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VI. Nahrung nehmen

Mangel an Aufmerksamkeit in Betreff der Stunden, in welchen die Kranken Nahrung nehmen.

Jeder sorgfältige Beobachter von Kranken wird einräumen, daß jährlich Tausende von Patienten mitten im Ueberfluß, der sie umgibt, vor Hunger umkommen, weil man die Mittel nicht beachtet, die allein es dem Kranken möglich machen, Nahrung zu nehmen. Dieser Mangel an Aufmerksamkeit ist ebenso auffallend bei Jenen, welche die Kranken nöthigen wollen, zu thun, was ihnen ganz unmöglich ist, als bei den Kranken selbst, welche nicht den Versuch machen wollen, das zu thun, was ihnen vollkommen möglich wäre.

So ist es beispielsweise den meisten schwachen Kranken ganz unmöglich, irgend eine feste Nahrung vor 11 Uhr Vormittags zu sich zu nehmen, und zwar selbst dann, wenn ihre Kraft durch Fasten bis zu jener Stunde noch mehr erschöpft ist. Schwache Patienten haben nämlich gemeiniglich fieberhafte Nächte und am Morgen einen trockenen Mund, und wenn sie mit diesem trockenen Munde essen könnten, so wäre es noch schlimmer für sie. Ein Löffel voll Fleischbrühe, Arrowroot (Pfeilwurz) und Wein, oder Eiertrank, allstündlich verabreicht, wird ihnen die nöthige Nahrung geben, und der Erschöpfung vorbeugen, die es ihnen sonst zu einer spätern Stunde unmöglich macht, die zu ihrer Wiedergenesung nothwendige feste Speise zu sich zu nehmen. Jeder Patient, der überhaupt in sich schlucken kann, kann auch, wenn er will, diese flüssigen Dinge schlucken. Wie oft aber hören wir, wie ein Hammelsrippchen, ein Ei, ein Bissen Speck zum Frühstück für einen Patienten bestellt wird, dem es (wie ein Augenblick Nachdenken zeigen würde), ganz unmöglich sein muß, solche Dinge zu dieser Stunde zu kauen.

Ein ander Mal erhält wieder eine Wärterin den Auftrag, einem Kranken eine Tasse voll von irgend einer Speise zu geben. Der Magen des Kranken weist sie zurück. Ist dies der Fall, so versuche es jede Stunde mit einem Eßlöffel voll, und wenn er auch den zurückweist, so versuche es jede Viertelstunde mit einem Theelöffel voll.

Hier ist es meine Pflicht, auszusprechen, daß nach meiner Meinung, aus Mangel an Aufmerksamkeit und Scharfsinn bei diesen wichtigen Einzelnheiten, mehr Patienten in der Privatkrankenpflege, als in öffentlichen Spitälern verloren gehen. In den letztgenannten Anstalten besteht auch, wie ich meine, mehr von entente cordiale oder herzlichem Einverständniß, sich gegenseitig zu unterstützen, zwischen dem Doktor und der Ober-Krankenwärterin, als in Privathäusern zwischen dem Arzt und den Freunden des Kranken zu finden ist.

Das Leben hängt oft in Betreff des Nahrungsnehmens an Minuten.

Wären wir nur mit den Folgen vertraut, welche sehr schwache Patienten durch zehn Minuten langes Fasten oder Anfüllen (ich nenne es Anfüllen, wenn sie wegen Unpünktlichkeit der Wärterin genöthigt sind, zu kurze Pausen zwischen dem Nahrungnehmen und irgend einer andern Anstrengung eintreten zu lassen) treffen können, so würden wir sorgfältig wachen, daß so was nie vorfalle. Bei sehr schwachen Patienten zeigt sich oft eine nervöse Schwierigkeit zu schlingen, die durch jede andere Anforderung an ihre Kräfte so sehr gesteigert wird, daß, wenn ihnen ihre Nahrung nicht pünktlich auf die Minute dargereicht, und diese Minute nicht wieder so gewählt wird, daß sie nicht mit der Beschäftigung in einer andern Minute zusammentreffe, sie nicht eher etwas genießen können, als bis ihre nächste Erholungsfrist eintritt, so daß eine Unpünktlichkeit oder ein Verzug von zehn Minuten sich sehr leicht als ein Verzug von zwei oder drei Stunden herausstellen kann. Warum ist es nun nicht ebenso leicht, auf die Minute pünktlich zu sein? Das Leben hängt buchstäblich an diesen Minuten.

In hitzigen Krankheiten, in welchen wenige Stunden über Leben oder Tod entscheiden, beachtet man, namentlich in Spitälern, in der Regel diese Dinge, und es gibt auch eine große Zahl von Fällen, in welchen Kranke durch außerordentliche Sorgfalt von Seiten des Arztes oder der Wärterin, oder Beider, in Verordnung und Darreichung von Nahrung mit genauester Auswahl und Pünktlichkeit, so zu sagen, in's Leben zurückgebracht wurden.

In chronischen Krankheiten werden die Kranken oft zu Tode gehungert.

In Betreff chronischer Krankheiten jedoch, die Monate und Jahre anhalten, wo der verhängnißvolle Ausgang zuletzt oft durch bloßes verlängertes Aushungern herbeigeführt wird, will ich die mir bekannt gewordenen Fälle, in welchen ein wenig Scharfsinn und ein großer Grad von Beharrlichkeit, aller Wahrscheinlichkeit nach, das schlimme Resultat abgewendet haben mochten, lieber gar nicht aufzählen. Das mit sich zu Rathe gehen, wenn der Patient im Stande ist, Nahrung zu nehmen, die Beobachtung der oft wechselnden Zeiten, in welchen er am meisten erschöpft ist, die Veränderung der Stunden, in welchen ihm seine Nahrung verabreicht wird, um so den Zeiten der großen Erschöpfung zuvorzukommen und sie abzuwenden – Alles dies, was Beobachtung, Scharfsinn und Ausdauer, ohne die es keine gute Wärterin gibt, erfordert, würde mehr Leben erhalten, als wir wissen.

Nahrung soll nie an der Seite des Kranken gelassen werden.

Des Kranken von ihm unberührte Nahrung von Mahlzeit zu Mahlzeit an seiner Seite lassen, und zwar in der Hoffnung, daß er in der Zwischenzeit essen werde, heißt einfach ihn verhindern, irgend etwas zu genießen. Ich kannte Kranke, die durch einen solchen Fehler aus Unwissenheit buchstäblich unfähig wurden, irgend eine Speise, die man ihnen nacheinander anbot, zu sich zu nehmen. Laßt die Nahrung zu rechter Zeit kommen, und laßt sie zu rechter Zeit wegnehmen, gleichviel, ob der Kranke davon genoß oder nicht; laßt aber nie, wenn ihr nicht wollt, daß er einen Widerwillen gegen jede Speise erhalte, irgend eine stets an seinem Bett zurück.

Ich sah, wie das Leben eines Patienten, dessen Kräfte aus Mangel an Nahrung rasch sanken, dadurch gerettet wurde, daß der Arzt ihn fragte: »Gibt es denn keine Stunde, in welcher Sie sich fähig fühlen, Nahrung zu nehmen?« – »O ja,« antwortete er; »ich könnte stets etwas um … Uhr und um … Uhr nehmen.« Die Sache ward versucht und gelang. Doch können Patienten sehr selten dies sagen; eure Sache ist's, die Augen zu öffnen und es auszufinden.

Am besten für den Patienten, wenn er keine andere Nahrung sieht, oder riecht, als seine eigene.

Ein Patient sollte wo möglich weder die Nahrung Anderer sehen oder riechen, noch von seiner eigenen eine größere Quantität, als er zu einer Zeit verzehren kann, vor Augen haben; sprechen soll er nicht von Nahrung hören, oder sie im rohen Zustande sehen. Wo dagegen gefehlt wird, da ruft man dadurch stets mehr oder weniger die Unfähigkeit des Patienten hervor, Nahrung anzunehmen.

In Krankensälen der Spitäler ist es selbstverständlich nicht möglich, dies Alles zu beachten, und in einzelnen Sälen daselbst, wo ein Kranker beständig und genau bewacht werden muß, ist es häufig unmöglich, die abwartende Person abzulösen, so daß sie ihr Essen nicht im Krankensaal selbst zu sich zu nehmen brauchte. Es ist jedoch nicht weniger wahr, daß in solchen Fällen das Vermögen des Kranken, Nahrung zu nehmen, auch ohne daß er es selbst bemerkt, dadurch beschränkt wird, daß er den Aufwärter vor seinen Augen essen sieht.

In einigen Fällen sind sich die Kranken dessen bewußt und beklagen sich. Eines Falles erinnere ich mich, während ich dies schreibe, wo man den Patienten für bewußtlos hielt, der sich aber, sobald er wieder fähig war, zu sprechen, darüber beklagte.

Gedenke jedoch, daß die äußerste Pünktlichkeit in wohlgeleiteten Spitälern, und die Vorschrift, daß im Krankensaal, während die Patienten ihre Mahlzeiten nehmen, nichts vorgenommen werden soll, viel dazu beitragen, um das mit dem Zusammensein von Kranken unvermeidlich verbundene Uebel aufzuwiegen. In Privathäusern sah ich jedoch oft die Wärterin im Krankenzimmer abstäuben, oder sich beständig hin und her bewegen, während der Kranke aß oder zu essen versuchte.

Je mehr man den Kranken, während er ißt, unbelästigt läßt, desto besser ist es für ihn; dies unterliegt keinem Zweifel. Selbst wenn er von der Wärterin gefüttert werden muß, soll sie ihm nicht gestatten, zu sprechen, soll sie auch selbst, während er ißt, nicht mit ihm sprechen: namentlich nicht über Eßsachen.

Ist eine Person durch Berufszwang genöthigt, ihre Geschäfte auch während ihrer Krankheit fortzusetzen, so sollte es unverbrüchliche Regel ohne alle Ausnahme sein, daß ihr Niemand, während sie ißt, Geschäfte bringe, oder mit ihr über wichtige Gegenstände bis zum letzten Augenblick ihres Essens rede, oder sie sogleich darauf mit einer Sache beschäftige; denn durch dies Alles kann das Gemüth des Kranken während seines Essens oder nach demselben beunruhigt werden.

Von der Beobachtung dieser Regeln, namentlich der zuerst angeführten, hängt oft überhaupt die Fähigkeit des Patienten ab, Nahrung zu nehmen, oder von ihr Nahrungsstoff zu empfangen, falls er anders so liebenswürdig ist, sich zum Essen zu zwingen.

In Betreff der Güte der Krankheit müßt ihr die größte Vorsicht beobachten.

Nie soll eine Wärterin ihrem Kranken sauer gewordene Milch, Fleisch oder Suppe von schlechter Beschaffenheit, oder ein faules Ei, oder nicht hinlänglich gekochtes Gemüse vorsetzen. Dennoch sah ich oft, wie man dergleichen Dinge von einer Beschaffenheit, welche mit Ausnahme der Wärterin jede Person mit ihrer Nase, ihrem Auge erkennen konnte, dem Kranken hereinbrachte. Hier wird sich die geschickte Wärterin zeigen; denn sie wird sich nicht darauf beschränken, keine solche der Gesundheit schädliche Kost hereinzubringen, sondern sie wird auch, um den Kranken nicht in seiner Erwartung zu täuschen, noch sonst Etwas in einigen Minuten schnell herbeischaffen. Erinnert euch, daß die Kochkunst für Kranke die Hälfte der Arbeit der schwachen Verdauung eures armen Patienten thun sollte. Wenn ihr sie jedoch mit euren schlechten Speisen noch mehr abschwächt, dann weiß ich nicht, was aus ihm oder ihr werden soll.

Ist die Wärterin ein verständiges Wesen, und nicht eine bloße Ueberbringerin von Speisen, die sie zu dem Kranken oder von demselben trägt, so zeige sie auch in diesen Dingen ihren Verstand. Wie oft sahen wir, daß ein Patient den ganzen Tag über nichts genossen hatte, weil er zu einer Zeit (wo er nicht zu essen vermochte) seine Kost ganz unberührt ließ, weil zu einer andern die ihm vorgesetzte Milch sauer war, und seine dritte Speise durch irgend einen Zufall ungenießbar wurde. Dabei fiel es der Wärterin nie ein, aus dem Stegreif ein Hülfsmittel gegen diesen Uebelstand anzuwenden; kam es ihr nie in den Sinn, daß der Kranke vielleicht, da er den Tag über keine feste Nahrung zu sich nahm, einen Bissen von gerösteten Brodschnitten etwa bei seinem Thee am Abend genießen möchte, oder daß er eine Speise eine Stunde früher haben sollte. Oft wird ein Patient, welcher um zwei Uhr sein Mittagessen nicht zu berühren vermag, es mit Freuden annehmen, wenn man es ihm um sieben Uhr bringt. Doch Wärterinnen denken nie an dergleichen. Man sollte meinen, sie halten sich gar nicht für verpflichtet, ihre Urtheilskraft zu gebrauchen; sie überlassen es dem Kranken, darüber nachzudenken. Nun ist es, wie ich sicher weiß, für den Patienten besser, lieber diese Vernachlässigungen zu dulden, als daß er versuchen sollte, seine Wärterin zu belehren, wie sie ihn abwarten soll, wenn sie selbst es nicht weiß. So was bringt ihn in Unordnung, und wenn er sich schlecht befindet, ist er auch nicht in der Lage, Lehren zu geben, am wenigsten in Betreff seiner selbst. – Die oben angeführten Bemerkungen beziehen sich weit mehr auf die Krankenpflege in Privathäusern, als auf die in Spitälern.

Die Wärterin muß in Bezug auf die Krankheit ihres Patienten nach einer überdachten Regel vorgehen.

Ich wollte der Wärterin sagen: handle in Bezug auf die Diät deines Kranken nach einer überdachten Regel; erwäge, bedenke, wie viel er heute schon von seiner Kost genoß, und wie viel er davon noch erhalten soll. Gewöhnlich richtet sich die Diät des Kranken in Privathäusern nach dem, was die Wärterin ihm eben geben kann. Wahr ist's, sie kann ihm nicht geben, was sie nicht bekommen hat; aber sein Magen kümmert sich weder um ihre Gemächlichkeit, noch selbst um ihre Dürftigkeit. Wenn dieser Magen, wie er gewohnt ist, heute seinen Antrieb (durch Nahrung) zu einer gewissen Stunde erhält, und ihn morgen nicht erhält, weil sie es unterließ, das betreffende Nahrungsmittel zu bekommen, so wird der Kranke darunter leiden.

Die Wärterin muß auch in Bezug auf die Zeit, in welcher ihr Kranker Nahrung braucht, Regelmäßigkeit beobachten.

Wie kann auch der Kranke, weil seine Wärterin heute nicht eine Speise erlangte, die er zu genießen vermag, vier Stunden auf Nahrung warten, da er gestern nicht zwei Stunden auf sie zu warten vermochte?

Dennoch ist die einzige Logik, die man gewöhnlich hört, die, daß man nicht geben könne, was man nicht hat. Ebenso verhängnißvoll ist aber die andere Logik, nach welcher die Wärterin ihrem Kranken etwas gibt, weil sie es eben bekommen hat. Hat sie zufällig frische Kraftbrühe oder frische Früchte, so wird sie ihm selbige oft eine halbe Stunde nach seinem Mittagessen, oder bei seinem Mittagessen geben, wo er möglicherweise dieses mit der Kraftbrühe nicht essen kann; oder sie wird, was noch schlimmer ist, sie an seinem Bett zurücklassen, bis ihn der Anblick derselben so anwidert, daß er alle Eßlust verliert.

Die Wärterin muß stets ihren Scharfsinn anwenden, um Mängeln abzuhelfen und Zufällen zu begegnen, welche auch bei der sinnreichsten Pflege nicht ausbleiben werden, von welchen aber der Kranke darum nicht weniger leidet, »weil man nichts dagegen thun kann.«

Sieh darauf, daß die Untertasse deines Kranken trocken bleibe.

Hier erwähne ich noch eine ganz kleine Vorsicht. Gebt Acht, daß ihr Nichts in die Untertasse eures Patienten verschüttet, oder mit andern Worten: gebt Acht, daß die äußere Boden-Einfassung seiner Schale ganz trocken und rein bleibe. Wenn er nämlich, so oft er die Schale an seine Lippen erhebt, den untern Theil derselben mit emporheben, oder die Flüssigkeit in dieselbe tröpfeln, und dabei sein Leintuch, oder sein Hemd, oder sein Kissen, oder wenn er aufrecht sitzt, seinen Anzug beschmutzen muß, so wirkt dies auf seine Behaglichkeit, und selbst auf seine Bereitwilligkeit, Nahrung zu nehmen, in einem Grade ein, von dem ihr keinen Begriff habt, da ihr sonst die kleine, hier nöthige Sorgfalt nicht vernachlässigen würdet.


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