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Anmerkungen zur Krankenpflege

Was Krankenpflege ist, und was sie nicht ist.

Krankheit, ein Wiederherstellungs-Prozeß.

Wollen wir damit beginnen, daß wir als allgemeinen Grundsatz annehmen: jede Krankheit ist in einer oder der andern Periode ihres Verlaufes mehr oder weniger ein Wiederherstellungs-Prozeß, der nicht nothwendig von Leiden begleitet wird: eine Anstrengung der Natur, einem Prozeß der Vergiftung oder des Verfalles abzuhelfen, welcher vor Wochen, Monaten, zuweilen vor Jahren, unbemerkt eingetreten, worauf dann die Beendigung der Krankheit, während der vorhergehende Proceß fortschritt, beschlossen wird?

Wenn wir das als allgemeinen Grundsatz annehmen, so wird man uns sogleich Anekdoten und Beispiele entgegen stellen, um das Gegentheil zu beweisen. Gerade so würde man, falls wir als Grundsatz aufstellten: Alle Zonen der Erde sind bestimmt, durch menschliche Anstrengungen für Menschen bewohnbar gemacht zu werden, sogleich den Einwurf erheben: Wird je der Gipfel des Mont Blanc bewohnbar gemacht werden? Unsere Antwort würde lauten: Es wird viele tausend Jahre brauchen, bevor wir in unserm Bestreben, die Erde gesund zu machen, den Fuß des Mont Blanc erreichen; wartet, bis wir den Fuß erreicht haben, bevor wir über den Gipfel disputiren.

Krankheit ist nicht immer die Ursache der Leiden der Kranken.

Bei Bewachung von Krankheiten in Privathäusern, wie in Hospitälern, fällt dem erfahrenen Beobachter der Umstand am stärksten auf, daß die Symptome (Merkmale) oder die Leiden, die man gemeiniglich für unvermeidlich oder zufällig mit der Krankheit verbunden hält, sehr oft keinesfalls Symptome der Krankheit sind, sondern irgend etwas ganz Verschiedenes anzeigen, nämlich Mangel an frischer Luft, oder an Licht, oder an Wärme, oder an Ruhe, Mangel an Pünktlichkeit und Sorgfalt in Verabreichung der Diät, oder an allen diesen Erfordernissen. Das kömmt eben so häufig bei der Krankenpflege in Privathäusern, als bei der Krankenpflege in Hospitälern, vor.

Der Wiederherstellungs-Prozeß, den die Natur eingesetzt hat, und den wir Krankheit nennen, ist dann durch irgend einen Mangel an Wissen oder Aufmerksamkeit in Betreff eines oder aller dieser Erfordernisse gestört worden, und es stellt sich Schmerz, Pein oder Unterbrechung des ganzen Prozesses ein.

Was Krankenpflege wirken sollte.

Wenn es einem Kranken kalt ist, wenn ein Kranker fieberhaft, wenn ein Kranker matt ist, wenn ihm, nachdem er Nahrung genommen, übel wird, wenn er sich wund gelegen hat, so rührt dies gemeiniglich nicht von der Krankheit, sondern von der fehlerhaften Pflege her. Ich gebrauche das Wort pflegen nur, weil mir kein besseres zu Gebot steht. Man hat den Sinn desselben beschränkt, so daß es wenig mehr, als Verabreichung von Arzneien und Anwendung von Umschlägen bedeutet. Es sollte jedoch den richtigen Gebrauch von frischer Luft, von Licht, Wärme, Reinlichkeit, sowie die gehörige Auswahl und Verabreichung der Krankenkost – alles bei größter Schonung der Lebenskraft des Kranken – in sich begreifen.

Die Pflege der Kranken noch wenig begriffen.

Man hat unzähligemale gesagt und geschrieben, jede Frau sei eine gute Krankenpflegerin. Ich im Gegentheil glaube, daß die eigentlichen Anfangsgründe der Krankenpflege nichts weniger als bekannt sind.

Damit meine ich nicht, daß die Krankenwärterin stets zu tadeln sei. Schlechte Anstalten in Betreff der Gesundheitszustände, schlechte Bauart, und schlechte Einrichtungen in der Verwaltung machen oft die Krankenpflege unmöglich. Doch die Kunst der Krankenpflege sollte solche Einrichtungen in sich schließen, ohne die eine Krankenpflege, wie ich sie verstehe, nicht möglich ist.

Wie die Kunst der Krankenpflege gegenwärtig ausgeübt wird, scheint sie geradezu darauf eingerichtet zu sein, der Krankheit die Bestimmung, ein Wiederherstellungs-Prozeß zu sein, die Gott ihr gab, zu entziehen.

Die Krankenpflege soll den Wiederherstellungsprozeß unterstützen.

Kommen wir jetzt auf den ersten Einwurf zurück. Wenn man uns fragt: »Ist diese oder jene Krankheit ein Wiederherstellungsprozeß?« – »Kann eine solche Krankheit auch ohne Leiden sich äußern?« – »Wird irgend eine Sorgfalt diesem Kranken dies oder jenes Leiden ersparen?« – dann sage ich demüthig: »ich weiß es nicht.« Wenn Ihr aber alle jene Schmerzen und Leiden entfernt habt, welche bei Kranken nicht Symptome ihrer Krankheit, sondern Merkmale der Abwesenheit eines oder aller der oben erwähnten wesentlichen Erfordernisse für den Erfolg des Wiederherstellungsprozesses der Natur sind, dann werden wir wissen, welche Symptome und Leiden von der Krankheit nicht getrennt werden können.

Eine andere Ausrufung der allergewöhnlichsten Art, die man sogleich hier machen wird, lautet: »Wollten Sie also nichts in Fällen von Cholera, Fieber etc. thun?« – So tief eingewurzelt und allgemein ist nämlich die Ueberzeugung, daß man Etwas oder eigentlich Alles thue, wenn man Arznei gibt, und daß man Nichts thue, wenn man für Licht, Wärme, Reinlichkeit u.s. w. sorgt. Die Antwort lautet: Bei den genannten, wie bei vielen andern Krankheiten ist der genaue Werth besonderer Heilmittel und Behandlungsarten noch keineswegs mit Sicherheit festgestellt, während man in Betreff der äußersten Wichtigkeit, welche eine sorgfältige Krankenpflege für die Bestimmung des Ausgangs der Krankheit hat, eine allgemeine Erfahrung besitzt.

Pflege der Gesunden.

II. Die eigentlichen Anfangsgründe der Kenntniß dessen, was wesentlich zu einer guten Pflege gehört, sind in Bezug auf Gesunde ebenso wenig bekannt, als in Bezug auf Kranke.

Dieselben Gesetze der Gesundheit oder Krankenpflege – denn sie sind in Wirklichkeit dieselben – herrschen unter den Gesunden wie unter den Kranken vor. Nur zieht die Verletzung derselben bei den Ersteren weniger heftige Folgen nach sich, als bei den Letzteren – und dies zuweilen, nicht immer.

Wenig verstanden.

Man wendet beständig ein: »Wie aber kann ich dies ärztliche Wissen erlangen? Ich bin kein Doktor. Ich muß das den Doktoren überlassen.«

Seltsame Folgerungen aus einer enormen Sterblichkeit.

O Familienmütter! Wißt ihr, die ihr so sprecht, daß in diesem zivilisirten Lande von England von je sieben Kindern eins zu Grunde geht, bevor es Ein Jahr alt wird? Daß in London zwei Kinder von je fünf sterben, bevor sie ihre Lebenszeit auf fünf Jahre brachten? Und in den andern großen Städten fast eins von je zweien? Aus dieser Thatsache hat man die wundersamsten Folgerungen gezogen. Eine geraume Zeit hindurch ging eine etwa wie folgt lautende Anzeige durch die Zeitungen: »Mehr als 25.000 Kinder unter zehn Jahren sterben jährlich in London, wir brauchen daher ein Kinderhospital.« – In diesem Frühjahr (1860) erschien ein Prospektus, wurden mehrere andere Vorkehrungen in folgender Absicht getroffen: »Frauen zeigen einen großen Mangel an Sanitätskenntniß, wir brauchen daher ein Frauenhospital.« – Nun, beide oben erwähnte Thatsachen sind leider wahr. Aber was folgte daraus? Die Ursachen der enormen Sterblichkeit der Kinder sind vollständig bekannt; sie liegen hauptsächlich in Mangel an Reinlichkeit. Mangel an Ventilation, Mangel an Kalktünche, in einem Wort, in einer mangelhaften Haushaltungs-Gesundheitspflege. Die Gegenmittel sind eben so gut bekannt; und unter denselben befindet sich gewiß nicht die Gründung eines Kinder-Hospitals. Dies mag ein Bedürfniß sein, gerade so, wie es in den Hospitälern an Raum für Erwachsene fehlen mag. Aber der General-Registrator wird gewiß nie auf den Einfall kommen, uns als eine Ursache der großen Sterblichkeit der Kinder, z. B. in Liverpool, anzugeben, daß es in den dortigen Spitälern keinen hinreichenden Raum für Kinder gebe, noch würde er uns als Heilmittel die Gründung eines Hospitals für sie aufdrängen.
Ich wiederhole es, Frauen, und die besten Frauen zeigen einen kläglichen Mangel an Kenntniß alles dessen, was die Gesundheit betrifft; obgleich in der ersten und letzten Instanz die Anwendung dieser Kenntniß, soweit die Gesundheitspflege des Hauses in Betracht kommt, von den Frauen erwartet werden muß. Wer aber wird je daran denken, sich auf Gründung eines Frauen-Hospitals zur Abhülfe dieses Bedürfnisses zu berufen?
Wir hörten in der That von einer sehr hohen Autorität, daß man einigermaßen befürchtet, ob nicht etwa Hospitäler, wie sie bisher gewesen, die Sterblichkeitsverhältnisse, namentlich bei Kindern, im Allgemeinen mehr erhöht als vermindert haben.

»Die Lebensdauer zarter Säuglinge ist« (wie irgend ein Saturn, der analytischer Chemiker wurde, sich ausdrückt) »die zarteste Probe der Gesundheitszustände.« – Ist all das frühreife Leiden und Sterben nothwendig? Oder beabsichtigte die Natur, Mütter stets von Doktoren begleiten zu lassen? Oder ist es besser, Klavier spielen zu lernen, als die Gesetze zu lernen, mit deren Hülfe man die Nachkömmlinge am Leben erhalten kann?

Macaulay sagt irgendwo, »es sei ganz auffallend, daß wir die Gesetze, nach welchen sich die Himmelskörper bewegen, obgleich diese so weit von uns entfernt sind, doch vollständig kennen, während die Gesetze des menschlichen Geistes, die den ganzen Tag und jeden Tag von uns beobachtet werden können, jetzt noch nicht besser begriffen seien, als vor 1000 Jahren.«

Doch um wie viel auffallender ist es, daß während gegenwärtig – was wir Lächerlichkeiten der Erziehung nennen möchten – jedes Schulmädchen in den Anfangsgründen der Astronomie unterrichtet wird, weder Familienmütter irgend eines Standes, noch Schullehrerinnen irgend einer Klasse, noch Kinderwärterinnen, noch Wärterinnen in Spitälern, irgendwie über jene Gesetze belehrt werden, nach welchen Gott die Beziehungen unserer Körper zu der Welt, in welche er sie setzte, regelte. In andern Worten: Man lernt gar nicht die Gesetze, welche diese Körper, in welche Gott unsere Seelen gesetzt hat, zu gesunden oder ungesunden Organen jener Seelen machen. Aber nicht genug, daß diese Gesetze, welche Gesetze des Lebens sind, nicht einmal in einem gewissen Grade bekannt sind; selbst Mütter halten es nicht der Mühe werth, sie einige Zeit zu studiren, zu studiren, wie sie ihren Kindern ein gesundes Leben geben können. Sie nennen das ärztliches oder physiologisches Wissen, das blos für Doktoren passe.

Ein anderer Einwurf. Man sagt uns immerwährend: »Wir können ja nicht die Umstände beherrschen, von welchen die Gesundheit unserer Kinder abhängt. Was können wir gegen Winde thun? Da ist der Ostwind. Die meisten Leute können, bevor sie des Morgens aufstehen, angeben, ob der Wind von Osten weht.«

Darauf kann man mit größerer Sicherheit, als auf die früher erwähnten Einwürfe antworten. Wer ist es, der weiß, daß es Ostwind gibt? Nicht der Hirt im Hochlande, der gewiß dem Ostwind ausgesetzt ist, wohl aber die junge Dame, die ganz erschöpft ist, weil man es eben vermeidet, sie der frischen Luft, dem Sonnenschein etc. auszusetzen.

Stellt Letztere in ebenso gute der Gesundheit günstige Verhältnisse, als sie Ersterer hat, und auch sie wird nicht empfinden, daß der Wind von Osten weht.


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