier war's nicht zu haben, und die Antiquare, bei denen ich doch manchen prächtigen Fund gemacht und die mir alle gern einen Gefallen thun, hatten überhaupt keine Ahnung – ganz wie meine gelehrten Herren Kollegen. Keine Ahnung von der Existenz eines solchen Buches – denke nur! Vorigen Montag ging ich nun noch 'mal zum Bibliothekar und trug ihm mein Anliegen vor. Er ließ sich über alle Einzelheiten genau berichten, die Sache interessierte ihn, und nun fanden wir bei der Durchsicht der Kataloge, daß ein Exemplar in der Bibliothek von Catania vorhanden ist. Der Vorsteher bat sofort offiziell um leihweise Überlassung der Handschrift, und vorgestern hat er mir einen Brief aus Catania gezeigt, worin sie die Absendung melden. Das Buch muß jeden Tag eintreffen.«

Walter hatte mit verhaltenem Atem gelauscht. »Und diese Handschrift, meinst du, enthält wirklich den Beweis, daß der große Alchymist kein Betrüger gewesen ist, auch nicht mit fremden Schätzen prunkte, sondern die Tinktur selber herzustellen vermochte? Du, Rudolf, das wäre ja –« Er lachte hell auf vor Freude über mein Glück. »Spätere Veröffentlichungen deuten das wenigstens an,« erwiderte ich mit scheinbarem Gleichmut. »Und da ich keine Mitbewerber um den Preis habe, sind mir die zweitausendfünfhundert Mark so sicher, als lägen sie schon auf der Bank für mich.«

»Keine Mitbewerber? Woher weißt du das?«

»Weil offenbar noch niemand vor mir da Testamentum verlangt hat, denn sonst würde ich's nicht so leicht bekommen haben. Dies Buch aber bedeutet den Schlüssel zur Festung; wer ihn nicht besitzt, irrt rat- und hoffnungslos umher. Nun ist es indes auch keineswegs so einfach, überhaupt Kunde von dem Vorhandensein dieser Schrift Setons zu erlangen, der Bibliothekar hat mir hoch und heilig Stillschweigen gelobt und darum –«

»Ich begreife.«

»Siehst du nun, wie sich schließlich unaufhörliches, gewissenhaftes, hartes Ringen um eine Erkenntnis belohnt? Nun meistere ich dies Gebiet, kenne keinen Nebenbuhler, nun werd' ich mit einem Schlag berühmt unter den Menschen, an deren Achtung mir gelegen ist, unter den Mitstrebenden! Und die Leidensjahre sind vorbei, und ich kann endlich emporsteigen, o mein Gott! Endlich, Walter, darf ich zeigen, was in mir schlummerte – ach, nicht schlummerte, was wachte und kämpfte und nur nicht zum Licht dringen konnte, weil ich bis an den Hals in der schmutzigen Pfütze der Armut stand! Ach Walter – wenn das meine Mutter noch erlebt hätte – diesen ersten Triumph!« Die Erinnerung überwältigte mich, und ich sah mich wieder am Sterbebette der teuren, alten Frau, die in den Tod gegangen war für mich, rüstig gearbeitet hatte bis in die sinkende Nacht hinein, damit ich meine Studien beenden konnte ... Ich war in all dem Jammer der letzten Jahre hart geworden, gefühllos und obendrein stolz darauf; aber in dieser süßseligen Stunde, die mir den Siegerkranz aufs Haupt drückte, blieb ich nicht mehr Herr meiner selbst. Und pfeilschnell zog vorüber, was ich seither an Erniedrigung und Entbehrung und Lieblosigkeit ausgekostet; die Tage stiegen wieder auf, da ich verzweifelt den Kampf aufgegeben und den Tod herbeigesehnt hatte, die langen, grauen Tage voll Hunger und Krankheit. Und ich schluchzte vor nervöser Wonne ...

Dann saßen wir uns beide lange gegenüber, und keiner sprach ein Wort. Es wurde dunkel und dunkler im Gemache. Der Regen schlug eintönig an die trüben Scheiben, und man hörte den Schornstein unterm Druck des Sturmes knistern. Mir klang das alles wie lustige Jubelchöre, wie eine unendliche Krönungsmelodie.

»Walter,« begann ich wieder, »ich bin so froh ... ich ... ich trag's nicht allein. Tilly muß es wissen. Willst du mir nicht noch 'mal ein paar Mark lassen – für heute abend ...«

»Ich glaubte, du würdest mit mir zu Gertrud kommen – sie trug mir auf, dich darum zu bitten – es ist ein kleines Abendbrot, und wir haben lange nicht mehr so zu dreien bei einander gesessen!« sagte er traurig, griff aber in die Tasche und gab mir das Geld.

»Vielleicht treff' ich Tilly nicht – dann komm' ich zu euch« Es war wohl nicht recht von mir, ihm mit diesen Worten, ohne daß ich's eigentlich beabsichtigte, meine Geringschätzung zu erkennen zu geben. Aber er selbst hatte mich daran gewöhnt, schon allein in dem Umstand, daß ich ihn meiner Freundschaft würdigte, etwas wie einen Gunstbeweis zu erblicken, den er gar nicht verdiente, und so mißtrauisch ich darauf achtete, daß er niemals mein Selbstgefühl verletzte, so wenig Rücksicht nahm ich auf seine Eitelkeit und seine Empfindungen.

Walter schien auch diesmal die Beleidigung überhört zu haben; er räusperte sich nur und sagte: »Wir hatten uns beide so sehr darauf gefreut – es wird Gertrud recht leid thun.« Ehe ich ihn noch mit einer freundlichen Wendung ganz versöhnen konnte, klopfte es, und der Briefträger trat ein.

»Na, Sie haben's finster hier,« meinte er. »Zehn Pfennig, bitte.«

Mit einer Erregtheit, die mich heftig zittern machte und mir das Blut heiß zu Kopfe trieb, griff ich nach dem Briefe. »Von der Bibliothek!« schrie ich Walter zu und riß den Umschlag auf. Er entzündete bedächtig ein Streichhölzchen und leuchtete mir, während ich den Inhalt des kurzen Schreibens gierig verschlang. »Die Handschrift ist da! Hurra Viktoria! Wir haben gesiegt! Nun komm!« Eilends faßte ich meinen Hut. Und in übermütiger Fröhlichkeit, Kommerslieder pfeifend, wie berauscht vom Glück, sprang ich die steile Treppe hinunter. »Laß mich nun allein gehen,« empfing ich unten den Freund, den meine Lustigkeit angesteckt hatte und der auf dem letzten Absatz der Stiege einen Juchzer ausstieß, daß die Gasse hallte. »Ich bin ganz außer mir! Morgen mittag komm' ich zu euch. Grüß mir die Gertrud. Adieu, Walter!«

Und nun wanderte ich einsam durch den eiskalten Regen, der wie mit tausend Nadelspitzen prickelte, den Wasserlauf entlang. Die braunen Flammen der Laternen spiegelten sich verzerrt auf der dunklen Flut, daß sie gleich mächtigen Barren roten Goldes glänzten, und die niedrigen, baufälligen Häuser im Nebelkleid schauten fast gespenstisch drein, wie verfallene Laboratorien. So heiß war meine Sehnsucht, das kostbare Manuskript in der Hand zu halten, daß ich ganz vergaß, wie sonst zur Abendsuppe in die Volksküche zu gehen; nur von dem einen Gedanken erfüllt, leise vor mich hinsprechend, hastete ich die holprige Straße hinauf.

Welch ein Held für meine erhitzte Phantasie war dieser Schotte Alexander Setonius, der Gegenstand des Preisausschreibens, der hochberühmte, mittelalterliche Chemiker! Wie hatte ich mich in das Leben des seltsamen Mannes vertieft, der, lügen nicht alle Sachverständigen, haben sich hundert hochachtbare, vornehme Männer, Kaiser, Reichsfürsten und Kardinäle darunter, nicht zu einem ebenso gemeinen wie sinnlosen Betrug der Nachwelt verschworen, thatsächlich im Besitz der großen Kunst gewesen ist, unedle Metalle durch Tingierung mit einem alchymistischen Pulver in Feingold zu verwandeln. Kaiser Rudolf II. nahm 1604 mit seiner Tinktur eine Projektion auf Blei vor, die überraschend gelang; noch hundert Jahre später, anno 1717, ließ Landgraf Ernst Ludwig von Hessen aus dem Gold, das er mit Setonischer Tinktur hergestellt hatte, mehrere hundert Dukaten prägen. Soviel hatte ich über Seton und seine Mitstreber gelesen, gegrübelt, geschrieben, daß mir seine Schicksale, ich möchte sagen, seine Gedanken, bekannt waren wie meine eigenen, daß ich für alle anderen geistigen Interessen völlig abgestumpft war. Dieser Adept, reicher an Gold als irgend ein Krösus, ja reicher als der Bauch der Erde an Gold – wie glänzend und fesselnd schien gerade mir sein Bild, mir, dem hungrigen Bettler! Bis in den Kerker, wo man ihn mit Schrauben und glühendem Eisen zwingen wollte, sein Geheimnis zu verraten, ein Geheimnis, dessen Wunderkraft er in der Freiheit überall aufs verschwenderischste gezeigt hatte, das er aber unter den grausigsten Foltern standhaft für sich behielt; bis zu seinem Tode, der bald nachher, eine Folge jener unaussprechlich furchtbaren Martern, eintrat, hatte ich ihn treulich begleitet. So nahe ist nie einem Dichter seine Lieblingsgestalt gerückt wie dieser geistesmächtige Schotte mir; mit so verzweifelter Inbrunst hat nie eine Mutter die dürftigen Nachrichten über das Schicksal ihres verschollenen Sohnes gesammelt und in hoffendem Gemüt erwogen, wie ich mit Alexander Setonius that.

Den bündigen und unumstößlich sicheren Beweis hatte die Akademie dafür verlangt, daß dem großen Schotten wirklich die Erfindung des geheimnisvollen, goldschaffenden Elixiers geglückt war; andernfalls sollte der Preis dem zufallen, der das Gegenteil überzeugend nachweisen und feststellen konnte, daß wie andere mehr auch Seton nur durch Erbschaft die Tinktur von einem Gewaltigeren erlangt hatte. Ich war berufen, als sein Anwalt den Prozeß zu seinen Gunsten zu entscheiden.

Hoffnungen flatterten vor mir her, immer sonniger, immer kühner. Nach Erringung des Akademiepreises würde ich meine Studien über die herrliche Kunst vergangener Jahrhunderte keinesfalls aufgeben. Der erste Erfolg sollte mir vielmehr die Mittel zu bedeutenderen, umfassenderen verschaffen, sollte mich anspornen, tiefer noch in die begrabenen Geheimnisse jener wunderbaren Zeit einzudringen. Ich fühlte den Geist der alten Alchymisten in mir. Ich hielt mich nicht für unwürdig, ein Schüler des begnadeten Alexander Seton zu sein. Von frühester Kindheit an hatte es mich mit magischer Gewalt zu phantastischen Experimenten getrieben. So streng mir immer wieder das gefährliche Spiel verboten wurde, so hart mich der Vater deshalb strafte, ich konnte den Drang in mir nicht niederzwingen. Ich mußte ihm folgen. Sobald mir eine freie Stunde winkte, widmete ich sie dem Studium vergilbter, alter chemischer Lehrbücher. In einem versteckten Winkel des Kellers richtete ich mir mein Laboratorium ein und saß dann halbe Tage lang über den Schmelztiegel gebeugt, suchte den spröden Metallen ihre Mysterien zu entlocken. Die bunten Dämpfe, die schwefligen Flammen sprachen zu mir und erzählten mir Märchen von sinnberückender Schöne. Mehr als einmal schwebte ich in Lebensgefahr, meine Hände waren nie frei von Brandwunden, selbst das Haus hätte ich gelegentlich fast angezündet – aber wenn man mich nicht oben gefangen hielt, ging ich immer von neuem meiner Leidenschaft nach. Ausgebreiteter Tauschhandel, wie ihn Knaben in der Schule gern betreiben, und meine Bereitwilligkeit, minder befähigten, aber an Taschengeld reichen Mitschülern die Arbeiten zu liefern, verschaffte mir stets die bescheidenen Experimentierstoffe, deren ich bedurfte. Dann auf der Hochschule war ich der unermüdlichste Gehilfe unserer Professoren, und die alten Herren, selbst zäh und ausdauernd wie Leder, sahen mich gern als Ersten und Letzten in ihren physikalischen Laboratorien. An alles das dachte ich jetzt mit innigem, reinem Vergnügen.

Die Wissenschaft, Gold auf chemischem Wege herzustellen, hat bestanden, wenn sie auch aus naheliegenden Gründen immer das Geheimnis einiger weniger blieb. Daran zweifelt niemand von den Forschern, die das überaus reiche Material wirklich studierten und sich nicht mit dem billigen Kopfschütteln oberflächlicher Aufklärung begnügten. Zwar behauptet die heutige Chemie die Unteilbarkeit aller Metalle, nennt sie chemisch einfache Körper – wie aber, wenn sie irrte? Wir stehen noch lange nicht am Ziele aller Erkenntnis.

Der fortschreitenden Wissenschaft gelingt es fast Schlag auf Schlag, ehemalige, sogenannte Elemente in ihre Bestandteile aufzulösen. Erst vor kurzem wieder vermochte ein Pariser Chemiker nachzuweisen, daß auch Jod kein elementarer Körper, sondern ein Kohlenderivat ist. Und noch hat niemand mit unumstößlicher Sicherheit darthun können, daß das Gold in Wahrheit ein Element ist, und niemand hat zwingend die Unmöglichkeit der Aussicht erwiesen, durch noch unbekannte, chemische Prozesse Gold aus Stoffen gewinnen zu können, die wir heute für höchst wertlos halten. Folglich ist der alchymistische Gedanke noch unwiderlegt. Und so geistvolle, hochstehende Männer wie Javary und Baudrimont verzagten selbst in unserm Jahrhundert nicht daran, ein in den Wirren des späteren Mittelalters verloren gegangenes Kleinod wieder aufzufinden.

Wenn ich nun der vom Schicksal Auserkorene wäre?

Die Vorstellung beschäftigte mich heute nicht zum erstenmale. Wie wenige andere war ich in die Geschichte der Alchymie eingeweiht. Ich besaß die Werke ihrer bedeutenden Geister, zum größten Teil in selbst angefertigten, gewissenhaften Abschriften, und kein Hunger, keine Not keine Macht der Erde hätte mich je bewegen können, diesen Schatz wieder aufzugeben. Ich stand auf den Schultern der Alten, und die neuere Chemie gewährte mir eine Unzahl glänzender Hilfsmittel, von denen sie nichts gewußt hatten. Ich brauchte nicht wie sie vorzugehen, sprungweise, unvermittelt, auf reine Zufallsfunde hoffend; Schritt für Schritt konnte ich die Schwierigkeiten überwinden, in alle Abgründe mit meiner Fackel leuchten, manches allgemein zugängige, schöne Experiment von Fachgenossen verwerten und mich sorgsam davor in acht nehmen, auch nur ein einziges Zwischenglied zu übergehen. Langsam, auf unbedingt sicherer Grundlage, rechnend und experimentierend, würde ich endlich das Ziel erreichen oder ihm doch so nahe kommen, wie es menschlichem Geiste vergönnt ist.

Fernblicke ohnegleichen, voll von wundersamem Glanz und hinreißender Poesie, öffneten sich plötzlich vor mir. Lächelnd glitt mein Blick an den armseligen Lumpen hinunter, die ich auf dem Leibe trug; lächelnd dachte ich daran, welche eingefallenen Wangen mir noch heute mein zersprungener Spiegel gezeigt hatte; lächelnd dachte ich an die Geliebte. Was würde Tilly für große Augen machen – größere noch, als sie ohnedies schon hatte, die Süße, Holde! ... Ich schritt rüstig fürbaß, und da stand ich schon vor den prunkvoll erleuchteten Schaufenstern des üppigen Modebazars, drängte mich durch die trotz des Regens versammelte, neugierige Weibermenge, und konnte es nicht unterlassen, auch meinerseits ein Paar Blicke auf die hier ausgestellte Pracht zu werfen. Wie bald vielleicht würde ein Wink von mir genügen, und alles das wäre mein – wäre ihr Eigentum! –

In diesem Moment verspürte ich einen derben Stoß an der Schulter, der mich aus all den farbigen Träumereien jählings weckte. Ein eleganter, junger Herr, den seine Dame ganz in Anspruch nahm, hatte so wenig wie ich acht auf seine Nachbarn gegeben und war auf mich losgerannt; er lüftete jetzt oberflächlich den Cylinder und lächelte: »Verzeihen Sie, aber –.« Dann war das Paar schon wieder hinter Regenschirmen und flatternden Mänteln verschwunden. Ich grübelte eine Weile vergebens darüber nach, wo ich dies Gesicht schon gesehen hatte – dies unsympathische Gesicht mit der seltsam tiefen Furche zwischen den dichten Augenbrauen. Wie ein Gezeichneter sah dieser Mensch aus. Und dennoch war es mir, als zöge mich etwas Unfaßbares, Fremdes zu ihm hin.

Ich kämpfte mit der Versuchung, ihm zu folgen, besann mich aber sogleich auf meine wichtigere Mission und eilte zur Bücherei hinüber.

Der große Lesesaal war weniger besucht als sonst; das Unwetter draußen hielt manchen daheim. Fast feierliche Stille lag im Raume, und mir, dem Erwartungsfrohen, ward recht sonntäglich zu Mute – gleich als ginge ich wieder zum lang gemiedenen Gottesdienst. Ich zögerte ein paar Sekunden, ehe ich an die Bücherausgabe herantrat; ich fühlte, wie mir die Knie bebten, wie eine süße, zitternde Müdigkeit mich überkam, jetzt, kurz vor der Entscheidung.

Und nun hielt ich das kostbare, einzige Pergament in der Hand.

Ich sog verzückt seinen modrigen Duft ein, ich streichelte es heimlich und suchte mir das stillste Plätzchen in dem großen Saal aus, um mich ungestört meines Schatzes freuen zu können. Und dann, mit glühenden Wangen vertiefte ich mich in seinen Inhalt. Alles um mich her versank. Die Handschrift war nicht leicht zu entziffern, und die übermäßig blumenreiche Schreibweise des Verfassers erhöhte die Schwierigkeiten noch. Aber sobald ich den Sinn ihrer ersten Zeilen enträtselt hatte, wußte ich, daß mein Traum in Erfüllung gegangen, daß hier der letzte Beweis gefunden war. Ungestüm, gierig, die Sätze mehr erratend als lesend, trunken vor Siegesfreude, drang ich vor; jede neue Wendung bestätigte mir daß meine Hypothesen bis auf den kleinsten Buchstaben der Wirklichkeit entsprachen, daß ich mit einem mir nun selber unheimlichen Scharfsinn Alexander Setons Lebensbahn und Gedankengänge erforscht hatte, und da ...

Da fehlten die entscheidenden, die vier letzten Seiten ...

Ich barg den Kopf in beide Hände. Ich war verloren. Eine Sekunde hatte die mühselige Arbeit so langer, langer Monate zerstört; ein Hagelschlag war niedergegangen und hatte die grünende Saat bis auf den letzten Halm zerschmettert. Unfähig, einen Gedanken zu fassen, starrte ich geistesabwesend, blöde vor mich hin, lachte und stöhnte laut auf.

Durch ein grimmiges Zischen, das zur Ruhe mahnte, erinnerte mich mein Nachbar daran, wo ich mich befand. Ich sah auf und begegnete seinem mißbilligenden Blick. Wenn irgendwo, so waren in der That in diesen geheiligten Räumen private Sorgen und Ausbrüche ganz individueller Verzweiflung mindestens unangebracht. Für derartige, romantische Lappalien hatte man hier keine Zeit und kein Verständnis, hier, wo jedes der aufgestellten Bücher den Geist objektivster, abgeklärtester Wissenschaft atmete. Mein greiser Nachbar schaute mich daher zum zweitenmale strafend an und sah dann vieldeutig nach den Bücherregalen hinüber, wo Werke pathologischen Inhalts standen. Hierauf vertiefte er sich wieder in seine Algebra.

Es war noch stiller geworden in dem großen Saale als vorher. Die Lampen brannten noch alle, aber die Mehrzahl der Besucher hatte sich schon entfernt. Die Uhr zeigte dreiviertel auf neun, und die Diener räumten bereits die verlassenen Plätze auf, rückten, ein deutlicher Wink für uns Allzufleißige, Stühle und Tintenfässer geräuschvoll zurecht. Ich achtete ihrer nicht, in dumpfes, gedankenloses Brüten verloren. Fast instinktiv blieb mein Blick auf dem Nachbar haften, der noch immer mit regem Eifer seine Folianten durchblätterte, dann und wann Notizen machte und dazwischen auf große Bogen verstreute Berechnungen ausführte.

Ich sah den sonderbaren Alten heut zum erstenmale. Wofür ich sonst nicht den geringsten Sinn besaß für das Äußere meiner Mitmenschen, jetzt, in meinem tiefsten Elend und diesem Gelehrten gegenüber interessierte es mich plötzlich aufs höchste. Ein Raubvogelgesicht, scharf geschnittenes Profil mit mächtig vorspringender Nase und funkelnden, fast brauenlosen Augen, Geier in öder Felsschlucht; die Stirn gewaltig hoch und breit gewölbt, von spärlichem, rotem Haar gekrönt; spärlicher, roter Bart am Kinn. Besonders verschönt ward das unheimliche Gesicht keineswegs durch einen quittengelben, mumienhaften Teint. Es zuckte und leuchtete immerfort nervös in den runzligen Zügen, und der ungeheuer große Kopf saß auf einem so schwächlichen, dünnen Leibe, daß man glauben konnte, der Greis sei aus dem Rahmen eines jener Witzblätter herausgesprungen, die ihren politischen Figuren Häupter in Lebensgröße und Puppenleiber geben. Hätten nicht die magern Händchen aus den Ärmeln hervorgeguckt, ich würde geglaubt haben, der Rock des Greises umschließe nur seine unsterbliche Seele ...

»Es wird geschlossen!« klang der Ruf des Aufsichtsbeamten.

Ich erhob mich schwerfällig, gebrochen, hoffnungslos, nahm meine Mappe unter den Arm, gab die Handschrift zurück und ging. Wie ich die Treppe hinunterstieg, überkam es mich mit unbändiger Gewalt; ich dachte an meine verstorbenen Eltern, dachte daran, daß die Wasser der Spree kalt seien zur Winterszeit und daß ich nun sterben müßte, so jung, so jung. Es war schwächlich und unmännlich, gewiß; aber von Hunger und Elend entkräftet, unfähig, den jähen Absturz von der lichten Höhe stolzer Hoffnungen in die dunkle Tiefe zu ertragen, war ich nicht mehr Herr meiner selbst; so stellte ich mich in einen Winkel und weinte. O, mein Geist strebte hoch hinauf in die Bläue, wie nur je eines Menschen Geist, und seiner Schwingen Flugkraft war nicht gering, ich wußte es wohl, und Erobererblut gährte in meinen Adern. Aber der Hunger, der Hunger ... Und die Lumpen auf dem Leibe ... der schäbige Rock ... Und meine arme Mutter, wenn sie mich noch sehen könnte ... Ich weinte.

»Sie benehmen sich wirklich sehr unpassend,« sagte in diesem Augenblicke der alte Herr zu mir. »Entweder man studiert, oder man langweilt und stört seine Nebenmenschen. Sie haben mich oben durch Ihr Gestöhn vollkommen aus dem Konzept gebracht. Ich war nahe daran, die Möglichkeit einer Perfektionierung von mit Quecksilber behandeltem Blei in Gold mathematisch zu beweisen, als –«

Sprang ich nicht wie ein Irrsinniger auf ihn los, als er diese Worte sprach, oder starrte ich ihn unbeweglich, sinnlos an, als sähe ich eine Erscheinung? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß ich neben ihm herlief ... wie Wagner neben Faust ... nein, wie der Scholar, daß ich lauschte, lauschte, lauschte, zitternd vor Erregung und phantastischer, toller Gier. Der Regen rauschte stärker noch vom Himmel herab, als da ich gekommen war; die Straßen und Fahrdämme schienen von Irrwischen übersäte, dunkle Sümpfe und waren fast menschenleer. Uns kümmerte das nicht. Schnellen Schrittes strebten wir vorwärts – ich folgte dem Führer blindlings, durch düstere Stadtbahnviadukte, über häßliche, mit armseligem Baumschlag bestandene Plätze, durch unwohnliche, kahle Straßen voll hoher, grauer Mietskasernen, durch schmale, schmutzige Gassen, wie man sie im alten Osten Berlins hier und da noch findet ... Der Regen rann und durchnäßte mich bis auf die Haut, ich spürte es nicht; der scharfe Wind suchte mir den Hut vom Kopfe zu reißen, ich drückte ihn tiefer in die Stirn und verschlang dann wieder die köstlichen Reden des andern, dies Evangelium meinem Elend.

Einmal bemerkte ich, daß hinter uns her Schritte klangen. Ich blickte mich halb unbewußt scheu um – es folgte uns jemand. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ein seltsames Grauen durchfröstelte mich – und dann brannte mein Gesicht, nicht vor Furcht, nicht in Argwohn, nein, vor wilder, wollüstiger Hoffnung ...

Jedes Wort, das der Alte sprach, war Sphärenmusik meinen Ohren. Dieser Mann, der Skepsis seines Jahrhunderts voll, ein kalter Mathematiker, angethan mit der glitzernden Rüstung universellen Wissens, glaubte unerschütterlich an die Wahrheit alchymistischer Kunst. Längst hatte er meine intime Beschäftigung mit Alexander Setonius bemerkt und sich dessen gefreut.

»Daß plumpe Betrügereien gerade in unserer Wissenschaft vorgekommen sind, daß Taschenspielern und unreifen Gecken danach gelüstet, im Rufe übernatürlicher Kräfte zu stehen – wer wollte es leugnen? Hundert Beweise zeugen dafür. Aber nicht minder zeugen hundert Beweise dafür, daß es Leute gegeben hat, die sich auf die hohe Kunst verstanden ...«

Sobald ich zur Besinnung gekommen war, opponierte ich schüchtern, in der Erwartung, meinen Begleiter zu weiteren Auslassungen fortzureißen. Ich warf ihm all die aufklärerischen Einwände entgegen, womit moderne Naturwissenschaftler hochmütig unsere ernste Sache abthun zu können glauben, ohne doch zu bedenken, daß unsere Enkel die heutige Chemie vielleicht mit größerem Recht für »einen einzigen, gewaltigen Irrtum« erklären werden, als wir es der mittelalterlichen gegenüber thun dürfen.

Der Alte lächelte bedeutsam.

»Die meisten Wissenschaften sind schon frühzeitig zu einer gewissen Vollendung und Reife gekommen; ich erinnere Sie an die Pythagoras, die Aristoteles, Archimedes und Erathostenes; nur die Chemie beginnt immer von neuem ihren Siegeslauf. Wie oft ist sie in den Himmel erhoben, wie oft als Teufelswerk verabscheut worden; in einem Jahrhundert beschäftigten sich Kaiser und Päpste mit ihr, im andern wanderten ihre Jünger auf den Scheiterhaufen. Das hat darin seinen Grund: sie versucht das Unmögliche möglich zu machen; sie reizt und verblüfft wie keine zweite Wissenschaft. Es ist die größte Sünde wider den heiligen Geist der Chemie, wenn ihre Jünger von heut die Ausführung des alchymistischen Gedankens unmöglich nennen. Ein großer englischer Mechaniker bewies glänzend die Unmöglichkeit, mit Dampfschiffen von England nach Amerika zu fahren; bald darauf erschien das erste Schiff, das diese Aufgabe löste. Ein hervorragender Naturforscher bewies klipp und klar die Unmöglichkeit, daß an der Stelle der Asteroiden, deren fünfte die Asträa ist, ein Planet existieren könnte, der die beobachtete Lücke ausfülle; in der Neujahrsnacht desselben Jahres entdeckte Piazzi dort die Ceres.«

Meine Blicke hingen an seinem Gesicht und mühten sich, seine verborgensten Gedanken zu erraten.

»Die Verwandlungsfähigkeit eines Metalles in ein anderes bestreiten zu wollen, um dadurch der Alchymie den Boden zu entziehen, ist das nicht eine Albernheit?« sagte er nach einer längeren Pause. »Sind die Metalle nicht eine Klasse von Körpern wie andere auch, und gerade bei ihnen sollte es nicht möglich sein, eine Art in die andere umzuändern? Kann man den süßesten Körper, Zucker, nicht in brennende Säuren verwandeln, den durchsichtigsten Körper, den Diamant, nicht in den undurchsichtigsten, die Kohle? Stellt man aus schmutzigem Theer nicht wunderbare, glühende Farben, aus häßlichem Unrat nicht berauschende Wohlgerüche her; zieht man neuerdings nicht aus schierem Thon ein Metall, das Aluminium? Ich sollte meinen, dies alles ist tausendmal bewunderungswürdiger, unerklärlicher, war viel weniger zu erwarten als die Verwandlung eines Metalles in ein anderes!«

Ich erkannte die Trugschlüsse wohl, in denen er sich spielerisch gefiel, meinte aber nur: »Die sich Adepten nannten, wurden fast ausnahmslos als ärmliche Betrüger entlarvt.«

»Setzt Sie das in Erstaunen? Männer, welche wirklich die Meisterschaft erlangt haben, hüten sich gewöhnlich mit gutem Grund davor, das zu verraten. Tu sapiens tace, ut vivas in pace! Die mit ihren Wissenschaften renommierten, waren von jeher Charlatane und Stümper. Die Wenigen aber, die was davon erkannt und thöricht genug ihr volles Herz nicht wahrten, hat man eingekerkert, beraubt, gemordet –«

»Wie Seton!«

»Hm – Seton! Übrigens, das Manuskript, in dem Sie heut abend lasen, Hab' ich zu Hause – so viel ich weiß, ist meines das einzig vollständige!«

Ich zwang mein Blut mit Macht zur Ruhe, ich heuchelte in fieberischer Erregung Gelassenheit und fragte scheinbar ganz harmlos: »Wenn Ihre Argumente treffend sind, was kann denn da den Setonius bewogen haben, sein Geheimnis überall zum Besten zu geben, ihn, der doch erwiesenermaßen kein Betrüger war?«

»Eitelkeit, Rechthaberei, der Rausch des Erfolges! Denken wir uns doch in seine Lage! Er wollte gern als der große, wissende Mann gelten, der etwas erreicht hat; es lag ihm an dem Urteil der Welt. Auch heut' noch soll es recht verdienstvolle Gelehrte solcher Art geben, sagte man mir ... In das Kolleg eines Professors, der die Alchymie Lug und Trug nannte, trat Setonius ein, opponierte und bewies dann durch ein unanfechtbares Experiment die Echtheit seiner Kunst. Bürgern, die im Wirtshaus oder in der Apotheke beim Magenbittern das Adeptentum verhöhnten, tingierte er aus Blei Gold und schenkte jedem ein Stück, sie so allesamt überzeugend ... Er war ein Renommist – ich weiß auch, aus welchen seelischen Gründen. Sie irren sich vielleicht in ihm ... Aber ich bin zu Hause. Wenn Sie ein Glas Thee mit mir trinken wollen, junger Freund –«

Mein Gott! Mein Gott! Was ging in meinem Herzen vor, während ich dem Alten folgte!

Wie ich auf dem Treppenabsatz Luft schöpfend stehen blieb, sah ich den Vermummten von vorhin, der uns nachgeschlichen war, am Hause vorüberhuschen.

* * *


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