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Achtzehntes Kapitel.

Es war ein später Sommernachmittag. Die Sonne sandte lange, schräge Strahlen in die Zelle, in der Frau Bruhn wie gewöhnlich mit ihrer Arbeit beschäftigt war.

Plötzlich wurden laute Schritte auf dem Gange und das Rasseln von Schlüsseln hörbar. Die Gefangene blickte erstaunt auf. Der Laut verstummte vor ihrer Türe. Diese wurde geöffnet, und der Aufseher trat ein. Er hatte ein Paket unter dem Arm.

Hier sind Ihre Kleider, sagte er.

Der Gefangenen fiel es auf, daß er sie diesmal nicht, wie üblich, mit »du« anredete.

In einer halben Stunde müssen Sie angekleidet sein.

Darauf schloß er wieder die Tür.

Frau Bruhn öffnete erstaunt das Paket. Es waren ihre eigenen Kleider, dieselben, die sie mit ins Gefängnis gebracht hatte. Ein wunderbares Gefühl, daß sie wieder in die Welt hinaustreten durfte, packte sie, während sie sich schnell ankleidete.

Im Laufe von zehn Minuten war sie vollständig angezogen und wartete jetzt in der äußersten Spannung. War der Tag der Erlösung nahe? Unter welchen Bedingungen war aber die Freiheit erkauft, und waren alle ihre Leiden umsonst gewesen?

Endlich kam der Aufseher zurück, öffnete die Tür und bat sie, ihm zu folgen.

Noch einmal sah sie sich in dem kleinen Raum um, in dem sie jetzt ein halbes Jahr gelebt hatte. Die Sehnsucht nach der Freiheit hatte sie derartig gepackt, daß sie eine Rückkehr in ihre Zelle schwerlich ertragen hätte.

Sie schritten durch die langen Gänge und standen jetzt vor dem Bureau des Inspektors. Der Aufseher öffnete die Tür und ließ sie eintreten. Der Inspektor war ein großer, dunkelbärtiger Mann mit einem ernsten, bestimmten Ausdruck im Gesicht. Er schritt der Eintretenden wohlwollend entgegen.

Das Justizministerium hat uns den Befehl erteilt, Sie zu entlassen. Sie sind frei. Frei! Frau Bruhn verstand fast kein Wort. Sie hatte dagesessen und die Tage und Stunden berechnet, die sie hier noch zu dulden hatte, und da kam plötzlich diese Freiheitsbotschaft wie ein strahlender Stern, der in einer langen, dunklen Nacht am Himmel aufleuchtet.

Frau Bruhn war so überwältigt, daß sie sich setzen mußte.

Noch wußte sie nicht, welchem Umstande sie ihre Freilassung zu verdanken hatte, sie fragte aber nicht. Sie war sich schon darüber klar, von wem sie Aufschluß erbitten wollte. Für sie handelte es sich darum, daß sie möglichst schnell die Mauern der Strafanstalt hinter sich hatte. Es war fast, als fürchte sie, daß hier ein Mißverständnis vorliege.

Sie beschränkte sich darauf, daß sie dem Inspektor schweigend die Hand zum Abschied reichte. Dieser, der an die Erregung der Sträflinge bei einer plötzlichen Entlassung gewöhnt war, drang nicht weiter in sie, sondern trat an einen Schrank und öffnete eine Schublade:

Ich habe Ihnen noch eine Kleinigkeit mit auf den Weg zu geben, sagte er.

Darauf reichte er ihr ein zusammengefaltetes Papier. Frau Bruhn merkte, daß es Geld enthielt, und wußte nicht recht, was dies bedeutete.

Nehmen Sie es ruhig, sagte der Inspektor, es ist Geld, für das Sie sich ehrlich abgemüht haben. Es ist der Arbeitslohn, den Sie über den vorgeschriebenen verdient haben und der Ihnen wie jedem anderen Gefangenen gut geschrieben wird. Es sind im Ganzen dreizehn Taler und sieben Schillinge. Wollen Sie hier quittieren?

Frau Bruhn nahm die Feder und schrieb ihren Namen.

Darauf reichte ihr der Inspektor die Hand und sagte:

An Sie brauche ich die gewöhnlichen, warnenden Worte nicht zu richten. Ihren Aufenthalt hinter den düsteren Kerkermauern können wir nur beklagen.

Frau Bruhn drückte schweigend seine Hand und ging. Der Aufseher führte sie durch das Tor, das sich knarrend öffnete und dann schwer hinter ihr zufiel, als wolle es sie für immer von den vielen dunklen Erinnerungen trennen.

Frau Bruhn holte tief Atem und sog in einem langen Zuge die frische Sommerluft ein.

Darauf richtete sie ihre Schritte nach dem Hause des Geistlichen und klingelte dort. Die noch nicht erwachsene Tochter des Pastors öffnete. Sie war über diesen Besuch, der von der Strafanstalt kam, keineswegs erstaunt. Es war keine Seltenheit, daß die Freigelassenen, bevor sie wieder in die Welt hinaus traten, ihrem Seelsorger Lebewohl sagten und ihm für den Trost dankten, den er ihnen in den schweren Tagen ihrer Buße gespendet hatte.

Der Pastor empfing Frau Bruhn mit aufrichtiger Herzlichkeit und führte sie in sein Studierzimmer.

Die Fenster standen offen, und draußen aus dem Garten drang ein frischer Wohlgeruch von Blumen in das Zimmer.

Sehen Sie wohl, meine liebe Frau Bruhn, unser lieber Herrgott hat doch alles zum Besten gewandt.

Ja, das hat er getan. Ich glaube aber, Herr Pastor, daß Sie ihm dabei geholfen haben.

Der Geistliche nickte.

Aus Frau Bruhns Stimme klang aber ein gewisser Vorwurf, als sie sagte:

Ich hatte aber doch Ihr Versprechen, daß Sie mein Geheimnis nicht verraten wollten.

Gewiß, antwortete der Pastor entschieden. Ich gab Ihnen das Versprechen, aber nur unter der Bedingung, daß mein Schweigen sich mit meinem Gewissen vertrage.

Tat es dies denn nicht?

Nein, mein Gewissen gestattete mir nicht, es ruhig mit anzusehen, daß das einmal begonnene Lügengewebe weiter gesponnen wurde. Denn aus Lüge entsteht Lüge, selbst wenn sie scheinbar einem guten Zwecke dient. Die Wahrheit allein verbreitet Licht und Klarheit. Deshalb wandte ich mich vertrauensvoll an den Mann, der Ihnen nach Ihrer eigenen Aussage in den Tagen des Unglücks ein treuer, nie versagender Freund gewesen war. Und zusammen mit der Wahrheit kam auch das Licht, und es leuchtete in die Winkel hinein, die der Verdacht verpestet hatte und in denen auch Sie das kriechende Gewürm eines widerlichen Verbrechens witterten.

Was meinen Sie? fragte Frau Bruhn erstaunt.

Ich meine, daß Sie Ihren Mann fälschlich der Brandstiftung bezichtigt haben.

Frau Bruhns Gesichtsfarbe, die von der Gefängnisluft gebleicht war, wurde plötzlich aschgrau, ihre Augen starrten entsetzt, wie im Fieberwahn, und sie fragte tonlos:

Wer hat es denn getan?

Das weiß ich nicht. Meine Nachrichten sind nur unvollkommen, ich weiß aber so viel, daß der Brandstifter sich an Ihrem Gatten hatte rächen wollen, dessen vollständige Unschuld klar und deutlich bewiesen ist.

Frau Bruhn fiel in dem Stuhl des Anstaltsgeistlichen ganz zusammen. Sie hielt die Hände vor die Augen und weinte heftig. Er ließ sie ruhig sitzen, während er sie fast mit Wohlbehagen betrachtete.

Weinen Sie sich nur aus, weinen Sie sich nur aus. Die Tränen werden alle die schweren, dunklen Erinnerungen mit sich nehmen, und sie werden Ihrer Seele Frieden geben, Frieden mit sich selbst und Ihren Gedanken.

Frau Bruhns Schluchzen hatte aufgehört. Es war, als wenn ihr Stolz keine Zeugen ihrer Tränen duldete.

Erinnern Sie sich noch meiner Worte, als wir das erste Mal miteinander sprachen: Der Mensch soll nicht die Vorsehung spielen. Mit Gewalt haben Sie in den Gang der Begebenheiten eingegriffen. Wer weiß, wie der liebe Gott alles gefügt hätte, wenn die Abmachung ihm allein überlassen geblieben wäre. Wir sind selbst so kurzsichtig, daß es uns schwer wird, die Gedanken anderer zu erraten. Doch ich will Sie nicht verurteilen, aber ich habe die Sache an das Tageslicht gebracht, und der Herrgott hat alles zum Besten geführt; dafür sei ihm Dank und Ehre. Machen Sie sich jetzt aber so recht in Ihrem Herzen klar, wie weit Sie gefehlt und den Allmächtigen um Vergebung zu bitten haben.

Frau Bruhn schlug, ohne zu antworten, die Augen nieder.

Der Pastor fuhr mit Wärme in der Stimme fort:

Glauben Sie mir andererseits auch, liebes Kind, daß ich das große Opfer wohl zu würdigen verstehe, das Sie im guten Glauben, wenn auch nicht demütigen Herzens gebracht haben. Sie besitzen eine große Bereitwilligkeit Gutes zu tun, und deshalb möchte ich Ihnen in diesem Augenblick eine Sache so recht ans Herz legen.

Frau Bruhn blickte auf, und sie begriff, daß es sich hier nicht um allgemeine Redensarten handelte.

Der Geistliche fuhr fort:

Sie verlassen jetzt mit hocherhobener Stirn das Gefängnis. Sie werden mit offenen Armen empfangen werden. In den Augen Ihrer Mitmenschen werden Sie eine Märtyrerkrone auf Ihrem Haupte tragen, Sie werden selbst eine angesehene weltliche Stellung einnehmen und von keinerlei materiellen Sorgen gedrückt sein, und doch wird es Ihnen scheinen, als hätten Sie gelitten.

Denken Sie dann an diejenigen, die, vielleicht von Verzweiflung getrieben, zu Verbrechern geworden sind, die von Gewissensbissen geplagt werden und die am Tage ihrer Freilassung fast ohne Hilfsmittel dastehen, während alle ihnen den Rücken zukehren und sie wie Aussätzige meiden, durch deren Umgang sie die bürgerliche Achtung verlieren können. Denken Sie an diese Unglücklichen. Denken Sie daran, daß die Strafe keine Schande, sondern eine Versöhnung ist, daß die Schande aber in der Handlung liegt, und daß derjenige, der für seine Handlung nicht bestraft wird, doppelt schuldbeladen ist, während man ihm deshalb gewöhnlich verzeiht, weil das Gesetz ihm seinen Stempel nicht ausgedrückt hat. Ja, denken Sie an all dieses, und falls Sie auf Ihrem Hofe einen Platz für einen dieser Unglücklichen frei haben, so lassen Sie es mich wissen, und ich werde Ihnen einen von denjenigen senden, die von hier als wirkliche, reumütige Büßer in die Welt hinaus ziehen.

Ich werde tun, was in meinen Kräften steht, das verspreche ich Ihnen, erklärte Frau Bruhn fest.

Und dann ist da noch ein zweiter Punkt, fuhr der Pastor fort. Die Leute, denen Sie auf diese Weise helfen können, spielen selbstredend den Tausenden gegenüber, die jährlich freigelassen werden, ohne daß sie wissen, wie sie wieder zu einer ehrlichen Tätigkeit kommen sollen, eine nur untergeordnete Rolle. Deshalb müssen Sie Ihre Kräfte auch in den Dienst des großen Ganzen stellen, Sie müssen den »Hilfsverein für entlassene Strafgefangene« unterstützen. Von den weiblichen Sträflingen nehmen wir die jüngsten noch wenig verdorbenen in einem Erziehungsheim auf, bis wir ihnen eine passende Stellung schaffen, und versorgen sie ferner mit den notwendigen Kleidern.

Den übrigen helfen wir nach Kräften. Wir geben ihnen anfänglich freie Wohnung, sorgen für ihre Bekleidung und schaffen ihnen eine ihren Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit. Gelegentlich sorgen wir auch wohl für die Anschaffung einer Nähmaschine. Sie haben keine Ahnung, von welcher Bedeutung ein solches kleines Ding für ein armes Weib sein kann, das hier gelernt hat, ohne Rast und Ruhe vom frühen Morgen bis zum späten Abend zu arbeiten. Nun, Sie können ja aus eigener Erfahrung sprechen.

Frau Bruhn geriet bei den Worten des Geistlichen in starke Bewegung. Sie verstand besser als manche taube Ohren, zu denen er früher gesprochen hatte, von wie großer Bedeutung ein solcher philanthropischer Verein ist.

Ich glaube nicht, sagte sie, in die Tasche greifend, daß irgend ein Beitrag besser als dieser sprechen kann, und reichte ihm den kleinen Betrag, den ihr täglicher unermüdlicher Fleiß ihr eingebracht hatte.

Der Pastor nahm das Geld entgegen, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Auch er verstand, was diese kleine Summe Geldes für die Geberin bedeutete.

Frau Bruhn erhob sich und bot ihm die Hand.

Sie werden in Zukunft immer auf mich rechnen können. Und jetzt haben Sie Dank für alles Gute, Herr Pastor, ich hoffe, daß wir uns bald wieder sehen werden. Sie werden es begreifen, daß ich mich nach Hause sehne.

Das begreife ich, sagte der Pastor, aber – und er, der sie vor kurzem noch mit du angeredet hatte, wurde ganz verlegen.

Aber?

Vergessen Sie nicht, daß Sie jetzt ohne Reisegeld sind.

Danke sehr, sagte sie. Man hat mir mit meinen Kleidern mein Portemonnaie ausgehändigt.

So, sagte der Pastor. Sonst hätte es mir eine besondere Freude gemacht, wenn ich Ihnen das Nötige hätte vorstrecken können. Ich würde Ihnen diesen Dienst mit einem Lächeln geleistet und Sie würden ihn mit einem Lächeln angenommen haben, wie es unter gebildeten Menschen Sitte ist, die im Vertrauen zu einander sich gegenseitig aus kleinen Verlegenheiten helfen. Indessen gestatten Sie mir es wohl, daß ich meinerseits Ihnen zu einer schnelleren Heimkehr nach Hause behilflich bin.

Sie blickte ihn fragend an.

Ich lasse anspannen. Sie nehmen meinen Wagen. Dann erreichen Sie noch den Nachmittagszug.

Eine halbe Stunde später hielt die alte Kutsche des Anstaltsgeistlichen vor seiner Dienstwohnung und führte die ehemalige Strafgefangene der nächsten Bahnstation zu. Auf dem Bahnhof eilte der Gepäckträger herbei und, öffnete die Wagentür, während er höflich die Mütze lüftete. So natürlich es auch war, so machte es doch einen gewissen Eindruck auf Frau Bruhn. Sie sandte sofort eine Depesche nach dem »Seehof« ab, in der sie ihre Freilassung meldete und um einen Wagen nach dem nächsten Bahnhofe bat.

Frau Bruhn versank, während der Zug dahinrollte, in einen eigentümlichen Zustand der Schlaffheit. Die starke Sommerluft, die sie so lange nicht eingeatmet hatte, berauschte sie, und während alles um sie her ihr wie ein Traum vorkam, saß sie mit starrenden Augen ohne Sinn für die prächtige Landschaft da, die an ihr in einem ständig kreisenden Rundgemälde vorbeiflog.

Nach und nach wurde ihr die Gegend bekannter. Schließlich kannte sie jedes Haus, jeden Baum, an alles knüpften sich alte Erinnerungen, und sie merkte, daß sie in der Nähe ihres Heims war. Da erwachten alle ihre Lebensgeister von neuem mit doppelter Stärke, ihr Herz klopfte heftig, und sie fühlte eine sie fast erdrückende Freude bei dem Gedanken, daß sie jetzt wieder mit den Ihrigen vereint würde.

Endlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Der Zug hielt, und Frau Bruhn stieg aus. Kaum stand sie aber auf dem Bahnsteig, als zwei Arme sie fest umschlangen und sie einen brennenden Kuß auf ihrer Wange fühlte.

Es war Astrid, die ohne Rücksicht auf die vielen neugierigen Blicke, die sie begleiteten, die Mutter mit der ersten auflodernden Freude des Wiedersehens empfing. Den Arm um die Mütter gelegt, begleitete [er] sie an den Wagen, der vor dem Stationsgebäude wartete.

Frau Bruhn und Astrid wechselten kein Wort. Sie saßen still und Hand in Hand da, während sie durch die wogenden Felder dahinfuhren. Der Eindruck war noch zu stark und die Gedanken zu mannigfaltig, als daß sie sie äußern mochten.

Die Mitteilung von der Rückkehr der Frau Bruhn, auf der jetzt nicht mehr der geringste Verdacht ruhte, hatte sich inzwischen auf dem »Seehofe« und in der nächsten Nachbarschaft verbreitet. Als der Wagen in die Nähe des Hofes kam, war hier und da geflaggt, und die Bewohner standen an ihren Gartenzäunen, hoben die Kinder in die Höhe und schwenkten ihre Tücher. Als Frau Bruhn auf dem »Seehofe« vorfuhr, wurde sie von den Gutsleuten mit dem Inspektor an der Spitze empfangen.

Dieser trat vor, und in seiner Stimme lag eine tiefe Bewegung, als er sagte: Wir alle rufen der gnädigen Frau ein herzliches Willkommen zu.

Frau Bruhn reichte tiefgerührt dem Inspektor die Hand. Es war ihr aber unmöglich, ein Wort über die Lippen zu bringen.

Astrid führte sie die hohe Treppe hinauf in den Vorraum, wo sie sich eigenartig fremd umschaute.

Als sie das Wohnzimmer betrat, wurde sie von dem Oberst und dessen Sohne empfangen. Der alte Soldat, der sonst nicht so leicht gerührt war, hatte Tränen in den Augen, und während er auf sie zueilte, ergriff er ihre beiden Hände und drückte sie fest und warm.

Haben Sie vielen Dank für alles, was Sie für mich getan haben, sagte Frau Bruhn gerührt, und als sie des jungen Offiziers ansichtig wurde, rief sie freudig überrascht aus: Nein, Holger, Sie sind es? Es freut mich aufrichtig, Sie wiederzusehen.

Frau Bruhn begab sich auf ihr Zimmer. Als sie wieder zurückkam, trug sie ein schwarzseidenes Kleid, das ihr Antlitz noch weißer machte. Ihre Haltung war gerade, ihr Wesen ruhig, das Selbstbewußte aber, das dem Oberst bei seinem Besuche im Gefängnis aufgefallen war, war verschwunden und einer tiefen Trauer gewichen, die unwillkürlich Achtung einflößte.

Die Tafel war festlich gedeckt und mit Lichtern und Blumen geschmückt.

Als der Oberst Frau Bruhn den Arm bot, und sie ins Speisezimmer führte, wurden ihre Augen feucht, dabei strahlten sie aber doch in einem eigenartigen, wehmütigen Glanze, der nur zu deutlich verriet, welch freudige Ueberraschung ihr dieser feierliche Empfang bereitete.

Bei Tische herrschte eine gedrückte Stimmung. Die Worte fielen einzeln und gezwungen, und es war schwierig, eine allgemeine Unterhaltung in die Wege zu leiten. Frau Bruhn wünschte offenbar nicht über den Verstorbenen zu sprechen.

Der Oberst, der gern ein erfreulicheres Thema anschlagen wollte, sagte deshalb:

Der Dank, den Sie vorhin an mich richteten, gebührte eigentlich meinem Sohne. Als er aus Frankreich zurückkehrte und erfuhr, was sich inzwischen hier zugetragen hatte, sah er sofort, daß das Ganze nicht mit richtigen Dingen zugegangen war. Er nahm die Sache in die Hand, und es gelang ihm, neue Beweise herbei zu schaffen und den Amtsgerichtsrat zur Wiederaufnahme des Verfahrens zu bestimmen.

Frau Bruhn nickte dem jungen Offizier zu und sagte mit einem Lächeln, dem ersten, das seit ihrer Rückkehr auf dem »Seehof« ihre Lippen umspielte:

Und jetzt fordert der Herr Leutnant seinen Lohn.

Ja, sagte der Oberst schnell, das tut er. Ich erlaube mir, in seinem Namen bei Ihnen um Astrids Hand anzuhalten.

Ihr wißt ja, daß ihr meine Zustimmung habt, sagte Frau Bruhn mit bewegter Stimme. Ihr wißt ja auch, daß die Aussicht auf diese Verbindung mich in erster Linie zu dem verhängnisvollen Entschlusse brachte.

Astrid erhob sich und küßte die Mutter auf die Stirn, während Holger still, fast traurig neben ihr stehen blieb.

Und jetzt, sagte Frau Bruhn und erhob sich, haben wir eine heilige Pflicht zu erfüllen, die keinen weiteren Aufschub gestattet.

Der Oberst blickte sie erstaunt an.

Laßt uns jetzt einen Besuch bei dem machen, den wir alle in diesem Augenblick vermissen. Ich bedarf seiner Verzeihung und die Kinder seines Segens.

Frau Bruhn warf einen leichten Mantel über. Es fing bereits an dunkel zu werden, als alle vier den verhältnismäßig kurzen Weg zum Kirchhof einschlugen, der am Fuße der Anhöhe lag. Ein starker, süßlicher Duft von Buchsbaum und Flieder drang ihnen hier entgegen. Totenstille herrschte zwischen den Gräbern.

Als sie das Grab des Gutsbesitzers erreichten, wo Rosen und Farnkräuter zwischen welken, gebräunten Kränzen hervorschauten, bemerkte der Oberst, der Frau Bruhn führte, daß ihre Füße den Dienst versagten. Er wollte sie stützen, sie ließ sich aber am Grabe in die Kniee sinken.

Lange blieb sie in dieser Stellung liegen, während die andern andachtsvoll hinter ihr standen. Der Oberst entblößte das Haupt, und der Sohn folgte seinem Beispiel.

Schließlich erhob Astrid die Augen, und je länger sie die unbewegliche Gestalt der Mutter vor sich betrachtete, desto größer wurde ihre Angst. Unwillkürlich mußte sie an den Tod des Vaters denken. Es wollte ihr scheinen, als sähe sie sein bleiches Antlitz, und von einer übernatürlichen Angst ergriffen, trat sie einen Schritt vor und rief mit bebender Stimme:

Mutter! Mutter!

Frau Bruhn erhob sich mühsam. Ihre Augen leuchteten in dem weißen, marmornen Gesichte mit einem eigentümlichen Glanze, der zu verraten schien, daß die Seele weit fort von hier von ihrer geistigen Mission in Anspruch genommen war, daß sie die körperliche Hülle fast verlassen hatte. Einen Augenblick blieb sie stehen, als kehre das Leben aus einer anderen Welt zu ihr zurück, dann sagte sie mit einer eigentümlich trockenen Stimme, die aus der Ferne zu kommen schien:

Er hat uns vergeben.

Sie nahm den Arm des Obersten, und langsam verließen sie den Friedhof.

Holger Moe und Astrid gingen voraus, der Oberst und Frau Bruhn folgten ihnen.

Der Mond war aufgegangen. Seine Strahlen leuchteten mit einem milden, bleichen Glanze und warfen die dünnen Schatten der Bäume und Büsche über die Landstraße.

Frau Bruhn stützte sich schwer auf den Arm des Freundes, und während ihr Blick den beiden Gestalten vor ihr folgte, die sich wie schwarze Silhouetten gegen den klaren Sommerhimmel abzeichneten, sagte sie mit einem feierlichen Ernst in der Stimme:

Wir beiden Alten haben uns noch viel zu sagen.

Der Oberst nickte, und in tiefer, eingehender Unterhaltung schritten Frau Bruhn und ihr ehemaliger Anbeter in der klaren Mainacht dahin, deren funkelnde Sterne den Weg der jungen Liebenden erleuchteten.

An einem strahlenden Maitage des folgenden Jahres hielten zwei Wagen vor der kleinen Dorfkirche.

Als die Kirchenglocken zu läuten begannen, führte der Oberst Fräulein Astrid Bruhn durch die Kirche.

Der Geistliche, der im Zuchthause Frau Bruhns Seelsorger gewesen war, hatte auf ihren Wunsch die Trauung übernommen, und er versäumte die ihm dargebotene Gelegenheit nicht, um die Saiten zu berühren, die in den Herzen seiner Hörer in besonders lebhafte Schwingungen geraten mußten.

Während der ganzen Rede saß Frau Bruhn mit geschlossenen Augen da. Sie hatte das Bedürfnis, die Wahrheit dieser Worte, die ihr ihre Vergangenheit vor Augen führten, ganz zu erfassen.

Als die kirchliche Handlung vorüber war, fuhr das Brautpaar voraus.

Im zweiten Wagen sahen Oberst Moe und Frau Bruhn.

Beide befanden sich in einer gewissen feierlichen Stimmung, und es dauerte einige Zeit, bis sie Worte zum gegenseitigen Austausch ihrer Gedanken fanden.

Schließlich sagte Frau Bruhn, während sie die Hand des Obersten leicht berührte: Jetzt glaube ich, daß wir beiden Alten das größte Glück erreicht haben, das uns überhaupt auf Erden zuteil werden kann.

Vielleicht! antwortete der Oberst.

Was meinen Sie damit? fragte Frau Bruhn verwundert.

Er richtete sich stramm im Wagen auf. Aus Anlaß des Tages trug er zum ersten Male wieder Uniform. Er sah mit seinem leicht ergrauten, kräftigen Schnurrbart noch gut aus, und dessen war er sich bewußt.

Ich meine, sagte er, daß sich mein Jugendtraum, an dem ich so lange Jahre festgehalten habe, vielleicht doch noch verwirklichen läßt.

Frau Bruhn blickte ihn fragend an.

Sie wissen, meine hochverehrte gnädige Frau, daß ich von meinen jüngsten Tagen an eine Liebe für Sie nährte, die sich im Laufe der Jahre in aufrichtige Ergebenheit und Hochachtung verwandelt hat. Ich war Ihres Mannes bester Freund, und ich glaube, daß ich das ihm vor seinem Tode gegebene Versprechen, für Sie und Astrid zu sorgen, nicht besser halten kann, als wenn ich ganz an seine Stelle als Gatte und Vater trete. Dieser mein Wunsch entstammt nicht einer augenblicklichen Laune, sondern ist lange und gründlich erwogen.

Frau Bruhn blickte zum Oberst hinauf, und ihre Augen nahmen einen eigentümlichen Ausdruck an.

Sie sind immer ein Gemütsmensch gewesen, Moe, und deshalb sind Sie überall gern gesehen. Ihr gutes Herz hat mir so manche Dienste erwiesen, die ich nie vergessen und wohl schwerlich je vergelten kann. Ist Ihnen aber heute an mir nichts aufgefallen?

Der Oberst betrachtete Frau Bruhn genau, er wußte aber nicht, worauf sie hinzielte.

Sehen Sie nicht, daß ich selbst an diesem Tage der Freude und des Glücks in Trauer gehe?

Der Oberst schlug die Augen nieder.

Begreifen Sie nicht, lieber Oberst, daß ich das ganze Leben hindurch Alfred Bruhns Witwe bleiben und mich in Einsamkeit auf ein tieferes und innigeres Verständnis des Charakters meines verstorbenen Mannes, den ich während seines Lebens in meiner Kurzsichtigkeit nicht durchschaute, vorbereiten muß? Wir haben alle einen Schatten auf sein Tun und Treiben geworfen, alle mit einer Ausnahme, und die bilden Sie. Wenn ich heute gefragt werde, weshalb ich die Schuld auf mich nahm und weshalb ich bestraft wurde, so kann ich nur erklären, daß die Veranlassung zu dem Unglück in dem beleidigenden Verdachte lag, den wir ohne jeden Grund gegen Bruhn hatten.

Der Oberst saß niedergeschlagen da, dann sagte er:

Ja, Sie haben recht, Frau Bruhn. Ich habe mir die bestehenden Verhältnisse nicht ganz klar gemacht. Oft habe ich übrigens darüber nachgedacht, daß Bruhns Tod etwas Symbolisches hat. Er, der große starke Mann mit dem lebhaften Temperament, ist ein Opfer vielfacher Mißverständnisse und zu vieler kluger Gedanken geworden, die er mit seinem einfachen, graden Gemüt gar nicht verstand. Er erscheint mir als Vertreter einer stärkeren Zeit, deren Männer länger lebten, gesünder, robuster und naiver waren als die heutige Generation.

Frau Bruhn nickte vor sich hin und sagte:

Ich habe Sie so oft um einen Dienst gebeten, der nicht immer der angenehmsten Art war. Jetzt will ich Sie dafür um etwas bitten, das Sie mit Freude und großem Vergnügen übernehmen werden.

Es war mir stets angenehm, wenn ich –

Das weiß ich, lieber Oberst. Ich kenne ja Ihr gutes Herz. Doch hören Sie mich.

Der Oberst lauschte gespannt.

Vor einigen Monaten, fuhr Frau Bruhn fort, erschien hier ein außerordentlich liebenswürdiger Herr. Es war der Bevollmächtigte der Feuerversicherungsgesellschaft. Er teilte mir mit, daß mein verstorbener Mann sich seinerzeit der Gesellschaft gegenüber verpflichtet habe, ihr den Verlust, den ich ihr nach meiner Aussage zugefügt hätte, zurückzuerstatten.

Ich weiß es, sagte der Oberst, es war ein hübscher Zug von ihm.

Ja, das war es, sagte Frau Bruhn ernst. Als ich die Nachricht erhielt, hätte ich schon alles in Bezug auf Astrids Mitgift geordnet, was mir nicht schwer wurde, da ich ja in den letzten Jahren fast nichts gebraucht hatte und ich auch in Zukunft größere Ausgaben nicht machen werde. Der Agent der Gesellschaft gab mir nicht nur Bruhns Schuldschein zurück, sondern er zahlte mir auch die Summe aus, die Bruhn bis dahin abgetragen hatte. Da ein Fremder der Täter war, habe die Gesellschaft allein den Brandschaden zu tragen.

Das war äußerst kulant.

Gewiß, und ich habe es auch anerkannt. Nun möchte ich aber den Betrag gern dazu verwenden, daß Bruhns Name der Nachwelt erhalten bleibt, und ich beabsichtige, eine Alfred Bruhn-Stiftung zu errichten, mit deren Mitteln solche Leute unterstützt werden, die unverschuldet in Untersuchungshaft kommen. Wollen Sie die Verwaltung dieses Fonds übernehmen und mir einige andere Herren nennen, die sich neben Ihnen der guten Sache widmen möchten?

Der Oberst ergriff die Hand seiner alten Freundin und drückte sie.

Mit Freuden werde ich meinem alten Freunde dieses Denkmal errichten, sagte er, und ich danke Ihnen für das Vertrauen, das Sie mir damit erweisen.

Frau Bruhn zog leise die Hand zurück und sagte: In der Strafanstalt habe ich erfahren, wie viel für die entlassenen Strafgefangenen getan wird, die man auf den rechten Weg bringen will. Niemand denkt aber an diejenigen, die durch den Unverstand eines kurzsichtigen Richters oder durch das unglückliche Zusammentreffen von Umständen unverschuldet in Untersuchung geraten. Selbst dann, wenn wir diese Aermsten, was zu hoffen ist, einst staatlich entschädigen, wird für die Privatmildtätigkeit auf diesem Gebiete noch viel zu tun übrig bleiben, um das Unglück und die Not zu mildern, die die Begleiter einer unverschuldeten Untersuchungshaft sind.

Der Oberst nickte zustimmend, ohne zu antworten. Darauf schwiegen beide, während sie Seite an Seite dem Seehofe zufuhren.

Frau Bruhn ist jetzt eine alte Dame mit schneeweißem Haare. Auf dem Hofe hegt man eine fast abergläubische Ehrfurcht vor ihrer eigenartigen, steifen Gestalt und ihren wunderbaren, tiefen Augen, deren Glanz noch rätselhafter und undurchdringlicher geworden ist.

Unter den Leuten gibt es aber auch manche, die mit besonderer Dankbarkeit zu ihr emporschauen. Denn das dem Prediger gegebene Gelübde hat sie gehalten. Viele, die aus Furcht vor neuen Versuchungen dem Tage ihrer Freilassung mit Hangen und Bangen entgegensahen, hat sie bei sich aufgenommen. Ein einzigesmal ist sie enttäuscht worden, an ihren übrigen Schützlingen hat sie dafür aber feststellen können, daß nicht selten derjenige, den der Arm des Gesetzes mit seiner schweren Hand trifft, dermaleinst ein tüchtiges Mitglied der menschlichen Gesellschaft wird.

In ihrem Familienkreise wird sie von den älteren mit der größten Ehrerbietung behandelt, während ihr die Jugend eine gewisse, mit Neugierde gemischte Bewunderung zeigt. Es ist das größte Vergnügen der kleinen Enkelkinder, wenn die Großmutter Geschichten aus der Strafanstalt erzählt. Die Großmutter scherzt aber nie mit dem Gefängnis und seinem Ernst, in ihren Worten liegt immer eine tiefe und ermahnende Moral Doch in der Nacht, wenn alles ruhig ist, kann sie oft stundenlang daliegen, vor sich hinstarren und über das Unglück nachdenken, das nur zu leicht entsteht, wenn in der Ehe nicht unbedingtes Vertrauen und volle Einigkeit herrschen.

 


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