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Es war wieder Abend geworden, Abend nach einem Tage voll finsterer Gedanken und quälender Sorgen, voll Furcht und mordsüchtigem Haß ...

Die Straße, der Platz, der Fluß schwammen in dem weißblauen Nebeldunst, der aus der Erde aufzuquirlen, vom Himmel niederzusickern schien. Er verzerrte die Umrisse der Häuser und Menschen ins Gespenstische, er hüllte die Giebel und die Fernen ein, als wollte er den Hoffnungen und Wünschen jeden Ausweg in die Weite versperren. Er dampfte um die Lichter der Laternen, daß es schien, als presse er ihren braunrötlichen Glanz auseinander, bis alle Farbe und alle Leuchtkraft verloren gegangen war. Die Strahlen verflackerten schwindsüchtig weiß auf der feuchten Nebelwand, und man konnte glauben, ganz hinten, in Nacht und Dunst, brenne eine große Stadt nieder, und man sähe den Abglanz des vernichtenden Feuers ...

Es huschten Menschen durch den fahlen Qualm, schwer atmend, als dränge sich tückisches Gift in ihre Lungen, und mit weit vorgebeugtem Kopf, müd und traurig, humpelten dann und wann ein Paar magere Droschkenpferde vorüber. Ihr Schnaufen klang wie Klageruf gequälter Kreatur, und wenn sie scheublinzelnd die klugen Augen ein wenig zu den Laternen emporhoben, glaubte ich ein seltsames Licht darin glimmen zu sehen. Ein seltsames Licht. Jenen träumerischen Schimmer, der um Mitleid und Barmherzigkeit, ach nein, um den Tod flehend aus den Augen aller Gemarterten, still Duldenden bricht und der uns zugleich daran mahnt, wie frech wir uns versündigen Tag für Tag gegen die Schwächeren ...

Ich war heute nicht ins Laboratorium gegangen. Ich hatte mich um die zehnte Morgenstunde nach der Bibliothek begeben, um bei meiner Wirtin keinerlei Verdacht zu erwecken; sie wußte, daß ich in der Fabrik Hellers beschäftigt war und hätte aus meinem Zuhausebleiben ganz sicherlich die alleralbernsten Schlüsse gezogen. Seitdem in meinen Taschen Geld klimperte und seitdem ich ihren neugierigen Fragen eine Antwort zu teil werden lassen konnte, die meiner Eitelkeit am meisten schmeichelte, war ich in ihrer Achtung ungemein gestiegen; das »Herr Doktor,« das sie mir früher hartnäckig zu verweigern pflegte, erhielt ich nun in jeder Minute, die sie mir widmete, überschwänglich oft angehängt. Es wäre gewiß ein großer Fehler gewesen, wenn sie schon jetzt durch mein unkluges Betragen von meinem Zerwürfnis mit Heller erfahren hätte, und so thöricht es schien, ich wollte selbst diesem Weibe gegenüber nicht in den Verdacht kommen, ein völlig unbrauchbarer Mensch zu sein, der seine Stellung nirgendwo zu halten und zu festigen verstand. Im Lesesaal der Bibliothek, wo ich hinter mächtigen Folianten, von niemandem beobachtet, stundenlang ungestört vor mich hinbrüten konnte, fühlte ich mich sicher; hier verbrachte ich den Vormittag damit, einen neuen Verteidigungsplan zu ersinnen und mir die Reden auszudenken, die ich Fritz Heller entgegenschleudern wollte, wenn er mich aufsuchen würde. Denn daß er dies wirklich beabsichtigte, um mir vielleicht doch noch das köstliche Geheimnis zu entreißen, daran durfte ich nicht zweifeln. Mein Fernbleiben belehrte ihn darüber, daß ich entschlossen war, die kindischen Quälereien, in denen er sich gefiel, nicht länger zu ertragen und daß ich den angebotenen Kampf aufnahm; er aber war nicht der Mann dazu, nach dem ersten, fehlgeschlagenen Angriff die ersehnte Beute fahren zu lassen. O, ich wußte wohl, wie ich ihm zu begegnen hatte, ich studierte mir hundert Feinheiten ein, durch die ich ihn verwirren und in Schrecken setzen wollte, lauter kluge Schachzüge, Sätze, in denen jedes Wort eine Falle sein sollte. Dort in der Fabrik war er mein Vorgesetzter gewesen, ich hatte tausend Rücksichten nehmen müssen; im eigenen Heim konnte ich mich jeder Rücksicht entschlagen, ihm als Gleichberechtigter entgegentreten.

Nein, ihn fürchtete ich nicht mehr. Ihn nicht. Und um meiner Selbstachtung willen würde ich trotzig, in unbedingter Abwehr verharren. Einen billigen Frieden zu schließen, mit einem ehrlichen Widersacher, wäre ich vollkommen bereit gewesen; aber dies Raubtier kannte keinen Waffenstillstand, hätte in versöhnlicher Rede nichts als feige Schwäche gesehen und dann unersättlich noch weit mehr geheischt, als ich überhaupt zu geben vermochte. Ich konnte sicher sein, daß seine Kundschafter und Horcher sich von heut' an mit verdoppelter Zähigkeit an meine Fersen heften würden; es lag an mir, ihm zu zeigen, daß er nicht darauf rechnen durfte, mich auch nur für die Dauer eines Augenblickes ungerüstet zu sehen.

Er trug keine schärferen Waffen als ich; der Zufall und mein eigener Scharfsinn hatten mich in Stand gesetzt, jeden von ihm geführten Schlag mit verdoppelter Wucht zu erwidern. Nun ich Herr meiner selbst geworden war, nun mich die Erinnerung an die That nicht mehr schreckte und ich nicht mehr bei jedem Schritt, der auf der Treppe dröhnte, das Nahen der Verfolger, der Rächer fürchtete, würde ich kaltblütig genug sein, mir auch diesem Verhaßten gegenüber keine Blöße zu geben. Ohne alle Feindseligkeit, aber auch ohne alle verdächtige, übermäßige Freundlichkeit wollte ich mit ihm verhandeln. Mir zu entreißen, was mein war, was ich zu großen Zwecken verwenden, zum Segen Tausender gestalten wollte – wer hatte die Macht dazu? Doch nicht dieser arme Schächer!

Ihm galt das herrliche Geheimnis nur als ein Mittel, sein Lasterleben zu verlängern; ihm sollte es Gold liefern für wüste Ausschweifungen, die Verluste ersetzen sollte es, die ihm Börsen- und Kartenspiel beigebracht hatten. Auf der Tinktur lastete seit Ewigkeiten ein Fluch; wer immer in ihren Besitz gelangte, ward zum Teufel, zum furchtbaren Verbrecher, und dieser da hätte all seine Vorgänger übertrumpft. In seinen Händen mußte das Kleinod Gift werden, fressendes Gift; Verderben würde von ihm ausgehen, unsägliches Elend würde es über die Menschheit bringen. Nein, lieber sollte mein Juwel gleich dem Nibelungenhort in der Tiefe des Stromes vermodern, ehe dieser blutige, in Selbstsucht erstarrte Räuber sein Eigentümer ward. Nicht umsonst hatte das Schicksal mich zum Hüter des Schatzes berufen; die Zeit war gekommen, wo der Fluch von ihm weichen, wo er in der Hand eines Starken und Wahrhaftigen Glück, reines Glück spenden sollte.

Ich fühlte die Kraft zu dieser Mission in mir. Ich wollte ihr mein Leben weihen, ein Leben voll Arbeit und Uneigennützigkeit, ein mühseliges und darum seliges Leben. Und ich hoffte so auch die geringe Schuld zu sühnen, die mir mein Gewissen noch immer an jener That zuschrieb. Ich hoffte, daß die Zeit kommen würde, wo ich mit Stolz und Genugthuung auf sie blicken könnte, trotz alledem. Die Frucht würde Tag und Stunde der Saat vergessen machen ...

Ich sah von dem Buche auf, in das ich hineingestarrt hatte, ohne doch eine Zeile zu lesen; ein hoher Stolz war über mich gekommen, freudige Zuversicht. Wenn ich selbst mich nicht mehr anklagte, wenn der Gott, an den ich glaubte, mich freisprach – was galt mir dann die Welt, und was hatte ich von diesen Zwergen zu fürchten? Erhobenen Hauptes verließ ich den Saal, nicht wie sonst leise auftretend, um niemand zu stören, sondern mit festem Schritte, selbstbewußt, kampfbereit. Zum Nachhausegehen war es noch zu früh, und obgleich ich abends bei Jonas' erwartet wurde und mich auf das Wiedersehen mit dem schönen Mädchen aufrichtig freute, ließ ich mir Zeit und wanderte kreuz und quer durch die Straßen. Die leise wallenden Nebel lösten sich in feinen Sprühregen auf, die Luft war klarer, milder, lustiger denn vorhin, unten auf der von Lichtstreifen überrieselten Flut tanzten die klingenden Tropfen und zogen tausend Kreise um sich. Die schwarzen, dampfenden Wasser schlichen leise ihres Weges, aber man hörte doch, trotz des herüberdringenden Marktlärmes und trotz des schrillen Geläutes der Pferdebahn, was sie miteinander sprachen.

Wie so wenige, so unbegreiflich wenige Tage waren doch vergangen, seit ich in müder Verzweiflung, gleichgültig und kalt, in mein trauriges Schicksal ergeben, hier vorüberschlenderte! An eine unsäglich alberne Hoffnung klammerte sich damals meine letzte Lebenskraft; Hunger und Not hatten mich so heruntergebracht, daß mein Geist, träge und halb verwirrt, sich in thörichte Phantasien einsponn, in unerfüllbare, aber so süßselige Träumereien. Jene Aufgabe, die kein Mensch auf der Erde zu lösen vermochte, weil man sie falsch gestellt hatte – wie lange, lange Wochen hindurch war sie dennoch das Centrum gewesen, um das sich mein Streben und Verlangen ausschließlich drehte! Jetzt sah ich klar, jetzt, wo ich ein anderer geworden war und auf den versonnenen Kranken von damals wie auf einen Fremden herabblickte. Ich hätte jenes sinnlose, nichtsnutzige Treiben nur noch ganz kurze Zeit fortsetzen können, der Selbstmord hätte mir dann die Feder aus der Hand genommen und mich von allem Elend erlöst ...

Daß ich noch atmete und strebte, daß ich emporstieg, ein Gesundeter, Kampffroher, ihm verdankte ich es, der nun längst auf dem stillen, verschneiten Vorstadt-Friedhofe lag.

Wie, wenn diese Lösung Bestimmung war, wenn das Schicksal ihn dazu ausersehen hatte, mir die Wege zu ebnen, mir, dem Jüngeren, Stärkeren? Wiederholt schon war mir der Gedanke gekommen, aber noch nie hatte er mich so erfüllt wie heute. Er berauschte und entzückte mich; er sprach mich ja von jeder Schuld frei. Zu seltsam, zu eigenartig schien alles, was an jenem Tage vor sich gegangen war, als daß ein bloßer, nüchterner Zufall hier die Hand im Spiele gehabt haben konnte. Gerade an jenem Tage mußte meine letzte Hoffnung zusammenbrechen, gerade an jenem Tage Erck meinen Weg kreuzen. Das märchenhafte Kleinod mußte mein Eigentum werden, und für immer mußte sich der Mund dessen schließen, der mit mir von dem Geheimnis wußte. Und wie ich mir, langsam meinen Weg verfolgend, zum zehnten, nein, zum zwanzigsten Male die einzelnen Ereignisse der Nacht vergegenwärtigte, da war mir, als ströme plötzlich eine unendliche Fülle von Licht in mein Herz. Ich durfte nicht mehr daran zweifeln, etwas, das nicht in mir war, ein Größerer, Höherer hatte mich sicher durch all das Grauen geführt. Was ich früher auch unternommen hatte – immer war ich Tags darauf versucht, mich dafür zu ohrfeigen, daß ich regelmäßig wie ein Tölpel die allerdeutlichsten und bequemsten Pfade übersah, solange ich am Scheidewege stand, daß mir ihre Vorzüge immer erst zum Bewußtsein kamen, wenn es zu spät war. Wie ganz anders aber hatte ich in jener Nacht gehandelt! So angestrengt ich auch nachgrübelte, ich konnte mich keines noch so geringfügigen Fehlers zeihen, konnte mir keinen besseren Plan zu der That ausgrübeln, als den ich damals rein instinktiv befolgt hatte. Instinktiv wie eine auf Raub ausschleichende Bestie. Wer hatte mich geführt, wer mich so verwandelt? Und zu welchem Zweck? Mir ward fast unheimlich bei dem Gedanken, und doch überkam mich ein seliges Gefühl der Sicherheit, und doch fühlte ich meinen Stolz und mein Selbstbewußtsein wachsen. Ich mochte thun und lassen, was ich wollte, ich stand unterm Schutze des Schicksals; ich hatte nichts und niemanden zu fürchten, ehe meine Mission beendet war.

O diese Mission, die heilige, gewaltige, mit welcher Kraft, welcher Begeisterung wollte ich sie durchführen! Vergessen wollte ich darüber alles, was mich sonst an das Leben band, zurückdrängen alles, wonach mein Herz sich sonst wohl gesehnt hätte. All diese kleinen Interessen und Wünsche mußten jetzt versinken. Ich gehörte nicht mehr mir selbst an. Noch kannte ich den Pfad nicht, der zum Ziele führte, aber ich wußte, daß er mir gezeigt werden würde, sobald die rechte Stunde gekommen war. –

Ich war, allmählich in die schnelle Gangart verfallend, die ich mir auf meinen einsamen Wanderungen angewöhnt hatte, an langen, stillen Häuserreihen vorbei in eine mir völlig fremde Gegend gelangt, ein Stadtteil von sehr vornehmem Charakter. Als die baumbestandene Straße sich weit aus buchtete, um einer Kirche Raum zu gewähren, und als gleichzeitig die Turmuhr sechs schlug, dachte ich meines der Familie Jonas gegebenen Versprechens. Aber mir war, als dürfte ich diese Stunde nicht entweihen, als stünde es mir und meinen Gedanken besser an, allein zu bleiben. Und obgleich ich bemerkte, daß ich, ohne es zu wissen, in den abgeschlossenen Bezirk des Westens geraten, also der Jonas'schen Wohnung sehr nahe war, und obgleich ich eine geheime Sehnsucht nach der schönen Schwester meiner Schüler empfand, bezwang ich mich und blieb fest. Ich ging ihrem Hause vorüber. Durch die Spalte der Jalousie rieselte ein schmaler Lichtstreif, der mich, ich weiß nicht weshalb, an das helle Lachen Hilde's, an den Blick ihrer großen, braunen Augen erinnerte. Ich starrte eine Weile zu dem Fenster hinauf und versuchte mir einzureden, daß es sehr unhöflich wäre, so ganz unentschuldigt auszubleiben. Und ich hätte das Gespräch von neulich mit Hilde so gern fortgesetzt ...

»Unsinn!« sagte ich laut. »Mach, daß du heim kommst!« Sehr langsam kehrte ich um, ging sehr langsam die Straße hinunter – es war ja möglich, daß sie mir entgegenkam und ich meine Entschuldigung gleich bei ihr anbringen konnte. Aber ich sah sie nicht, so eifrig ich auch nach ihr ausspähte. Mit einem Male war die angeregte, gehobene Stimmung verflogen, die mich bisher geleitet hatte, und ohne daß ich es mir eingestehen wollte, fühlte ich mich enttäuscht und gekränkt. Sie war mir gleichgiltig, gewiß, und das im höchsten Grade; aber mußte ich es deshalb wirklich darauf anlegen, ihr als ein ungehobelter Flegel zu erscheinen?

Ich beschäftigte mich auf dem ganzen Wege so ausschließlich mit ihr, daß es mich gar nicht überraschte, als ich zu Hause ein Brieflein von ihr fand. Im Auftrage ihres Vaters bat sie mich, heute keinen Unterricht zu erteilen, sondern ihnen zu Liebe ins Deutsche Theater zu kommen, wo sie für heute abend eine Loge genommen hätten und mich erwarteten. Ich bedachte mich jetzt nicht lange, kleidete mich in nervöser Hast um und fühlte dabei meinen Puls vor Erregung schneller gehen. Als wär' ich ein Backfischlein und sollte heute abend auf den ersten Ball ... Jedenfalls machte ich, trotz der vorgerückten Stunde und trotzdem ich mich fortwährend zur Eile trieb, weit sorgfältiger als sonst Toilette, kaufte unterwegs ein paar modische Handschuhe und eine sehr schöne und teure Kravatte, die ich mir im nächsten Hausflur, so gut es eben gehen wollte, umband, und befestigte ein paar weiße Nelken im Knopfloch. So durfte ich hoffen, keine allzu klägliche Figur neben Hilde zu machen.

Ich kam während der ersten Zwischenpause ins Theater, durch dessen Gänge eine sehr schwatzfrohe Menschenschar strömte. Die Empfindung, daß ich heute nicht zur höchsten Höhe emporklimmen, sondern einen bevorzugten Sitz einnehmen, daß man mich um die auffallende Schönheit an meiner Seite beneiden würde, verlieh diesem Abend einen ganz besonderen Reiz. »Wir glaubten, es würde Ihnen ein kleines Vergnügen machen,« empfing mich Frau Bertha, indem sie mir herablassend die Hand entgegenstreckte. »Herr Jonas geht sonst nicht gern ins Theater, aber Hilde quälte so lange, und da die Kritiken ganz gut waren –«

Der Fabrikant unterbrach sie mit ein paar munteren, sehr herzlich klingenden Worten, die ich aber vor lauter Befangenheit nicht verstand und nur mit einem verlegenen Lächeln erwiderte. Ich drehte den Filzhut zwischen den Händen, sah zu Boden und wagte es kaum, Hilde anzublicken, die in aller Pracht ihrer hinreißenden Schönheit vor mir thronte. Sie erwartete wohl, daß ich mich ihr nähern und neben ihr Platz nehmen würde, sie lächelte mir sehr liebenswürdig und ermunternd zu, aber ich war nicht imstande, einen zusammenhängenden Satz hervorzubringen. Ich stotterte ein paar sehr dumme Redensarten, deren ich mich gleich darauf wütend schämte, und hielt mich, in tötlicher Angst, daß meine Kleidung nicht ganz der Gelegenheit entsprechen möchte, im Dunkel der Logenthür, wo auch Hildens Vater stand. Mit krampfhafter Anstrengung suchte ich den Alten in ein Fachgespräch zu verstricken, redete überlaut, machte ein oder zwei gewaltsame Witze und belachte sie selber. Ich kam mir ungeheuer albern und verächtlich komisch vor; ich konnte nicht die Sekunde erwarten, wo das letzte Glockenzeichen gegeben wurde und alle Gespräche angesichts des auffliegenden Vorhanges verstummten.

Wie eine Offenbarung wirkte dies Mädchen auf mich, in ihrer dank der duftigen, prachtvollen Toilette fast überirdischen Anmut und Holdseligkeit. Es kam mir nicht in den Sinn, sie mit Tilly zu vergleichen; Tilly und ich waren von einem ganz anderen Geschlecht, Tilly liebte und begehrte ich, diese Göttin hier flößte mir nichts als Ehrfurcht und stumme, staunende Bewunderung ein ... Der Raum verdunkelte sich, die Schauspieler begannen zu sprechen, ich spannte meine Aufmerksamkeit an, um mich in den Gang der Handlung hineinzufinden, und zwischendurch dachte ich an Walter Romberg. Den liebte sie? Den? Ach lächerlich! Was an diesem vierschrötigen, struppigen Arbeitsknechte konnte denn dieser Königin auch nur eine Minute lang gefallen? Ich hatte nicht sehr tief in ihre Seele geblickt, ich wußte nicht, ob sie es neulich ernst gemeint hatte mit ihren phantastischen Worten, ob sie nicht uns alle am Narrenseil führte. Aber ich glaubte, daß ein regsamer, nach Außergewöhnlichem strebender Geist in ihr lebte, ein Geist, dem Walter Romberg nun und nimmer zu folgen vermochte. Er war ein braver Bursch, das erkannte niemand williger als ich an; seine guten Eigenschaften, die zwar eben nicht nach meinem Geschmacke waren, sein zäher Fleiß vor allem und seine plumpe Vielseitigkeit würden ihm trefflich durchs Leben helfen, aber zum Romeo dieser Julia schien er mir verloren. Und dennoch ... Ein unbegreifliches Mädchen! Wie ich, den Vorgängen auf der Bühne folgend, doch immer wieder über ihn und Hilde nachdachte, stieg auf einmal, grell beleuchtet, die Szene in Gertruds Zimmer vor mir auf, der Augenblick, wo ich mir geschmeichelt hatte, Mittelpunkt des Interesses beider Mädchen zu sein. Diese Erinnerung gab mir mit einem Schlage meinen Mut zurück, und als die Gardine gefallen war, überwand ich vollends, rasch entschlossen, das thörichte Angstgefühl und trat auf Hilde zu. Nicht lange, und wir saßen in angeregtem Gespräch bei einander. Herr Jonas war ans Büffet gegangen. Frau Bertha beschäftigte sich mit ihrer Bonbonniere und betrachtete die Insassen der gegenüberliegenden Logen. Der Theaterraum war fast leer, Hildes Aufmerksamkeit durch nichts abgelenkt.

Ich vermied es, sie anzusehen, denn ich fürchtete, unsere Blicke könnten sich begegnen, und es war mir entsetzlich unbehaglich zu Mute, sobald ich bemerkte, daß sie mich betrachtete statt des öden Parketts unten. Ich atmete den schwülen Duft ihres seideglänzenden Haares ein, meinte den warmen Hauch ihres Mundes auf meiner Wange zu spüren, wenn sie mit mir sprach, und fühlte dann, daß ich errötete. Aber obwohl mich die mühsam erworbene Ruhe immer wieder zu verlassen drohte, bemühte ich mich doch, geistvoll und unterhaltend zu sein; sie erleichterte mir das nach Kräften, indem sie mir Gelegenheit bot, von meinen Arbeiten, meiner Philosophie, meinen Träumen und Hoffnungen zu sprechen. Indessen empfand ich doch bald, daß ich minder zusammenhängend, minder schwungvoll und überzeugend als sonst sprach.

»Fräulein Hilde,« sagte ich deshalb, mitten in einem Satze jäh abbrechend und sie voll anblickend. »Ich muß Sie um eines fragen. Ich bin so'n ungeschickter Mensch. Nicht wahr – heimlich lachen Sie über mich? Und ich komme Ihnen riesig komisch vor.«

»Sie? Mir?« fragte Hilde und richtete sich auf. Ihre strahlenden, braunen Augen erwiderten fast innig meinen Blick, und ihr Gesicht hatte den Ausdruck höchsten Erstaunens angenommen. Aber nur auf Sekunden. Dann zuckte sie leicht die Achseln. »Auf was für seltsame Ideen Sie doch kommen! Es ist beinahe beleidigend. Wie käme ich denn dazu, Sie so zu kränken?«

Ihre Stimme klang weder erregt noch freundlicher als sonst; die Frage schien ihr von sehr geringer Wichtigkeit. Mir jedoch genügte ihre Antwort. Und in einer Anwandlung fröhlichen Übermutes näherte ich für einen Augenblick meine Hand der ihrigen, die auf dem Sammet der Brüstung ruhte, daß sie sich fast berührten. Hilde saß bewegungslos da, und diesmal errötete ich nicht, und ein Glücksgefühl ohnegleichen durchrauschte mich, glühend, riesenmächtig. Und dieser Moment goß mir Siegfriedskraft in die Adern, mir, dem unbekannten, armen Landstreicher, und meine Muskeln spannten sich, als gälte es jetzt, noch in dieser Stunde, in erbittertem Kampfe den Preis zu gewinnen.

»Denken Sie noch an unser letztes Gespräch?« fragte ich dann.

»Bei Rombergs? O gewiß.« Hilde strich sich über die Stirn. »Sagen Sie mir doch, wie stehen Sie mit Gertrud?«

»Wir sind sehr, sehr gute Freunde. Ich habe sie sehr gern. So ein tüchtiges, gutes Mädchen –«

Hilde lächelte. »So überschwänglich möcht' ich auch hinter meinem Rücken gelobt werden. Aber Trude verdient es auch um Sie. Sie vergöttert Sie.«

»Weil sie mich in einer Weise überschätzt ... Es giebt keine bessere, keine thätigere Freundin.«

»Sie danken's ihr aber herzlich schlecht, daß sie Sie so verwöhnt. Überhaupt, so ein komisches Verhältnis wie zwischen Ihnen beiden ... Ich habe nie geglaubt, daß es wirklich eine reine, stille Freundschaft zwischen einem jungen Mann und einem jungen Mädchen giebt.«

»Und nun glauben Sie es?«

»Auch noch nicht. Von Ihrer Seite, vielleicht. Oder sind Sie doch ein bißchen in unser Trudel verliebt? Ein Wunder wär' es eigentlich nicht.«

Sie sagte das alles in einem Tone, dessen sich junge Frauen zu bedienen pflegen, wenn sie über derlei Dinge sprechen: halb hausmütterlich, halb neugierig. Ich war nahe daran, ihren Verdacht unumwunden mit sehr bündigen Worten zurückzuweisen, besann mich aber rechtzeitig darauf, daß es brutal und häßlich scheinen mußte, wenn ich schon die bloße Idee einer Liebschaft zwischen Gertrud und mir Unsinn nannte.

»Wenn man sich so selten sieht wie wir, dann läßt sich Freundschaft halten, und weiter nichts als Freundschaft,« sagte ich. »Ich wette, Sie sind den Geschwistern in der kurzen Zeit, die Sie mit ihnen verkehren, zehnmal näher getreten als ich, trotz meiner älteren Rechte.«

Hilde wandte mir ihr schönes Angesicht zu und hob den linken Arm ein wenig in die Höhe. »Da, sehen Sie – der Handschuhknopf ist aufgegangen. Wollen Sie so gut sein ...«

»Ja, und was unser Gespräch von neulich anbelangt,« plauderte sie, während ich mich mit dem widerspenstigen Leder abmühte, das prall auf dem weichen Fleische saß, »haben Sie wirklich wieder einmal darüber nachgedacht? Unsereins muß ja seine Ansichten gewöhnlich sehr für sich behalten ... 's ist vielleicht gut, man hat ja doch kein Verständnis dafür. Aber wissen Sie, daß ich eine halbe Sozialistin bin? Sind Sie auch Sozialist? Das ist jeder, den man heute nach seiner Überzeugung fragt. Es scheint die letzte Saisonmode zu sein. Rot kleidet ja die meisten Leute sehr gut.«

»Ich glaube, daß ich kein Sozialist bin,« gab ich ihr zurück. »Ich glaube nicht, daß die Massen berufen sind, sich selbst zu erlösen. Sie hätten's sonst längst gethan. Die Gewalt und die Macht liegen doch in ihrer Hand. Aber sie sind zu stumpf. Wenn nicht ein Großer kommt und sie so lange rüttelt, bis sie nicht wieder einschlafen können; wenn nicht ein starker Mensch für sie denkt und handelt, bleiben sie ewig abhängig und unwissend. Und sie fühlen sich wohl in der Sklaverei, diese geborenen Knechte. Der erdrückenden Mehrzahl von ihnen verlangt ja gar nicht nach einer Besserung der Verhältnisse.«

»Nun,« meinte Hilde, die sehr aufmerksam zuhörte, »dann begreife ich nicht, woher das große Geschrei kommt. Wenn die Leute zufrieden sind –«

»Sie sollen aber nicht zufrieden sein!« ereiferte ich mich. »Diese verdammte Zufriedenheit! Sie sollen wünschen, begehren, dringend verlangen, sollen lernen, die Hände nach allem Kostbaren auszustrecken. Nur dabei entwickeln wir uns weiter. Nur dadurch kommen stolze, schaffensfreudige Menschen auf die Erde, nur dadurch wird der Boden für neue Kulturen geeggt. Schließlich, es ginge ja vielleicht auch ohne den souveränen Pöbel. Ein paar hundert Männer haben das Zeitalter der Renaissance heraufgeführt; das Volk wußte gar nichts davon. Die Reformation hat dann freilich das Volk erzwungen. Nun, es bleibt sich ja im Grunde auch gleich, woher die Ideen kommen und wer ihre Träger sind. Hauptsache, daß sie kommen. Ich weiß nicht, ob das Bild neu ist: aber gerade so wie Ägypten Jahr für Jahr Überschwemmung des Niles braucht, um Frucht zu tragen, gerade so bedarf die Menschheit in genau feststellbaren Zeiträumen der Überschwemmung durch Ideen.«

Hilde nickte mir wie ermutigend zu.

»Solch eine Idee ist der Sozialismus. Ich halte es nicht für richtig, das Ackerland meiner Seele durch Dämme vor ihm zu schützen. Er soll es befruchten, wie er alle anderen Felder ringsum befruchtet. In dem Sinne bin ich freilich Sozialist. Und da ich mich zu der neuen Religion bekenne, halt' ich's für meine Pflicht, sie auch anderen zu predigen.«

Das Mädchen warf einen flüchtigen Blick auf seine Mutter, die träumerisch ins Parkett starrte, und sagte dann, den Fächer auf und nieder bewegend: »Das sind aber selbstsüchtige Motive, die Sie treiben. Mich für mein Teil – mich würde das Mitleid in die Reihen der Leute zwingen.«

»Das Mitleid? Nun ja. Sie sind ein Kind des Glückes, so verhätschelt, so verwöhnt. Sie dürfen sich auch den Luxus des Mitleides erlauben. Mich dünkt indes, Mitleid ist auf die Dauer noch weniger geeignet, jemanden bei der Fahne zu halten, als die Beweggründe, die ich eben auskramte. Der Haß, der Neid, die brennende Sehnsucht, empor zu kommen aus dem Schmutz und der Finsternis, auf sonniger Höhe zu stehen wie Ihr Glücklichen – sehen Sie, das treibt mit scharfem Peitschenhieb!«

»So hör' ich Sie gern, Herr Doktor!« feuerte Hilde mich an, als ich innehielt und schweigend zu Boden blickte. »Wie das klirrt, das Eisen in Ihren Reden! Und ich bin gewiß, Sie halten Wort ...« Sie sah mich nicht an, während sie das sagte, ihre Augen schienen ein Ziel in der Ferne zu suchen, ihre Finger spielten nervös auf der Brüstung, und ein verlorenes Lächeln irrte um ihre Lippen. Wohl länger als fünf Minuten saßen wir so stumm nebeneinander. Und ich dachte über dies seltsame Mädchen nach, das mich um so inniger fesselte, je rätselhafter ihr Wesen mir schien. Einmal zog flüchtig die Erinnerung an Tilly durch mein Herz, aber ich schüttelte sie ab, als wär' es eine Entweihung dieser Stunde. Ja, eine Entweihung. Es war so feierlich still um uns herum, nur aus dem Foyer klang das Rauschen und Brausen zahlloser Stimmen, gleich ferner Meerflut. Es war wie ein Gottesdienst ...

Draußen läutete es, das Publikum strömte in den Raum zurück, auch Herr Jonas fand sich als einer der Letzten wieder ein. Sehr vergnügt schmunzelnd legte er mir, der noch immer im Zauber der vergangenen Minuten versunken saß, die Hand auf die Schulter, schnalzte dann wohlgefällig, als kostete er den dreisternigen Henessy noch einmal: »Na, langweilen Sie sich tüchtig? Werden uns schön dankbar sein für die Überraschung, was? Hätten doch mit heraus kommen sollen – der Cognac war famos! Na, ich wenigstens habe mein Gelübde redlich erfüllt! Zu Ehren der hohen Polizei trinkt man schon einmal 'nen Schnaps mehr als nötig –«

»Zu Ehren der hohen Polizei?« wiederholte ich ganz mechanisch.

»Nun ja! Ich hab' ihr mein Wort gegeben, in Ihrer Gegenwart, Herr Doktor, sobald sie den Mörder kriegt, komme ich ihr einen aufs Spezielle.«

»Den Mörder?«

»Ja doch – wissen Sie denn nicht mehr, den Kerl, der den alten Erck ins Jenseits befördert hat! Sie lesen wohl gar keine Zeitungen? Heut nachmittag haben sie ihn gefaßt.«

»Aber das ist ja unmöglich!« stieß ich, ganz von Sinnen, hervor. »Sie spaßen –«

»Nun seh' mir einer den Schalk an! Sie trauen der Polizei aber auch gar nichts zu, Herr Doktor!«

Eben begann der letzte Akt des Stückes.

* * *


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