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XIII. Beobachtung des Kranken

Wozu die Frage: Befindet er sich besser?

Es gibt kaum eine Frage, die einfältiger ist und allgemeiner gestellt wird, als die: »Befindet er sich besser?« Fragt doch, wenn es euch beliebt, den Arzt, der ihn behandelt. Wen anders würdet ihr fragen, falls ihr eine richtige Antwort auf eure Frage wünschtet? Gewiß nicht den zufälligen Besucher, gewiß nicht die Wärterin, so lange die Wärterin, wie gegenwärtig der Fall, so wenig beobachtet. Ihr braucht Thatsachen, nicht Meinungen, denn wer kann, außer dem Arzt des Kranken und einer wirklich beobachtenden Wärterin, eine beachtenswerte Meinung haben, ob der Patient sich besser oder schlechter befinde?

Die wichtigste praktische Unterweisung, die man den Wärterinnen geben kann, besteht darin, daß man sie lehrt, was sie beobachten müssen, wie sie beobachten müssen, welche Symptome, Besserung, welche wieder das Gegentheil anzeigen, welche von Bedeutung, welche nicht von Bedeutung, welche Beweise von Vernachlässigung sind, und worin die Vernachlässigung besteht. Dies Alles sollte einen Theil, und zwar einen wesentlichen Theil der Unterweisung bilden, deren eine Wärterin bedarf. Wie wenige professionelle oder nicht professionelle Wärterinnen gibt es gegenwärtig, welche wirklich wissen, ob die kranke Person, um die sie sind, sich besser oder schlechter befinde!

Die unbestimmte, lockere Auskunft, die man zur Antwort auf die viel mißbrauchte Frage: »Befindet er sich besser?« erhält, würde komisch klingen, wenn sie anders nicht peinlich wäre. Bei dem gegenwärtigen Stand unserer Krankheitskenntniß wäre die einzige vernünftige Antwort: »Wie kann ich das wissen? Ich kann ja nicht sagen, wie er sich befand, als ich nicht bei ihm war.«

Ich kann zur Probe hier nur wenige der Antworten Es ist viel schwieriger, die Wahrheit zu sagen, als man sich gewöhnlich vorstellt. Es gibt einen einfachen Mangel an Beobachtung, und einen zusammengesetzten. Zusammengesetzt in dem Sinn, daß die Phantasie dabei eine Rolle spielt. Man mag, wo der eine oder andere eintritt, immerhin die Absicht haben, die Wahrheit zu sagen. Die Auskunft, die bei dem erstgenannten Mangel gegeben wird, ist einfach unvollständig; jene, welche dem zusammengesetzten Mangel entspringt, ist viel gefährlicher. Wer den einfachen Mangel an Beobachtung hat, gibt über einen Gegenstand, den er vielleicht Jahre lang vor Augen hatte, eine sehr unvollständige Auskunft, oder sagt, er wisse nichts hierüber. Er hat eben nie beobachtet, und die Leute halten ihn einfach für einen Dummkopf.
Derjenige, der den zusammengesetzten Mangel hat, beobachtet gerade so wenig, aber sogleich mischt sich seine Phantasie ein, und er beschreibt die ganze Sache blos nach seiner Phantasie, wobei er stets vollkommen überzeugt ist, daß er Alles sah und hörte, was er berichtet; oder er wiederholt die ganze Conversation, als wäre sie die Auskunft, die man ihm gegeben, während sie blos das enthält, was er selbst zu einem Andern gesagt hat. Dies kommt am gewöhnlichsten vor. Diese Menschen beobachten nicht einmal, daß sie nicht beobachtet haben, und erwähnen nicht, daß sie Etwas vergessen haben.
Gerichtshöfe scheinen zu glauben, daß Jedermann »die Wahrheit, und Nichts als die Wahrheit sagen kann,« wenn er dies nur will. Es erfordert aber viele, mit Beobachtung und Gedächtniß verbundene Fähigkeiten, um »die ganze Wahrheit« und »Nichts, als die Wahrheit« sagen zu können.
»Ich weiß, ich lüge fürchterlich; aber glauben Sie mir, mein Fräulein, ich finde es nie aus, daß ich gelogen habe, bis man mir es sagt,« – lautete eine Bemerkung, die ein Mensch wirklich machte. Dies ist auch bei mehr Leuten der Fall, als die meisten Leute sich vorstellen.
Zusammentreffende feierliche Behauptungen, die so oft als entscheidender Beweis geführt werden, mögen, wie Jene, welche gewöhnlich mit Menschen von Einbildungskraft, aber ohne alle Beobachtung, verkehren, wohl wissen. Nichts mehr beweisen, als daß eine Person ihre Geschichte sehr oft erzählt hat.
Ich hörte dreizehn Personen übereinstimmend erklären, daß eine vierzehnte, die damals nie ihr Bett verlassen hatte, jeden Morgen um 7 Uhr zu einer entfernten Kapelle gegangen sei.
Ich hörte auch Leute in vollkommen gutem Glauben erklären, daß ein Mann täglich in dem Hause, wo sie wohnten, zu Mittag speiste, während er dies dort nicht ein einziges Mal that; daß eine Person nie das Sakrament nahm, obgleich sie an ihrer Seite wenigstens zweimal bei der Communion gekniet hatten; daß die Küche eines Spitals für die Kranken blos eine Mahlzeit des Tages lieferte, obgleich Jene, die das sagten, durch sechs Wochen gesehen hatten, daß diese Küche für drei bis fünf und sechs Mahlzeiten des Tages gesorgt hatte. Solche Beispiele könnte man, wenn es nöthig wäre, in's Unendliche fortsetzen.
anführen, welche ich Freunde und Wärterinnen geben hörte, und die von Aerzten und Chirurgen angenommen wurden, und zwar gerade am Bett des Kranken, der jedem Wort widersprechen konnte, es jedoch unterließ, weil er liebenswürdig, scheu oder zu ermattet war.

»Wie oft, Wärterin, waren die Gedärme thätig?« – »Ein Mal, mein Herr.« Dies bedeutet gemeiniglich, daß die Geschirre Ein Mal ausgeleert wurden, während sie vielleicht sieben oder acht Mal vom Kranken benutzt wurden.

»Glauben Sie, daß der Kranke jetzt viel schwächer ist, als er vor sechs Wochen war?« – »Oh nein, mein Herr! Sie wissen ja, es ist schon sehr lange her, daß er nur im Bette angekleidet sitzen konnte, und jetzt kann er schon quer über das Zimmer gehen.« Das bedeutet, daß die Wärterin nicht beobachtete, daß, während er vor sechs Wochen aufrecht in seinem Bette saß und sich beschäftigte, er jetzt noch daliegt, ohne Etwas zu thun; daß er, obgleich er »quer über das Zimmer gehen kann,« doch nicht fünf Sekunden lang zu stehen vermag.

Von einem andern Patienten, welcher gut Nahrung nimmt, sich fortwährend, obgleich langsam, vom Fieber erholt, dabei aber nicht gehen und stehen kann, wird dem Doktor gesagt, daß es sich gar nicht mit ihm bessere.

Die üblichen Hauptfragen sind nutzlos oder führen irre.

Auf Fragen, die man gegenwärtig nur allzugewöhnlich in Bezug auf Kranke stellt, würde man selbst dann keine Auskunft erlangen, wenn die befragte Person auch alle Auskunft zu geben vermöchte. Die Frage ist gewöhnlich eine Hauptfrage, und es ist seltsam, daß die Leute, bevor sie ihre Frage stellen, nie bedenken, wie die Antwort darauf lauten müsse. So fragt man beispielsweise: »Hat er eine gute Nacht gehabt?« Nun glaubt ein Kranker, er habe eine schlechte Nacht gehabt, wenn er nicht zehn Stunden hindurch, ohne Unterbrechung, geschlafen hatte; ein anderer wieder glaubt nicht, daß er eine schlechte Nacht hatte, wenn er nur in derselben einigemal für einige Zeit einnickte. Ein Arzt erhielt wirklich ganz dieselbe Antwort, als er fragte, wie zwei Kranke schliefen, von welchen der eine fünf volle Tage hindurch keinen Schlaf hatte, und daran starb, während der andere nicht eine einzige Nacht ohne Unterbrechungen geschlafen hatte.

Warum kann die Frage nicht so gestellt werden: »Wie viel Stunden hat ** geschlafen und zu welchen Stunden der Nacht Dies ist wichtig, weil es davon abhängt, welches Mittel angewendet werden soll. Schläft ein Patient zwei oder drei Stunden bei Beginn der Nacht, und schläft dann gar nicht mehr, so braucht er Zehn gegen Eins nicht ein Narcoticum (Einschläferungsmittel), sondern Nahrung oder ein Reizmittel, oder vielleicht blos Wärme. Wenn er aber die ganze Nacht über unruhig und schlaflos zubringt, und am Morgen schläfrig ist, so braucht er wahrscheinlich beruhigende Mittel, und zwar entweder Ruhe, Kühlung, oder Arzenei oder eine leichtere Diät, oder alle vier zusammen. Man sollte dem Doktor alle diese Umstände mittheilen, weil er sonst nicht beurteilen kann, was er verordnen soll. hat er geschlafen? – »Ich habe die ganze Nacht hindurch kein Auge geschlossen,« eine Antwort, die häufig gegeben wird, gleichviel, ob der, welcher sie gibt, mehrere Stunden oder keine einzige geschlafen hat, würde dann minder häufig gegeben werden.

Auf genau abgemessene Fragen erhält man viel seltener beabsichtigte oder unbeabsichtigte Unwahrheiten zur Antwort, als auf Hauptfragen. Ein anderer, häufig vorkommender Fehler besteht darin, daß man sich erkundigt, ob eine Ursache noch vorhanden ist, dabei aber nicht fragt, ob die Wirkung, welche durch sehr viele verschiedene Ursachen, nach welchen man sich nicht erkundigt, hervorgebracht wird, noch vorhanden ist. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn man fragt, ob es in der letzten Nacht Lärm auf der Straße gab, und wenn es dort keinen gab, ohne Weiteres berichtet, daß der Kranke eine gute Nacht gehabt hat.

Kranke erleiden in Folge solcher Hauptfragen vollständige Rückfälle, und geben nur so viel Auskunft, als gerade von ihnen verlangt wird, selbst wenn sie wissen, daß diese Auskunft ganz irre leitet. Die Schüchternheit der Patienten kommt selten in Betracht.

Wie Wenige giebt es, die aus fünf oder sechs treffenden Fragen den ganzen Krankheitsfall herausfinden, und also im Stande sind, zu wissen und zu sagen, wie es mit dem Kranken steht.

Wie man unrichtige Auskunft erhält.

Ich kenne einen sehr geschickten Arzt, der in Dispensarien und Spitälern viele Erfahrungen gesammelt hatte. Dieser fing seine Untersuchung jedes Patienten damit an, daß er sagte: »Legen Sie ihren Finger auf die Stelle, wo Sie Unwohlsein empfinden.«

Jener Mann wollte nie seine Zeit damit vergeuden, um unwichtige Auskunft von der Wärterin oder vom Patienten einzusammeln. Auf Hauptfragen erhält man stets unrichtige Auskunft.

Bei einer kürzlich stattgehabten gerichtlichen Untersuchung, die viel Aufsehen erregte, wurde neun ausgezeichneten Medizinern, und zwar einem nach dem andern, folgende Hauptfrage vorgelegt: »Können Sie diese Symptome einer andern Ursache, als Vergiftung, zuschreiben?« Und von den neun Medizinern beantworteten acht die Frage mit »Nein,« ohne irgend welche Beschränkung. Nach vorgenommenem Kreuz-Verhör ergab es sich: 1) daß Keinem von ihnen ein solcher Vergiftungsfall, wie er hier vermuthet wurde, vorgekommen war; 2) daß Keinem von ihnen jemals ein Fall der Krankheit vorgekommen, welcher man den fraglichen Todesfall, wenn ihn keine Vergiftung herbeiführte, zuschreiben konnte; 3) daß auch Keiner von ihnen die hauptsächliche Wirkung der Krankheit und des Zustandes, welcher der Tod zugeschrieben werden konnte, gewahr wurde.

Kann man durch eine stärkere Thatsache, als diese, darlegen, wie Hauptfragen Nichts taugen, und wie sie irre führen?

Ich mag gar nicht sagen, wie viele Beispiele ich kennen lernte, wo dieses System der Hauptfragen die Schuld trug, daß der Kranke starb, und wo Diejenigen, welche ihn in der Pflege hatten, in der That den Charakter der Krankheit gar nicht gewahr wurden.

Ueber die Speise, die der Patient annimmt oder verschmäht.

Es ist unnöthig, Alle die Einzelnheiten zu durchgehen, die nebst Schlaf noch andere Sachen betreffen, und wobei die Leute ein besonderes Talent zeigen, unrichtige Auskunft einzusammeln.

So denke ich in Bezug auf Nahrung oft, daß jene so gewöhnliche Frage: Wie ist Ihr Appetit? nur gestellt werden kann, weil der Fragende glaubt, daß dem Befragten wirklich gar Nichts fehle, was auch sehr oft der Fall ist.

Wo aber wirkliche Krankheit vorhanden, da ist hier die Bemerkung anwendbar, die wir in Betreff des Schlafes machten. Man erhält nämlich oft dieselbe Antwort in Bezug auf zwei Patienten, von welchen der Eine nicht im Stande ist, täglich zwei Unzen feste Nahrung zu nehmen, und der Andere nicht mit demselben gewohnten Behagen fünfmal des Tages ißt. Oft fragt man auch: »Wie ist ihr Appetit?« wenn man fragen will: »Wie ist Ihre Verdauung?« Ohne Zweifel hängen Appetit und Verdauung von einander ab; sind aber doch von einander verschieden. Mancher Patient könnte essen, wenn ihr nur seinen Appetit reizen möchtet. Der Fehler liegt hier darin, daß ihr ihm nicht die Speise gebt, die er gern haben möchte. Wieder ein anderer Patient macht sich so wenig aus Weintrauben, als aus Rüben; denn ihm ist jede Nahrung zuwider. Er würde jedoch versuchen, Etwas zu essen, was ihm gut thäte; allein was er auch nimmt, verschlimmert, wie es heißt, seinen Zustand. Hier liegt gemeiniglich der Fehler an der Art, wie man in der Küche seine Speise zubereitet. Nicht sein Appetit erfordert Reiz, seine Verdauung will geschont sein. Eine für Kranke berechnete Kochkunst wird auch der Verdauung die Hälfte ihrer Arbeit ersparen.

Vier verschiedene Ursachen sind möglich, deren jede dieselbe Wirkung hervorbringt, das heißt, den Patienten aus Mangel an Nahrung langsam vor Hunger umkommen laßt. Diese sind:

1) Fehler im Kochen;

2) Fehler in der Auswahl der Diät;

3) Fehler in der Wahl der Stunden, in welchen die Diät genommen werden soll;

4) Mangel an Appetit beim Patienten.

So verschieden diese Ursachen sind, so begreift man doch die eine, wie die andere, in der Alles mit sich fortschleppenden Behauptung: »der Kranke hat keinen Appetit.«

Durch genaue Unterscheidung könnte man vielen Patienten das Leben erhalten, denn die Gegenmittel sind hier eben so verschieden, als die eben aufgezählten Ursachen. Das Mittel gegen die erste besteht darin, daß man besser koche; gegen die zweite, daß man andere Speisen für die Kost des Kranken wähle; gegen die dritte, daß man genau die Stunden beachte, in welchen er Nahrung bedarf; und das Mittel gegen die vierte Ursache ist, daß man dem Patienten bringe, was er gern vor Augen hat.

Keins dieser Mittel wird aber einem andern der erwähnten Fehler, als dem es eben entspricht, abhelfen können.

Ich kann nicht oft genug wiederholen, daß die Patienten selbst gewöhnlich zu ermattet sind, um diese Fehler zu bemerken, oder zu scheu, um davon zu sprechen; es ist auch gar nicht räthlich, daß man sie veranlasse, darauf zu achten, weil damit ihre Aufmerksamkeit zu sehr auf ihre eigene Person gelenkt werden würde.

Es ist wichtiger, dem Patienten das Denken für sich selbst, als ihm physische Anstrengung zu ersparen.

Wozu, frage ich, ist auch die Wärterin oder Freundin um den Kranken, wenn er statt ihrer auf das Alles achten sollte? Gewöhnlich wird vorausgesetzt, die Wärterin sei da, um dem Patienten körperliche Anstrengung zu ersparen. Ich meinerseits würde lieber sagen, sie sollte da sein, um ihm zu ersparen, daß er selbst an seine Bedürfnisse denke. Ich bin auch versichert, daß der Patient sehr viel gewinnen würde, wenn man ihm alles Denken an das, was er braucht, ersparte, und dabei nicht aller körperlichen Anstrengung überhöbe. Im Spital macht oft eben die Befreiung von aller Sorge für sich selbst, welche eine wohl geleitete Anstalt gewährt, eine sichtlich so wohlthätige Wirkung auf den Kranken.

Zuweilen fragt man, ob der Kranke an Diarrhöe leide, und die Antwort lautet ganz gleich, ob nun die Diarrhöe eben in Cholera ausartet, oder ob sie in Folge einer Unbesonnenheit blos in geringem Grade eintrat, und sobald die Ursache entfernt ist, auch sogleich aufhören wird, oder ob gar keine Diarrhöe, sondern nur eine Erschlaffung der Gedärme vorhanden ist.

Es wäre zwecklos, hier noch mehr Beispiele dieser Art anzuführen. So lange man so wenig, als gegenwärtig der Fall, beobachtet, ist es, denk' ich, für den Arzt am besten, wenn er die Freunde des Patienten gar nicht zu sehen bekommt. Sie werden ihn meistens irre führen, und zwar ebenso oft, indem sie den Patienten schlechter, als indem sie ihn besser darstellen, als er wirklich ist.

Bei Kindern hängt Alles von der genauen Beobachtung der Wärterin oder Mutter ab, die dem Arzt Bericht zu erstatten hat. Wie selten jedoch ist diese genaue Beobachtung hier anzutreffen!

Mittel, wichtige und rasche Beobachtung zu kultivieren.

Ein berühmter Mann, der jedoch nur seiner thörichten Handlungen wegen berühmt war, theilte uns mit, es sei bei Erziehung seines Sohnes einer seiner Hauptzwecke, ihn an genaue, rasche Beobachtung zu gewöhnen, und ihm Sicherheit der Wahrnehmung zu geben. Zu diesem Ende benutzte er einen Monat hindurch auch folgendes Verfahren: er führte den Knaben rasch vor einem Spielzeug-Laden vorüber; Vater und Sohn beschrieben einander darauf so viele der an den Schaufenstern gesehenen Gegenstände, als sie vermochten, verzeichneten alle mit Bleistift auf einem Stück Papier, und kehrten darauf zu dem Laden zurück, um den Grad ihrer Genauigkeit kennen zu lernen.

Dabei gewann der Knabe stets, denn er beschrieb immer mehr Gegenstände, als der Vater, und irrte sich nie.

Dies, dachte ich oft, wäre für viel höhere Zwecke ein weiser Bestandtheil der Erziehung; für unsern Beruf als Wärterinnen ist solche Schärfung der Beobachtung wesentlich nothwendig. Man kann nämlich mit Sicherheit sagen, daß, wenn uns auch die Gewohnheit, rasch und genau zu beobachten, nicht an und für sich zu brauchbaren Wärterinnen machen wird, wir doch ohne sie trotz all' unserer Hingebung unbrauchbar sein würden.

Ich kannte eine Wärterin, welche die Aufsicht über eine Reihe von Krankensälen hatte, und nicht nur alle die kleinen Verschiedenheiten der Krankenkost, die jeder Patient sich selbst auswählen durfte, in ihrem Kopf hatte, sondern auch genau wußte, was jeder Patient im Lauf des Tages genossen hatte. So was konnte, wie wir vermuthen, nur eine geniale Wärterin ausführen, wie eben Miß Nightingale, von der ja eben auch gerühmt wird, daß sie genau wußte, was jeder ihrer zahlreichen Kranken brauchte oder wünschte, sei's eine Speise, Arzenei oder ein Buch. Anm. d. Uebersetzers. Dagegen kannte ich eine andere Wärterin, die nur einen einzigen Patienten zu pflegen hatte, und Tag für Tag sein Essen hinaustrug, ohne zu wissen, daß er es nie berührt hatte.

Findet ihr, daß es euch unterstützt, wenn ihr euch dies Alles mit Bleistift aufzeichnet, so unterlaßt es ja nicht. Ich glaube jedoch, daß es Gedächtniß und Beobachtung öfter schwächt, als stärkt. Wenn ihr euch aber auf gar keine Weise an Beobachtung gewöhnen könnt, so thätet ihr besser, ihr gäbet es auf, Kranke zu pflegen, denn ihr habt dann, so gütig und besorgt ihr auch sein mögt, keinen Beruf dazu.

Lernt wenigstens, was gewiß in eurer Macht liegt, nach dem Augenmaß beurtheilen, wie viel eine Unze feste, wie viel eine Unze flüssige Nahrung gibt. Das wird, wie ihr finden werdet, eure Beobachtung, wie euer Gedächtniß sehr unterstützen, und ihr werdet euch dann sagen: »A. nahm den Tag über eine Unze von dieser Speise; B. nahm dreimal im Lauf von 24 Stunden ungefähr ¼ Pinte Fleischbrühe,« während ihr jetzt sagt: »B. hat den ganzen Tag über gar Nichts genommen,« oder: »Ich gab A. wie gewöhnlich sein Mittagessen.«

Eine Wärterin muß richtig und geschwind beurteilen können.

Engländerinnen haben ein großes Talent für genaue Beobachtung, beobachten aber wenig.

Ich kannte einige von unsern echten Spital-Schwestern vom alten Schlage, welche nach dem Augenmaß so genau, als gebrauchten sie ein eigentliches Maß, die ihren Patienten zukommenden Portionen Wein und Arzenei ausmessen konnten. Ich empfehle das nicht zur Nachahmung, denn wer das thun soll, muß seiner ganz gewiß sein. Ich erwähne es nur, weil, wenn eine Wärterin es durch Uebung dahin brachte, Arzenei nach dem Augenmaß abzumessen, sie gewiß nicht zu jenen Wärterinnen gehört, die nicht im Stande sind, nach dem Augenmaß zu bestimmen, wie viel Unzen Nahrung ihr Patient genossen hat. Es mag dreist sein und jedenfalls auffallend klingen, wenn ich hier die Meinung ausspreche, daß es den Frauen in keinem Lande so an geschwinder und richtiger Beobachtung gebricht, als in England, obgleich sie hier eine besondere Fähigkeit haben, darauf eingeübt zu werden. Die Irländerin oder Französin ist zu hurtig in ihrer Wahrnehmung, um gut beobachten zu können, und die Deutsche ist zu langsam, um eine so geschwinde Beobachterin zu sein, als die Engländerin sein könnte. Doch Engländerinnen ziehen sich selbst die so oft von Männern gegen sie erhobene Beschuldigung zu, daß man sich bei Handverrichtungen, wozu sie Kraft genug besäßen, doch nicht auf sie verlassen könne, weil es ihnen an geübter und ausdauernder Beobachtung gebricht. In Ländern, wo Frauenzimmer, von durchschnittlich gewiß nicht größerem Verstande, als Engländerinnen besitzen, verwendet werden, um beispielsweise Arzenei nach Vorschrift zu bereiten, haben Männer, die verantwortlich für das sind, was diese Frauenzimmer thun, berichtet, daß sie den Dienst der Frauen dem der Männer vorziehen, weil jene pünktlicher und sorgfältiger sind und weniger Irrthümer aus Unachtsamkeit begehen. (Freilich geben sich auch die hier gemeinten Frauenzimmer nicht mit Betrachtungen über die »Mission« des Mannes und des Weibes ab.) Englische Frauen sind besonders befähigt, eben so weit zu gelangen. Ich erinnere mich, daß ich als Kind die Geschichte eines Unfalls hörte, die eine Frau erzählte, welche ihren zwei Nichten befahl, eine Flasche mit sel volatile aus ihrem Zimmer zu holen. »Marie,« erzählte sie, »konnte sich nicht von der Stelle bewegen, aber Fanni rannte fort, und holte eine Flasche, die nicht sel volatile enthielt, und auch nicht in meinem Zimmer war.«
Dergleichen setzt Jeder durch's ganze Leben fort. Man verlangt zum Beispiel von einer Magd, daß sie ein großes, frisch eingebundenes rothes Buch, das auf dem Tisch am Fenster liegt, herbeihole, und sie bringt euch fünf kleine alt eingebundene, braune Bücher, die auf dem Kaminsims liegen. Sie thut das, obgleich sie in jenem Zimmer vielleicht einen Monat hindurch täglich aufräumte, und täglich die Bücher gesehen haben mußte, da sie den ganzen Monat über auf derselben Stelle lagen.
Angewöhntes Beobachten ist um so nothwendiger, wenn man (bei einem Unfall) plötzlich gerufen wird. Hätte »Fanni die Flasche mit sel volatile« im Zimmer ihrer Tante, wo sie jeden Tag war, bemerkt, so würde sie sie wahrscheinlich gefunden haben, als man sie plötzlich brauchte.
Diese Fehler entspringen 1) aus Mangel an Aufmerksamkeit, da nur ein Theil des Gesuchs gehört wird; 2) aus Mangel an Beobachtung.
Einer Krankenwärterin sage ich überdies: Setze stets dieselben Sachen auf dieselbe Stelle; du weißt nicht, wie plötzlich man dich eines Tages rufen kann, um Etwas herbeizubringen, und kannst, wenn dein Gedächtniß nicht gewohnt ist, die Sache stets auf derselben Stelle zu sehen, in der Hast leicht vergessen, wohin du selbst sie gestellt hast.
In Spitälern geben Jene, welche die Diät für die Kranken abtheilen, jedem derselben, ohne zu wägen, mit hinreichender Genauigkeit seine 12 oder 6 Unzen Fleisch.

Doch eine Wärterin hat oft Patienten, welche alle Speise verabscheuen, ja gar nicht fähig sind, ihre Gesundheit zurückzuwünschen, die aber, nur um die Wärterin zu täuschen, regelmäßig über die ihnen gebrachten Teller herfallen, oder den Löffel in ihre Tasse tauchen. Sie nimmt dann diese Teller und Tassen hinweg, ohne je zu bemerken, daß darin noch dieselbe Quantität Nahrung ist, die sie hereinbrachte; ja sie wird dann ebenfalls dem Arzt sagen, daß der Patient wie gewöhnlich seine ganze Krankenkost genossen habe, während sie doch sagen sollte, daß sie seine Kost wie gewöhnlich fortgetragen habe. Was ist das für eine Wärterin?

Unterschied der Naturen der Kranken.

Aberglaube, die Frucht falscher Beobachtung.

Die Physiognomie der Krankheit ist nicht im Gesicht zu erkennen.

Ich möchte die Aufmerksamkeit noch auf etwas Anderes hinlenken, worin Krankenwärterinnen, wenn sie beobachten, sich häufig täuschen. Es besteht nämlich ein genau bezeichneter Unterschied zwischen der leicht erregbaren, und, wie ich es nennen will, der » accumulativen« Natur bei Kranken. Der Eine wird bei irgend einer plötzlichen körperlichen oder geistigen Pein auf der Stelle auflodern und hernach ganz gemächlich schlafen; der Andere wird bei dem nämlichen Anlaß ganz gelassen, ja selbst regungslos scheinen, und die Leute sagen dann: »Er hat es schwerlich empfunden;« aber einige Zeit nachher werdet ihr entdecken, daß seine Kräfte langsam abnahmen. Dieselbe Bemerkung findet ihre Anwendung auf die Wirkung narkotischer und abführender Mittel, welche bei dem Einen unmittelbar, dagegen bei einem Andern vielleicht in vier und zwanzig Stunden noch nicht wirken. Eine Reise, ein Besuch, eine ungewohnte Anstrengung wird den Einen unmittelbar aufregen, aber er erholt sich wieder davon; der Andere erträgt dasselbe zu jener Zeit scheinbar ganz leicht, stirbt aber daran oder kränkelt in Folge dessen sein Leben lang. Die Leute sagen oft, daß es sehr schwierig sei, so leicht erregbare Naturen zu behandeln. Ich aber sage, wie schwierig ist die Behandlung der accumulativen Natur! Bei ersterer habt ihr einen Ausbruch, auf den ihr vorbereitet sein könnt, und Alles ist dann vorüber. Bei letzterer wißt ihr aber nie, woran ihr seid, wißt ihr nie, wann die Folgen vorüber sind. Und es erfordert die genaueste Beobachtung, zu wissen, worin die Folgen von Etwas bestehen; denn das, was nachkommt, folgt durchaus nicht unmittelbar auf das Vorhergegangene, und oberflächliche Beobachtung führt zu gar Nichts. Beinahe jeden Aberglauben veranlaßt falsche Beobachtung, das post hoc, ergo propter hoc; und schlechte Beobachter sind fast sämmtlich abergläubisch. Landleute pflegten Viehkrankheiten der Hexerei zuzuschreiben; sah man eine Elster, so bedeutete dies, daß eine Hochzeit erfolgt, sah man deren drei, so weissagte dies einen Todesfall; und ich habe höchst gebildeten Leuten unserer Tage zugehört, wie sie in Beziehung auf Kranke Folgerungen zogen, die jenen nahezu glichen. Eine andere Bemerkung: Obschon es ohne Zweifel ebensowohl eine Physiognomie der Krankheit, wie eine Physiognomie der Gesundheit gibt, so ist doch vielleicht unter allen Theilen des Körpers das Gesicht gerade derjenige Theil, welcher dem gewöhnlichen Beobachter oder dem zufälligen Besucher am wenigsten den Krankheitszustand verräth. Denn von allen Theilen des Körpers ist das Gesicht außer den Einflüssen hinsichtlich der Gesundheit, noch vielen andern Einflüssen am meisten ausgesetzt. Die Leute beobachten auch niemals, oder kaum jemals so viel, daß sie zwischen der Wirkung der Bloßstellung der kräftigen Gesundheit und einer zarten Haut, zwischen einer Neigung zu Congestionen, oder Schamröthe, Aufwallung, oder vielen anderen Dingen zu unterscheiden wüßten. Ebenso zeigt das Gesicht eine eingetretene Abmagerung des Körpers oft am spätesten an. Ich möchte sagen, daß die Hand, was Fleisch, Farbe, Blutzirkulation etc. betrifft, ein viel sicherer Beweis ist, als das Gesicht. Es ist wahr, daß es einige Krankheiten gibt, die ganz allein von gewissen Gesichtstheilen verrathen werden, nämlich durch's Auge oder durch die Zunge, wie z. B. Reizbarkeit des Gehirns durch das Aussehen der Pupille im Auge sich kundgibt. Es ist jedoch hier nicht die Rede von genauer, sondern von zufälliger Beobachtung. Wenige genaue Beobachter werden anstehen, zu sagen, daß in den oft wiederholten Worten: er sieht gut aus, oder er sieht schlecht aus, oder besser oder schlimmer, gewöhnlich mehr Unwahrheit, als Wahrheit liegt.

Es ist wunderbar, wie Leute sich von der geringsten Beobachtung, oder oft von gar keiner Beobachtung leiten lassen, oder wie sie einem gewissen Sprichwort folgen, das die Welt, wenn nämlich damit eine Erfahrung gemacht worden wäre, längst als gänzlich falsch erklärt haben würde.

Ich weiß, daß Personen, welche vor lauter Schmerzen und Erschöpfung und Entbehrung von Schlaf an einer der abmattendsten, schmerzvollsten Krankheiten gestorben sind, bis zu einigen Tagen vor dem Tode nicht nur die gesunde Farbe der Wange, sondern auch das derbe Aussehen, die gefleckte Haut eines kräftigen Kindes behalten hatten. Und unzählige Mal hörte ich, wie diese unglücklichen Geschöpfe mit Redensarten, wie: »Es freut mich, Sie so wohl aussehend zu finden,« und: »Ich sehe keinen Grund, warum Sie nicht das Alter von neunzig Jahren erreichen sollten,« oder: »Warum verschaffen Sie sich nicht ein wenig mehr Bewegung und Vergnügen,« und dergleichen bekannten Gemeinplätze mehr angefallen wurden.

Es ist außer Frage, daß es eine Physiognomie der Krankheit gibt. Laßt die Wärterin sie kennen lernen.

Die erfahrene Wärterin kann immer angeben, daß eine Person die Nacht vorher ein Betäubungsmittel eingenommen hatte, sie erkennt dies an dem Anflug von Röthe im Gesicht, welchen die eintretende Reaktion der Entkräftung mit sich bringt. Die Unerfahrene wird gerade jene Farbe als ein Zeichen der Gesundheit bezeichnen.

Ferner gibt es noch eine Ohnmacht, die sich durch die Farbe gar nicht verräth, oder wobei der Kranke statt weiß, braun wird. Es ist wahr, daß es eine Ohnmacht anderer Art gibt, die immer an der Blässe erkannt werden kann.

Allein die Wärterin unterscheidet selten. Sie spricht mit dem Patienten, der vor Schwäche sich nicht von der Stelle bewegen kann, ohne die geringste Bedenklichkeit, bis er blaß wird und, zum Glück, die Kehlmuskeln angegriffen werden und ihm die Stimme versagt.

Diese zwei Ohnmachten sind jedoch aus dem bloßen Gesichtsausdruck des Patienten erkennbar.

Eigenthümlichkeiten der Patienten.

So muß auch die Wärterin zwischen den Empfindungseigenheiten der Patienten unterscheiden. Der Eine erduldet gerne alle seine Leiden abgeschlossen für sich; er wünscht, daß man sich so wenig als möglich nach ihm umsehe; der Andere hingegen hat gerne, daß man viel Aufhebens mit ihm mache und ihn bedauere, auch möchte er immer Jemand bei sich haben.

Diese beiden Eigenheiten könnten viel mehr beobachtet und befriedigt werden, als es gegenwärtig zu geschehen pflegt. Denn es geschieht ganz ebenso oft, daß dem ersterwähnten Patienten, der nichts will, als daß man ihn allein lasse, eine geschäftige Aufwartung aufgedrungen wird, als es vorkommt, daß der letzterwähnte Patient sich selbst überlassen wird und sich vernachlässigt glaubt.

Die Wärterin muß die Zunahme an Schwäche des Patienten selbst beobachten, der Patient wird ihr nichts davon sagen.

Ich glaube, daß wenige Dinge so schwer Einen bedrücken, der an einer langen und unheilbaren Krankheit leidet, als die Nothwendigkeit, von Zeit zu Zeit der Wärterin nachweisen zu müssen (da sie es sonst nicht wahrnimmt), daß er dies oder jenes, was er vor einem Monat oder Jahre noch verrichten konnte, jetzt nicht mehr thun kann. Wozu ist die Wärterin da, wenn sie diese Dinge nicht selbst beobachten kann? Und doch habe ich – auch bei Denjenigen – und hauptsächlich bei Denjenigen, die mit ihrem Geld und ihrer Stellung Alles erreichen konnten, was damit erreichbar ist, mehr Unfälle (lebensgefährliche, langsame oder schnelle) kennen gelernt, die aus diesem Mangel an Beobachtung, als aus einem andern Grunde entstanden waren.

Weil der Patient vor einem Monat noch allein aus einem warmen Bad steigen konnte – weil ein Patient vor einer Woche noch bis zur Klingel zu gehen im Stande war, so schließt seine Wärterin daraus, daß er dies jetzt noch thun könne. Sie hat die Veränderung, die inzwischen mit dem Kranken vorging, nicht wahrgenommen, und so ist er denn, weil man ihm im Zustande der Erschöpfung nicht eher Hülfe bringt, als bis zufällig Jemand in sein Badezimmer tritt, verloren. Dies ist indessen nicht die Folge eines unerwarteten appoplektischen, paralitischen oder gewöhnlichen Ohnmacht-Anfalls (obschon auch solche, weit mehr als jetzt, vorauszusehen wären, wenn wir nur beobachten würden), sondern es ist die Folge von der unerwarteten, unvermeidlichen, sichtbaren, berechenbaren, ungestörten Zunahme an Schwäche, die zu beobachten Keiner um den Kranken vernachlässigen sollte.

Unfälle, welche daraus entstehen, daß die Wärterin nicht beobachtet.

Da ist wieder ein Kranker, der gewöhnlich nicht auf sein Bett beschränkt ist, aber durch einen Anfall von Diarrhöe, Erbrechen, oder einen andern Zufall gezwungen wird, für einige Tage das Bett zu hüten. Dann steht er zum ersten Mal wieder auf, und die Wärterin läßt ihn in ein anderes Zimmer gehen, ohne ihm einige Minuten darauf zu folgen, um sich nach ihm umzusehen. Es fällt ihr nie ein, daß er sicherlich ermattet oder kalt sein, oder Etwas brauchen wird. Sie sagt nur zu ihrer Entschuldigung: »Oh! er will nicht, daß man hinter ihm einhertripple.« – So sagte er auch, einige Wochen vorher, aber seitdem es so mit ihm stand, wie eben jetzt, sagte er nie, »er wolle nicht, daß man hinter ihm einhertripple;« und hätte er es auch gesagt, so solltet ihr doch unter irgend einem Vorwand zu ihm in's Zimmer gehen.

Auf diese Weise starben mehr Patienten, als man gemeiniglich wußte, an Rückfällen, die dadurch veranlaßt wurden, daß man die Kranken, wenn sie zum ersten Mal wieder aufgestanden waren, ein oder zwei Stunden lang matt, kalt oder hungrig ließ.

Geht es mit der Fähigkeit der Beobachtung auf die Neige?

Es stellt sich auch gegenwärtig heraus, daß man in der Fähigkeit der Beobachtung kaum irgendwie weiter gekommen ist. In der Pathologie, d. i. in der Wissenschaft, welche uns über die letzte Veränderung belehrt, welche Krankheit im menschlichen Körper hervorbringt, hat man sehr große, neue Kenntnisse erlangt, während man in der Kunst, die Merkmale jener Veränderung, während letztere vor sich geht, zu beobachten, kaum irgend etwas Neues gelernt hat. Oder ist vielmehr nicht zu besorgen, daß es mit der Beobachtung, als einen wesentlichen Theil der Heilkunde, auf die Neige gegangen ist?

Wer von uns hörte nicht an fünfzig Mal eine Wärterin, oder einen Freund des Kranken, oder auch einen Freund desselben, der selbst Arzt war, folgende Bemerkung machen: »A. befindet sich schlechter, oder B. ist todt. Ich sah ihn gestern, und hielt ihn um Vieles besser; es gab da auch gewiß keine Erscheinung, die einen so plötzlichen (?) Wechsel erwarten ließ.« – Dagegen hörte ich nie Jemand sagen, was doch, wie man glauben sollte, viel natürlicher wäre: »Es muß da eine Erscheinung gegeben haben, die ich wohl, wenn ich meine Augen recht gebraucht hätte, gesehen haben würde; ich will versuchen, mich zu erinnern, worin diese Erscheinung bestand, damit ich sie ein ander Mal beobachte.« Nein, so was sagen die Leute nicht. Sie behaupten kühn, es sei da Nichts zu beobachten gewesen, nicht aber, daß sie zu beobachten unterlassen hatten.

Blässe ist keineswegs, wie in Romanen zu lesen, die unveränderliche Wirkung des herannahenden Todes.

Personen, welche Krankheit und Tod zu beobachten haben, mögen zurückblicken und versuchen, in den Bemerkungen, die sie sich machen, auch jene Erscheinungen aufzuzeichnen, die Rückfällen, Anfällen oder dem Tod vorangingen, sie sollen aber nicht behaupten, daß keine solche Erscheinungen oder nicht die rechten vorhanden waren. Nur wenige Menschen hatten je Gelegenheit, zu beobachten, welch ein verschiedenes Aussehen das menschliche Antlitz beim plötzlichen Herannahen gewisser gewaltsamer Todesarten annimmt. Wenn nun das zu wissen auch wenig Nutzen bringt, so erwähne ich es doch hier, weil es durch ein höchst abschreckendes Beispiel das, was ich meine, erläutert. Bei einer nervösen Natur des plötzlich auf gewaltsame Weise Sterbenden wird das Antlitz desselben blaß (was hier die einzige erkannte Wirkung ist); bei einem sanguinischen Temperament wird es purpurroth; bei einer galligen Natur gelb, oder in allen Farben gefleckt. Nun setzt man aber allgemein voraus, Blässe sei das einzige Zeichen von fast jeder gewaltsamen Veränderung im Menschen, rühre sie von Schrecken, Krankheit oder einer andern Ursache her. Keine Beobachtung kann falscher sein. Ausgemachter Weise ist Blässe die einzige anerkannte Livree des Todes – in Romanen – sonst aber nirgends.

Beobachtung aller Zustände, in welchen der Kranke lebt.

Der Mangel an Gewohnheit, alle Zustände, in welchen der Kranke lebt, zu beobachten, führt oft ebenso irre, als die Gewohnheit, Kranke im Durchschnitt zu beurtheilen.

Personen, deren Beruf, wie der des Arztes, sie dahin führt, blos oder hauptsächlich handgreifliche und bleibende organische Veränderungen zu beobachten, irren sich oft in ihrer Ansicht über die Folgen ebenso wie Jene, die gar nicht beobachten. Ich will das mit einem Beispiel erläutern. Es ist ein Kranker da, welcher das Bein gebrochen hat. Der Wundarzt hätte es blos anzublicken, um mit Gewißheit zu erkennen, was es ist; doch es wird (meint er), wenn er es erst am folgenden Morgen ansieht, nicht anders sein, als es heut' Abend ist. In was immer für einem Zustande dieser Patient sich sonst befindet, oder wahrscheinlich befinden wird, es wird noch einige Zeit vergehen, bis sein gebrochenes Bein eingerichtet wird. Dasselbe ist bei vielen inneren Krankheiten der Fall. Ein erfahrener Arzt braucht blos ein Mal den Puls zu fühlen, um zu wissen, daß eine Pulsadergeschwulst vorhanden ist, die früher oder später tödtlich wird.

Bei der großen Mehrheit der Krankheitsfälle zeigt sich Nichts der Art; und hier muß die Fähigkeit, sich eine richtige Meinung über den Ausgang zu bilden, gänzlich von einer Untersuchung aller äußern Verhältnisse, in welchen der Patient lebt, abhängen. In großen Städten, wo der Zustand der Gesellschaft verwickelt ist, wird der Tod, wie Jeder, der große Erfahrung hat, weiß, minder oft durch eine organische Krankheit herbeigeführt, als durch irgend eine Unpäßlichkeit, welche nach vielen andern Krankheiten gerade die Summe der Erschöpfung, die für den Tod erforderlich ist, hervorbringt. Nichts ist so abgeschmackt, so irre leitend, als der Ausspruch: »Der und der hat keine organische Krankheit – es ist kein Grund vorhanden, weshalb er nicht das höchste Alter erreichen sollte.« Zuweilen fügt man noch die Klausel hinzu: »Vorausgesetzt, er hat Ruhe, gute Nahrung, gute Luft etc. Jener Ausspruch wird aber von unwissenden Leuten ohne die eben erwähnte Clausel wiederholt, oder es ist gar nicht möglich, die Bedingungen jener Clausel zu erfüllen, wonach der einzige wesentliche Theil der Phrase ganz umsonst hinzugefügt ist. Ich hörte, wie ein mit Recht ausgezeichneter Arzt die Freunde seines Patienten versicherte, daß er genesen werde. Warum? Weil er jetzt ein Verfahren mit dem Kranken vorgeschrieben hatte, welches dieser in allen seinen Einzelheiten schon seit Jahren befolgte; und weil er zugleich ein anderes Verfahren, von welchem der Patient auf keine Weise abweichen Ich kannte zwei Fälle; einer betraf einen Mann, welcher absichtlich und wiederholt eine Verrenkung verschob, und von allen Wundärzten (im Spital) gepflegt und verzärtelt wurde; in dem andern handelt es sich um einen Patienten, über den der Ausspruch gefällt wurde, daß ihm Nichts fehle, weil an ihm keine organische Veränderung wahrnehmbar war, der aber noch während der Woche starb. In beiden Fällen war es die Wärterin, welche den Doktoren genau angab, was sie genau beobachtet hatte, und auf diese Weise verhinderte, daß in dem einen Falle der Betrug fortgesetzt, und in dem andern der Kranke fortgeschickt wurde, während er im Sterben begriffen war.
Ich will sogar noch weiter gehen und sagen, daß in Krankheiten, welche aus der schwachen und unregelmäßigen Thätigkeit irgend einer Function und nicht aus organischer Veränderung entspringen, es nur reiner Zufall ist, wenn der Arzt, welcher den Krankheitsfall nur ein Mal täglich und gewöhnlich um dieselbe Stunde sieht, sich irgend einen bestimmten Begriff von besten wahrer Beschaffenheit zu machen vermag.
Wenn in der Mitte des Tages ein solcher Patient durch Licht und Luft, durch seinen Thee, seine Fleischbrühe, durch warme Flaschen an seinen Füßen, durch Abwaschung und frische Wäsche erfrischt worden ist, dann könnt ihr kaum glauben, daß das dieselbe Person sei, welche diesen Morgen mit unregelmäßigem Puls, aufgedunsenen Augenlidern, kurzem Athem, kalten Gliedmaßen und zitternden Händen vor euren Augen lag. Was soll nun eine Wärterin in einem solchen Falle thun? Sie soll nicht ausrufen: »Gott segne Sie, Herr Doktor! Sie würden, wären Sie hier gewesen, gedacht haben, er sterbe jeden Augenblick in der Nacht!« – Das mag ganz wahr sein, es ist aber nicht die rechte Manier, dem Doktor, der fähiger ist, als ihr, sich nach den Thatsachen, wenn sie ihm bekannt werden, sein Urtheil zu bilden, die Wahrheit klar zu machen. Eben diese Thatsachen braucht er, nicht eure Meinung, so ehrerbietig ihr sie auch äußert. Sie sind bei allen Krankheiten wichtig, aber bei Krankheiten, welche nicht einen deutlichen und festgesetzten Verlauf nehmen, ist es nicht blos wichtig, sondern das Wichtigste, daß die Thatsachen, welche nur die Wärterin beobachten kann, auch von ihr genau beobachtet und dem Arzt berichtet werden.
Ich muß die Aufmerksamkeit der Wärterin auf die sehr große Verschiedenheit lenken, welche oft der Puls solcher Patienten den Tag über zeigt. Ein ganz gewöhnlicher Fall ist dieser: Zwischen 3 und 4 Uhr des Morgens wird der Puls schnell (er macht dann vielleicht 130 Schläge in der Minute) und so dünn, daß er keineswegs wie ein Puls, sondern wie ein Nerve ist, der knapp unter der Haut vibrirt. Darauf kann der Patient nicht mehr einschlafen. Gegen Mittag ist dieser Puls auf 80 herabgesunken, und ist, obgleich schwach und zusammendrückbar, ein mittelmäßig guter Puls. Bei Nacht ist er fast nicht fühlbar, wenn der Patient einen Tag der Aufregung hatte. Wenn der Patient aber einen guten Tag verbrachte, so ist sein Puls stärker und regelmäßiger, und nicht schneller, als um Mittag. Das ist eine gewöhnliche Geschichte eines gewöhnlichen Pulses, und wir könnten noch andere, die ebenso im Lauf des Tages wechseln, hier schildern. Bei Entzündung, die man fast stets durch den Puls entdecken kann, im typhösen Fieber, das immer von einem schwachen Puls, den Nichts stärken wird, begleitet ist, zeigt sich keine so große Verschiedenheit. Doktoren und Wärterinnen gewöhnen sich, nicht nachzusuchen. Der Doktor kann es in der That nicht. Doch diese Verschiedenheit ist an und für sich ein wichtiger Theil der Krankheit.
In Fällen, wie die eben genannten, sterben die Patienten oft unerwartet an irgend einem ganz unbedeutenden Leiden, welches eben die zur Herbeiführung des Todes nothwendige Erschöpfung vollendete.
Ich sah oft wirklich gute Krankenwärterinnen ganz schmerzlich betrübt, weil sie den Arzt nicht von der Gefahr ihres Patienten überzeugen konnten, und zugleich ganz aufgebracht, weil ihr Patient gerade um die Zeit, als ihn der Arzt besuchte, »um so viel besser« oder »um so viel schlechter« aussah, als er wirklich war.
Solche Betrübniß ist gegründet, aber sie entsteht gewöhnlich daraus, daß die Wärterin nicht im Stande ist, dem Arzt die Thatsachen, von welchen sie ihre Meinung ableitet, klar und kurz darzulegen, oder weil der Arzt eilig, unerfahren und nicht im Stande ist, sie hervorzulocken.
Ein Mann, der wirklich um seine Patienten besorgt ist, wird bald lernen, die Auskunft einer Wärterin, die zugleich eine aufmerksame Beobachterin und verständliche Berichterstatterin ist, zu verlangen und zu schätzen.
konnte, verboten hatte.

Ohne Zweifel wird eine Person, die gar keine wissenschaftliche Bildung oder Beobachtungsgabe und Erfahrung in solchen Lebensverhältnissen besitzt, die wahrscheinliche Lebensdauer der Mitglieder einer Familie oder der Bewohner eines Hauses eher errathen, als der gelehrteste Arzt, zu welchem eben dieselben Personen gebracht werden, damit er ihnen den Puls fühle, nach deren Lebensverhältnissen er sich aber nicht erkundigt. Wenn Lebensversicherungen und ähnliche Gesellschaften die Bestimmung träfen, daß, anstatt der ärztlichen Untersuchung der Person, vielmehr eine Untersuchung der Häuser, der Zustände und der Lebensweise dieser Personen vorgenommen werden müßte, um wie viel richtigere Resultate würden sie erlangen!

W. Schmidt zeigt sich als ein schöner, gesunder Mann, allein es möchte sich dann herausstellen, daß er bei dem nächsten Ausbruch der Cholera in üble Lage kommt. Herr und Frau I. sind ein starkes, gesundes Ehepaar, allein man möchte herausfinden, daß sie in solch' einem Hause, in solch' einem Theile von London, so nahe am Flusse wohnen, daß sie daselbst die meisten ihrer Kinder durch den Tod verlieren werden; welche Kinder die Ueberlebenden sein werden ließe sich ebenfalls ermitteln.

"Durchschnittliche Lebensdauer" weist nach, wie viele Menschen von hundert sterben. Die Beobachtung wird uns mittheilen, welche unter den hundert zuerst sterben werden.

So verleiten uns auch Durchschnittszahlen, vom Wege genauer Beobachtung abzugehen. »Durchschnittliche Sterbezahlen« weisen uns nur nach, daß so und so viele Prozent der Bevölkerung jährlich in dieser, und so und so viele in jener Stadt sterben. Ob aber der A. oder der B. unter der Zahl der Gestorbenen ist, das sagt die »Durchschnittszahl« natürlich nicht. Wir wissen zum Beispiel, daß 22 bis 24 von 1000 in London nächstes Jahr sterben werden. Umständlich genaue Nachforschung würde uns aber in den Stand setzen, zu wissen, daß in diesem oder jenem Bezirke, nein mehr noch, – daß in dieser oder jener Straße, sogar auf der und der Seite dieser Straße, in dem und dem Hause, oder in einem Stockwerke des bezeichneten Hauses, die Sterblichkeit ihre Grenzen überschreiten wird, das heißt, es werden Personen dort sterben, die das höchste Alter hätten erreichen müssen.

Würde es nun nicht die Ansicht Derer, die sich überhaupt eine solche bilden wollen, wesentlich ändern, wenn sie wüßten, daß der oben erwähnte Mann von jenem Stockwerke, von jenem Hause, von jener Straße kommt?

Unsere Beobachtungen könnten übrigens hierin viel genauer und daher auch unsere daraus gezogenen Schlüsse viel richtiger werden.

Es ist wohlbekannt, daß in Arbeitshäusern Generationen hindurch in den Büchern die nämlichen Namen beständig wieder vorkommen. Das heißt, die Personen sind und werden Generation auf Generation immer unter den Verhältnissen geboren und erzogen, welche die Armuth erzeugen. Tod und Krankheit sind dem Arbeitshaus ähnlich, sie halten sich an die nämliche Familie, an das nämliche Haus, oder mit andern Worten, sie halten sich an die nämlichen Verhältnisse. Warum wollen wir diese nicht kennen lernen? Der genaue Beobachter könnte mit Sicherheit vorhersagen, daß diese oder jene Familie, gleichviel, ob die Familienglieder heirathen oder nicht, aussterben wird, oder daß eine andere moralisch und physisch entarten wird. – Doch wer zieht eine Lehre daraus? Im Gegentheil, es mag wohl bekannt sein, daß in einem solchen Hause von 10 Kindern 8 starben; man sollte denken, es sei nicht nöthig, mehr darüber zu sagen, denn wie könnte die Vorsehung deutlicher sprechen? Niemand aber will solche Warnungen hören; die Familie bleibt da wohnen, bis sie ausstirbt, und dann wird die Wohnung von einer andern Familie bezogen. Die Leute würden auch nicht hören, »wenn Einer von den Todten aufstände.«

Was ist der Zweck der Beobachtung?

Wenn wir bei der hohen Bedeutung guter Beobachtung verweilen, so dürfen wir den Zweck derselben nicht aus den Augen verlieren. Derselbe besteht nicht in der Aufstapelung vermischter Belehrungen und merkwürdiger Thatsachen, sondern in der Erhaltung von Menschenleben und in der Vermehrung von Gesundheit und Behaglichkeit. Die Vorsicht, auf diesen Zweck aufmerksam zu machen, dürfte für überflüssig gehalten werden, wäre es nicht ganz erstaunlich, wie viele Männer (und auch einige Frauen thun es) sich wirklich so benehmen, als ob sie den wissenschaftlichen Zweck allein vor Augen hätten, oder als ob der kranke Körper nur ein Behältniß zur Verwahrung von Arzeneien, und die Krankheit, welche der Wundarzt zu behandeln hat, Nichts, als ein interessanter Fall wäre, den der Leidende selbst herbeiführte, damit der Arzt, der ihn behandelt, seine speziellen Studien daran mache. Dies ist wirklich keine Uebertreibung. Ihr denkt, wenn ihr bei eurem Kranken eine Vergiftung vermuthetet, die zum Beispiel durch einen kupfernen Kessel veranlaßt wurde, so würdet ihr augenblicklich – wie es eure Pflicht verlangt – jede mögliche Verbindung zwischen dem Patienten und der verdächtigen Quelle des Uebels abschneiden, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß dadurch eine merkwürdige Fundgrube der Beobachtung verloren geht. Dies thut aber nicht Jedermann, und in der That hat man die Frage: was hat der Arzt zu thun, wenn er eine Vergiftung vermuthet? zu einer Frage der ärztlichen Moral gemacht. Die Antwort scheint sehr einfach diese zu sein: er bestehe darauf, daß eine Wärterin, der man vertrauen kann, dem Kranken beigegeben werde, oder gebe (wenn dies nicht geschieht) den Fall auf.

Wie eine Wärterin, der man volles Vertrauen schenken kann, sein soll.

Bedenket auch, daß jede Wärterin eine solche sein soll, auf die sich verlassen, der man volles Vertrauen schenken kann. Sie weiß nicht, wie bald sie sich in eine schwierige Lage versetzt finden mag; sie darf keine Klatschbase, keine Großsprecherin sein; sie sollte auf Fragen, die den Kranken betreffen, stets nur Jenen antworten, die ein Recht haben, solche Fragen zu stellen; sie muß (dies braucht wohl nicht erst gesagt zu werden) mäßig und ehrlich, aber noch mehr als dies, sie muß ein gewissenhaftes Frauenzimmer sein; sie muß Achtung vor ihrem eigenen Beruf haben, weil das kostbare Geschenk Gottes, das Leben, oft, so zu sagen, in ihre Hände gelegt ist; sie muß auch eine verständige, genaue und schnelle Beobachterin sein und Zartgefühl und Anstand besitzen.

Beobachtung muss für praktische Zwecke gemacht werden.

Kehren wir zur Frage, was der Zweck der Beobachtung ist, zurück: – Es möchte wirklich den Anschein haben, als ob Einige, wie wenn es ihre Aufgabe wäre, zu entdecken, und nicht zu heilen, Beobachtung blos ihrer selbst willen schätzen; ja, es hat sich bei einer kürzlich stattgefundenen gerichtlichen Untersuchung, die viel Aufsehen erregte, erwiesen, daß drei Aerzte, welche nach ihrer eigenen Aussage bei einem Kranken eine Vergiftung vermutheten, für die rothe Ruhr verschrieben und ihn dem Giftmischer überließen. Dies ist ein außergewöhnlicher Fall. Allein in einem kleineren Maßstabe sehen wir Alle, wie man so oft auf gleiche Weise verfährt. Wie oft haben Aerzte erklärt, sie wüßten gar wohl, daß der Kranke in einer solchen Luft, in einem solchen Zimmer, oder unter solchen Verhältnissen nicht gesund werden könne, und dennoch fuhren sie fort, ihm Arzeneien zu verschreiben, gaben sich aber nicht die Mühe, das Gift von ihm, oder ihn vom Gift zu entfernen, während sie doch wußten, daß es ihn tödte; noch mehr, sie sind zuweilen nicht einmal so weit gegangen, ihre Ueberzeugung am rechten Ort auszusprechen, das heißt, dieselbe der Person mitzutheilen, die in der Sache einschreiten könnte.


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