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V. Mannigfaltigkeit

Mannigfaltigkeit, ein Mittel zur Wiederherstellung.

Nur eine alte Krankenwärterin, oder ein lange Zeit über Kranker, kann begreifen, in welchem Grade die Nerven der Patienten darunter leiden, wenn sie stets dieselben Wände, dieselbe Zimmerdecke, dieselben Gegenstände in ihrer Umgebung sehen, während sie selbst lange Zeit auf ein oder zwei Zimmer beschränkt sind.

Man hat oft bemerkt, wie Personen, welche an schweren Fieberanfällen leiden, eine größere Heiterkeit zeigen, als Personen, die an Nervenschwäche leiden, und hat dies dem Genuß zugeschrieben, den erstere in der Zeit finden, wo das Fieber sie nicht plagt. Ich bin geneigt, zu denken, daß man die Mehrzahl dieser heitern Kranken unter jenen finden wird, die nicht auf ein Zimmer beschränkt sind, sei übrigens ihr Leiden was immer für eins, und daß man wieder die Mehrzahl niedergedrückter Patienten unter jenen antreffen wird, die lange Zeit nur dieselben eintönigen Gegenstände um sich herum sehen.

Farbe und Form. Mittel zur Wiederherstellung.

Der Nervenbau leidet davon wirklich so viel, als die Verdauungsorgane von langer Eintönigkeit der Nahrung leiden.

Die Wirkung, welche schöne Gegenstände, Mannigfaltigkeit der Gegenstände, und besonders Farbenglanz, in Krankheit hervorbringen, ist kaum noch irgendwie gewürdigt.

Dringende Bitten um solche Gegenstände nennt man gewöhnlich »Grillen« der Patienten. Oft haben ohne Zweifel Patienten »Hirngespinste,« wenn sie z. B. zwei sich widersprechende Dinge verlangen; öfter jedoch sind ihre sogenannten Grillen die werthvollsten Anzeigen dessen, was zu ihrer Wiederherstellung nothwendig ist. Es wäre daher gut, wenn Krankenwärterinnen diese sogenannten Grillen der Patienten genau beobachten würden.

Ich sah bei Fiebern (und fühlte es, als ich selbst fieberkrank war), daß Patienten, die in einer Hütte lagen, den schärfsten Schmerz empfanden, der daraus entstand, daß sie nicht aus dem Fenster sehen konnten, und nur die Aussicht auf die Knorren im Holz hatten. Ich werde nie vergessen, in welches Entzücken Kranke über ein Bündel Blumen von glänzender Farbe geriethen. Aus meiner eigenen Krankheit erinnere ich mich, wie mir ein Strauß wilder Blumen gesandt wurde, und wie von diesem Augenblick an meine Genesung viel rascher fortschritt.

Das ist kein Hirngespinst.

Die Leute sagen, die Wirkung äußere sich blos auf den Geist; das ist nicht der Fall. Die Wirkung äußert sich auch auf den Körper. So wenig wir auch wissen, auf welche Weise Form, Farbe, Licht auf uns wirken, so wissen wir doch, daß sie in der That eine sinnliche Wirkung auf uns äußern.

Abwechslung der Form, und Glanz der Farbe, bei den dem Kranken vor Augen befindlichen Gegenständen, sind wirkliche Mittel zur Genesung. Es muß jedoch eine langsame Abwechslung sein, denn wenn ihr zum Beispiel einem Kranken zehn oder zwölf Kupferstiche nach einander zeigt, so wett' ich zehn gegen eins, daß er kalt und matt und fieberhaft werden, ja selbst Uebelkeit verspüren wird. Hängst du aber ihm gegenüber einen Kupferstich auf, und einen andern an jedem folgenden Tage, oder in jeder folgenden Woche, oder allmonatlich einen, so wird er im Genuß der Abwechslung schwelgen.

Blumen.

Thorheit und Dummheit, welche so oft unbeschränkt das Krankenzimmer beherrschen, wird folgende Anführung am besten erläutern. Während die Wärterin den Kranken in einer verderbten Luft schmoren läßt, deren bester Bestandtheil Kohlen-Säure ist, wird sie ihm mit dem Einwand, daß es ungesund sei, ein Glas mit gepflückten Blumen, oder eine lebende Pflanze im Topfe verweigern. Man sah auch nie in einem Krankenzimmer oder Krankensaal, wo zu viel Kranke sind, zu viel Blumen. Die Kohlen-Säure, welche sie bei Nacht aushauchen, würde auch nicht eine Fliege vergiften. In überfüllten Zimmern saugen sie vielmehr tatsächlich die Kohlen-Säure ein, und geben Sauerstoff von sich. Auch abgeschnittene Blumen zersetzen Wasser und erzeugen Sauerstoffgas. Es ist wahr, es gibt gewisse Blumen, wie z. B. Lilien, deren Duft, wie man sagt, niederdrückend auf das Nervensystem wirkt; diese können aber leicht schon an ihrem Duft erkannt und vermieden werden.

Wirkung des Körpers auf die Seele.

Kranke leiden bis zum Uebermaß von geistiger, wie von körperlicher Pein.

Man schreibt und spricht jetzt ganze Bände über die Wirkung des Geistes auf den Körper. Viel davon ist gegründet. Ich wünschte jedoch, daß man etwas mehr über die Wirkung des Körpers auf den Geist nachdächte. Ihr, die ihr meint, von Beklemmungen überwältigt zu sein, dabei aber im Stande seid, täglich viel in der Stadt herumzuspazieren, oder aufs Land zu gehen; ihr, die ihr eure Mahlzeiten mit Andern abwechselnd in verschiedenen Zimmern nehmt, ihr wißt wenig, wie sehr eure Beklemmungen dadurch erleichtert werden; ihr wißt wenig, wie quälend sie für Jene werden, die keine Abwechslung erlangen können; Selbst Kranke bemerken mit schmerzlicher Verwunderung, wie sehr bei ihren Eindrücken peinliche Vorstellungen die angenehmen überwiegen. Sie sprechen mit sich selbst; sie halten sich für undankbar: was sie Alles nicht erleichtert. Diese peinlichen Eindrücke werden auf viel wirksamere Art durch ein herzliches Lachen verbannt, wenn ihr es durch ein Buch oder Gespräch erregen könnt, als durch Vernünfteln. Ist der Kranke zu schwach, um lachen zu können, so bedarf er irgend eines Eindrucks der Natur. Ich erwähnte, wie grausam es ist, ihn eine leere Wand anstarren zu lassen. In vielen Krankheiten, namentlich in der Genesung vom Fieber, wird es ihm scheinen, daß ihm von dieser leeren Wand allerlei Gesichter entgegengrinsen. Blumen bewirken so was nie. Zeigt sie ihm. Form und Farbe werden besser als jedes Argument euern Kranken von seinen quälenden Vorstellungen befreien. wie selbst die Wände ihrer Krankenzimmer mit ihren Sorgen behängt scheinen; wie die Gespenster ihrer Leiden um ihr Bett spuken, und wie es ihnen unmöglich ist, einem sie verfolgenden Gedanken, ohne einige zerstreuende Abwechslung der Gegenstände um sie her, zu entrinnen.

So wenig ein Kranker sein Bein, wenn es gebrochen ist, zu bewegen vermag, ebenso wenig kann er ohne äußere Hülfe, welche ihm eine dargebotene Abwechslung der Gegenstände gewährt, seine Gedanken ändern. Diese Ohnmacht ist in der That eines der Hauptleiden der Krankheit, gerade so, wie die befestigte Stellung eines der Hauptleiden ist, welche das gebrochene Bein verursacht.

Helft den Kranken, ihre Gedanken verändern.

Verzweifelte Sehnsucht der Kranken, aus dem Fenster zu sehen.

Es ist erstaunlich, wie oft man gebildete Personen, die sich Wärterinnen nennen, hierin fehlen sieht. Sie verändern sehr oft im Laufe des Tages die Gegenstände in ihrer Umgebung, ja auch ihre Verrichtungen, während sie einen an's Bett gefesselten Kranken, den sie warten (!), die leere Wand anstarren lassen, ohne irgendwie vor ihm die Gegenstände zu wechseln, die ihn in den Stand setzen würden, seine Gedanken zu verändern. Es fällt ihnen auch nie ein, wenigstens sein Bett so zu rücken, daß er durch das Fenster sehen könnte. Nein, das Bett muß stets im dunkelsten, langweiligsten, entferntesten Theil des Zimmers bleiben. Ich erinnere mich hier an einen hier zutreffenden Fall. Ein Mann erlitt durch einen Zufall eine Verletzung des Rückgrats, welche nach langem Liegen seinen Tod herbeiführte. Es war ein Arbeiter, in dessen Wesen nicht ein Funke von dem lag, was man »Enthusiasmus für die Natur« nennt – er sehnte sich aber ganz rasend, »noch einmal zum Fenster hinauszusehen.« Seine Wärterin nahm ihn auf ihren Rücken und setzte ihn an's Fenster, um für einen Augenblick hinauszublicken. Die Folge davon war, daß die arme Wärterin ernstlich erkrankte, und fast gestorben wäre. Der Mann selbst erfuhr dies nie. Wohl aber wußten es viele andere Personen. Aber keiner derselben fiel es meines Wissens ein, daß die heiße Sehnsucht nach Abwechslung für das darbende Auge ebenso verzweifelt ist, als die heiße Sehnsucht nach Nahrung für den darbenden Magen, und daß sie in einem, wie in dem andern Falle das hungernde Geschöpf reizt, für ihre Befriedigung »zu stehlen.« »Verzweiflung« ist das allein passende Wort zur Bezeichnung dieses Zustandes. Wenn die Vorsteher und Wärter in einem Spital nicht dafür sorgen, daß der Kranke von seinem Bett aus irgend eine »Aussicht« habe, so zeugt dies ebenso von ihrer Unwissenheit und Dummheit, als wenn sie nicht daran denken würden, das Spital mit einer Küche zu versehen.

Sehr verbreitet ist, wie mir däucht, unter den Gesunden die irrthümliche Ansicht, daß die Kranken, wenn sie nur wollen, »quälende Gedanken, die ihren Zustand verschlimmern,« mit ein wenig Selbstbeherrschung verscheuchen können etc. Dem setze ich entgegen, und glaubt mir: Fast jede kranke Person, die sich anständig benimmt, übt in jedem Augenblick des Tages mehr Selbstbeherrschung aus, als ihr, bevor ihr selbst erkrankt, je begreifen werdet. Fast jeder Schritt durch sein Zimmer verursacht ihm Pein; fast jeder Gedanke, der sein Gehirn durchkreuzt, verursacht ihm Pein, und wenn er dabei, ohne wild zu sein, spricht, und ohne Unfreundlichkeit herumblickt, so zeigt er wohl Selbstbeherrschung.

Nimm an, du habest die ganze Nacht gewacht, und man sagte dir, wie du eben deine Tasse Thee nehmen wolltest, du sollest das sein lassen, und dich selbst beherrschen. Was würdest du dazu sagen? Nun sind aber die Nerven der Kranken stets in dem Zustande, in welchem sich die deinigen nach einer durchwachten Nacht befinden.

Schaffe dem Kranken Ersatz für die fehlende Handarbeit.

Natürliche Wirkung von Farben.

Dieser Zustand der Nerven kann sehr häufig dadurch gelindert werden, daß ihr dafür sorgt, ihnen verschiedene, verständig ausgewählte Blumen Wer je Kranke bewacht hat, wird nicht an der Tatsache zweifeln, daß einige Patienten bei dem Anblick von scharlachfarbenen Blumen Anregung, und beim Anblick dunkelblauer etc. Erschöpfung verspüren. und andere hübsche Gegenstände vor Augen zu stellen. Die heiße Sehnsucht nach Rückkehr des Tages, welche der Kranke Nachts beständig kundgibt, ist gewöhnlich nichts, als die Sehnsucht nach Licht, die Erinnerung an die Erleichterung, welche eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen, die man dann vor Augen hat, dem ermüdeten, kranken Geist gewährt.

Noch eins! Jeder Mann, jedes Frauenzimmer hat irgend welche bestimmte Handarbeiten; ausgenommen sind nur wenige Damen, die sich nicht einmal selbst ankleiden, und die in Betreff der Kraft ihrer Nerven in derselben Kategorie, wie Kranke stehen. Nun könnt ihr euch keine Vorstellung machen, welch eine große Erholung Handarbeit für euch selbst ist, und in welchem Grade der Mangel derselben die besondere Reizbarkeit, an welcher viele Kranke leiden, erhöht.

Eine kleine Nadelarbeit, ein wenig Schreiben, ein wenig Säubern wäre für den Kranken, der daran gewöhnt war, die größte Erholung, falls er nur im Stande wäre, so was vorzunehmen. Solche Arbeiten sind, obgleich ihr es nicht wißt, für euch selbst die größte Erholung. Lesen, oft die einzige Beschäftigung, die dem Kranken möglich ist, gewährt diese Erholung nicht. Erinnert euch an dies Alles, erinnert euch, daß ihr alle Abwechslung der Beschäftigung habt, die Kranke nicht haben können, und erinnert euch auch, daß ihr ihnen alle Abwechslung verschaffet, deren sie sich zu erfreuen im Stande sind.

Ich brauche hier kaum zu bemerken, daß ich wohl weiß, daß jedes Uebermaß bei Nadelarbeiten, Schreiben, oder bei jeder andern anhaltenden Beschäftigung dieselbe Reizbarkeit hervorbringen wird, welche Mangel an Handarbeit (als eine Ursache) bei Kranken hervorbringt.


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