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Achtes Kapitel.

Der Oberst Moe war über den Inhalt des Schreibens in starker Erregung. In tiefbewegter Gemütsstimmung ging er in seinem Arbeitszimmer auf und ab, und da er niemand hatte, dem er sich anvertrauen mochte, rief er seine Haushälterin herein und beauftragte sie, zum Fuhrmann zu gehen und einen Wagen zu bestellen.

Ich habe einen sehr traurigen Auftrag auszuführen. Ich muß nach »Seehof« hinaus und der Familie Mitteilen, daß Herr Rittmeister Bruhn verhaftet ist.

Habe ich es nicht gesagt? rief die Wirtschafterin aus.

Was haben Sie gesagt? Wie können Sie sich unterstehen? Es ist das letztemal, daß ich solche Unverschämtheiten hier im Hause dulde.

Die Haushälterin verschwand lautlos.

Der Oberst fuhr fort, im Zimmer auf und nieder zu gehen. Eigentlich mußte er jetzt Toilette machen. Ah! Heute Abend war wohl niemand da, der auf seinen Anzug besonders achtete. Dazu war seine Mission zu traurig. Er hätte etwas dafür gegeben, wenn dieser Auftrag ihm erspart geblieben wäre. Er hatte seine Jugendschwärmerei immer noch nicht ganz überwunden. Und jetzt sollte er ihr eine solche Botschaft überbringen! Aber gerade in den Stunden der Angst und Trauer bedarf man der guten Freunde. Daß er ein solcher war, konnte er jetzt zeigen, ebenso wie er dem Freunde den Beweis liefern wollte und mußte, daß er von seiner Unschuld fest überzeugt war.

Er beeilte sich mit seiner Toilette, damit Frau Bruhn die erste Nachricht aus seinem Munde erhielt.

Ungeduldig blieb er in der Haustüre stehen. Die Haushälterin war noch nicht wieder da. Wo mochte sie nur stecken? Auch von dem Wagen war noch nichts zu sehen.

Während er nervös vor sich herbrummte und ungeduldig mit dem Fuße stampfte, sah er den Referendar auf der anderen Straßenseite vorbeigehen. Er winkte ihn eifrig zu sich heran. Der junge Mann kam herüber und grüßte verbindlich.

Das ist ja entsetzlich! rief der Oberst aus.

Der Referendar, der anfänglich Lust hatte, sich so zu stellen, als wisse er nicht recht, worauf der Oberst hinziele, zog bedauernd die Achseln und sagte:

Ja, es ist sehr traurig.

Sie müssen ja Näheres wissen. Erzählen Sie mir, bitte. Kommen Sie hierher, in den Torweg.

Der junge Referendar glaubte, dem hochgestellten Offizier gegenüber schon etwas offener sein zu dürfen, als er sonst gewesen wäre. Außerdem war ihm die ganze Art und Weise, wie der Kriminalrichter mit den in Untersuchung Befindlichen umging, durchaus unsympathisch. Und so erzählte er denn so ziemlich alles, was er wußte.

Der Oberst, den sein Bericht tief erschütterte, verabschiedete sich ziemlich kurz von ihm. Er hatte das Bedürfnis, für sich allein zu sein und sich zu sammeln. Seine Aufgabe war jetzt doppelt schwer, denn sein bisheriges Vertrauen war schwankend geworden, und er fühlte, daß er kaum noch mit der ganzen Kraft der Ueberzeugung sprechen konnte.

Endlich kam der für ihn bestimmte Wagen. Je mehr er sich auf dem bekannten Weg dem »Seehofe« näherte, desto nervöser wurde er, und Worte und Gedanken gingen ihm wirr im Kopf umher.

Der Wagen fuhr über den Hof.

Dort herrschte die angstvoll gedrückte Stimmung der Wartenden. Eine wunderbare Ruhe, die bange jedem Laute lauscht, die durch jeden Ton aufgeschreckt wird, und die in eine tote, stumme, qualvolle Stille zurückfällt, sobald man sich darüber klar geworden ist, daß dasjenige, was man erwartete, ausbleibt.

Sobald der Wagen über die weiche Erde der Allee hinglitt und über den Fahrdamm rasselte, wurde überall, wie von einem elektrischen Funken, Licht angezündet. Türen wurden knirschend aufgestoßen, Fenster geöffnet, Holzpantoffeln klapperten, und die Hunde rasselten an ihren Ketten, als fühlten die Tiere gleichfalls instinktiv, daß etwas Ungewöhnliches in der Luft lag.

Das unerwartete Fuhrwerk, das jetzt vorfuhr, erregte die Aufmerksamkeit des ganzen Hofes.

Der Stallknecht kam in aller Eile herbeigestürzt, und als er die ihm wohlbekannte Gestalt des Obersten sah, nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, als erwarte er von ihm Auskunft über den Verbleib des Gutsherrn.

Sind die Damen zu Hause?

Jawohl, Herr Oberst!

Der Mensch hatte in seiner Verwunderung den Mund weit aufgerissen, dabei aber ganz vergessen, seine Mütze zu ziehen, während er mit den Augen dem Kommandeur folgte, der langsam die steinerne Treppe hinaufschritt.

In diesem Augenblick zeigte sich Astrids Gesicht oben in der weitgeöffneten Tür. Sobald sie den Oberst erkannte, stürzte sie auf ihn zu, und während eine bange Ahnung sich ihrer bemächtigte, rief sie aus:

Haben Sie den Vater mitgebracht?

Nein, mein Kind!

Wo ist er? Was haben sie mit ihm gemacht? Sagen Sie mir alles, aber bitte schnell. Ich sterbe sonst vor Angst und Schreck.

Der Oberst drückte sie vorsichtig durch die Tür. Die Leute fingen bereits an, sich näher heranzudrängen, um, wenn möglich, jeden Ton aufzufassen, der in das Dunkel dringen mochte, das über ihnen allen schwebte.

In der Leutestube schwirrten allerlei Vermutungen und Gerüchte, während man sich gierig über den fremden Kutscher herstürzte, dessen Mitteilungen aber so dürftig waren, daß sie schnell das begonnene Interesse wieder abschwächten.

Kaum hatte der Oberst die Tür hinter sich geschlossen, als sie von der entgegengesetzten Seite geöffnet wurde und die Frau des Hauses sich im Lampenscheine vom Wohnzimmer aus still und mit einer eigenartigen, fast verklärten Ruhe auf der Schwelle zeigte. Es schien zweifellos, daß sie jetzt Klarheit schaffen würde. Ihr erstes war, daß sie den vor Erregung fast atemlosen Oberst, der sich noch nicht einmal seines Mantels entledigt hatte, von der ununterbrochen fragenden Astrid befreite.

Liebes Kind, sagte sie, geh' so lange ins Speisezimmer. Ich möchte mit dem Herrn Oberst sprechen.

Ihre Stimme drückte eine solche Entschiedenheit aus, daß Astrid ihr sofort gehorchte. Das junge Mädchen entfernte sich, sie hatte aber kaum das Speisezimmer betreten, als sie auf einem der Stühle niedersank. Sie legte laut schluchzend die Arme auf den Tisch und verbarg den Kopf in ihnen.

Frau Bruhn ließ den Obersten eintreten und bat ihn mit einer leichten Kopfbewegung, Platz zu nehmen. Er blickte in dem gemütlichen Raum umher, wo er so oft Gast seines Freundes gewesen war, der jetzt in der kalten, unheimlichen Zelle saß, und seine Verwirrung nahm derartig zu, daß er nicht wußte, wo er seinen Bericht beginnen sollte.

Frau Bruhn tat, als bemerke sie seine Verlegenheit nicht. Nachdem er sich einigermaßen gefaßt hatte und Herr über sich und seine hereinbrechenden Gefühle geworden war, blickte sie ihn mit ihren kalten, durchdringenden Augen scharf und ruhig an und sagte, fast als ob es ganz selbstverständlich wäre:

Bruhn ist verhaftet. Nicht wahr?

Er hob den Blick erstaunt zu ihr auf, schlug ihn aber schnell wieder nieder. Hier halfen keine Umschweife, und dieser Charakter bedurfte weder seiner einleitenden Bemerkungen noch seines Trostes:

Ja, sagte er tonlos.

Die in so kurzen Worten erhaltene Gewißheit machte auf Frau Bruhn doch einen tiefen Eindruck. Sie schwieg einige Augenblicke, rückte ungeduldig auf dem Stuhle hin und her, schien dann aber plötzlich ihre Selbstbeherrschung wieder zu erlangen.

Wissen Sie etwas Näheres?

Ja – einiges.

Nun, so lassen Sie uns ganz offen miteinander sprechen. Haben Sie irgend eine direkte Nachricht von meinem Manne?

Ja, ich habe einen Brief von ihm, den er mir mit Erlaubnis des Richters gesandt hat.

Haben Sie den Brief bei sich?

Ja.

Lassen Sie ihn mich lesen.

Der Oberst reichte ihr den Brief. Sie las ihn langsam, Wort für Wort, durch.

Als sie fertig war, ließ sie ihn in den Schoß sinken und sagte nachdenklich:

Glauben Sie, daß der Kriminalrichter den Brief gelesen hat?

Ich glaube es nicht, obgleich er, soweit ich weiß, dazu berechtigt ist.

Es ist nicht wahrscheinlich, daß ein solcher Brief, der doch dem Richter unter Umständen eine gute Charakteristik des Verdächtigen gibt, ungelesen aus dem Gefängnis gehen sollte.

Frau Bruhn wandte und drehte den Brief nach allen Seiten und entdeckte schließlich die Stelle, an der er geöffnet worden war.

Ohne etwas zu sagen, nickte sie

Haben Sie mit dem Richter gesprochen?

Nein!

Sie wissen also gar nicht, was im Verhör zu Tage gekommen ist?

Ja – teilweise.

Woher das?

Ich sprach den Referendar, der das Protokoll führte.

Wissen Sie, weshalb die Verhaftung erfolgt ist?

Ungefähr.

Sagen Sie mir alles, was Sie wissen, und verschweigen Sie nichts. Vielleicht ist noch Rettung möglich. Wir dürfen nur unsere Ruhe und Kaltblütigkeit nicht verlieren.

Der Oberst holte tief Atem. Was er jetzt mitzuteilen hatte, war gerade nicht dazu geeignet, beruhigend zu wirken und den Verdacht zu beseitigen. Er machte es sich aber klar, daß volles Vertrauen dieser starken Frau gegenüber das einzig Richtige sei.

Zuerst dreht es sich um den Brief.

Um welchen Brief?

Dm Brief, mit dem Ihr Gatte am Abend kurz vor dem Brande fortritt.

Er war an den Woodschen Agenten gerichtet.

Das hat Ihr Mann auch ganz richtig angegeben. Er hat aber nicht hinzugefügt, daß er die Maschine auf Kredit haben wollte und daß er die Anzahlung zu einem Termin vorschlug, der ungefähr in die Zeit der Auszahlung der Versicherungssumme fiel.

Das ist doch aber unmöglich ein so großes Verdachtsmoment, daß dieserhalb eine Verhaftung gerechtfertigt erscheint.

Schon recht. Hierzu kommen aber noch die verschiedenen sonstigen Verlegenheiten, in denen sich Bruhn kurz vor Ausbruch des Feuers befand. Er hatte mehrere Gläubiger um Ausstand bis zum Sommer gebeten.

Um welche Verpflichtungen dreht es sich denn?

Erstens hat er eine Bürgschaft von fünftausend Kronen übernommen.

Für wen?

Das kann ich mit Bestimmtheit nicht sagen. Der Richter wußte es aber. Ich glaube, daß es sich um den Intendanten Grove handelte. Wenn ich nicht irre, befand dieser sich einmal in großer Verlegenheit. Ihr Gatte hat übrigens nie mit mir darüber gesprochen.

Intendant Grove! wiederholte Frau Bruhn. Alfred war leider immer zu selbständig, als daß er sich in Geldsachen mir anvertraute. Was war sonst noch?

Ihr Mann hat seine Schwestern jahrelang unterstützt.

Auch das ist mir neu.

In der letzten Zeit vor dem Brande hat er diese Unterstützung aber nicht mehr zahlen können.

Arme Thora und Elise, seufzte Frau Bruhn, ich glaubte nicht, daß sie in so dürftigen Verhältnissen lebten.

Nach dem Brande hat er die alten Zahlungen wieder aufgenommen.

Ist sonst noch etwas?

Der Kriminalrichter meinte, daß die Geschichte mit dem Briefe nur ein Vorwand gewesen sei, da dieser keine so große Eile gehabt habe. Bruhn behauptete, daß er sich an dem Abende nicht wohl gefühlt habe und daß Sie ihm zugeredet hätten, den Ritt zu unternehmen, da ihm die frische Luft gut tun würde.

Frau Bruhn saß eine Weile still da, als gehe sie in Gedanken alles durch, was sich an diesem schicksalschwangeren Abend ereignet hatte.

Ja ja, wiederholte sie eifrig. Ich habe ihm geraten, den Ritt zu machen. Ich empfahl ihm auch, das Pferd satteln zu lassen. Damit versank sie wieder in tiefe Grübeleien.

War sonst noch etwas?

Nein, nur daß Bruhn über die Ladung zu dem heutigen Termin sehr nervös geworden war und stundenlang umherirrte. Die Sache ist aber an und für sich von untergeordneter Bedeutung. Die schlimmsten Momente sind der Brief und die Bürgschaft.

Frau Bruhn saß noch immer da und dachte nach. Schließlich begann sie in einem wunderbar ruhigen Tone, der tiefe Gedanken und ein vollständiges Vergessen der Umgebung verriet:

Bruhn bleibt also dabei, daß er unschuldig ist?

Selbstverständlich, antwortete der Oberst.

Er hat also nichts gesagt, was ihn verdächtigen könnte?

Nein!

Wann glauben Sie, daß er wieder vorgeführt wird?

Frühstens um zwölf Uhr, meinte der Referendar.

Gut, sagte Frau Bruhn, und ihre blaugrauen Augen wechselten die Farbe und nahmen einen eigenartig geheimnisvollen Ausdruck an.

Während Frau Bruhn sich plötzlich aus den Gedanken herausriß, die sie beschäftigten, reichte sie dem Oberst die Hand und sagte mit fester, ruhiger Stimme:

Haben Sie Dank, lieber Freund, für alles, was Sie heute für mich getan haben. Es war für Sie ein schwerer Gang hier heraus, und ich werde Ihnen Zeit meines Lebens dafür dankbar sein. Was auch geschehen mag, so versprechen Sie mir, daß Sie nie schlecht über mich denken werden, da ich mich wohl rühmen darf, Ihre älteste Freundin zu sein.

Sie reichte dem Obersten die Hand. Er drückte sie gerührt. Es war ihm unmöglich, ein Wort herauszubringen.

Und jetzt müssen Sie gehen, sagte sie bestimmt. Es wird Zeit für mich, daß ich meine Gedanken sammle.

Der Oberst eilte davon. Er war im Grunde genommen ganz zufrieden, daß er seinen Auftrag erledigt hatte und daß seine alte Freundin so ruhig und gefaßt war. Er begab sich selbst auf den Hof und rief den Stallknecht herbei. Die Knechte standen vor dem Pferdestalle und blickten dem Wagen solange nach, bis er verschwand.

Die Hausfrau hatte sich inzwischen in das Speisezimmer begeben, wo Astrid sich aufhielt. Das junge Mädchen weinte nicht mehr, sie saß jetzt mit brennend heißen Augen da und starrte vor sich hin. Die Mutter trat an sie heran. Sie strich ihr mit der Hand über das dunkle, blanke Haar, ebenso wie der Vater es so oft getan hatte, und sagte mit ihrer weichsten Stimme:

Mein liebes Kind, ein großes Unglück hat uns betroffen, das dich vielleicht am härtesten drücken wird. Du mußt aber alle Kraft zusammen nehmen, um das Unvermeidliche zu überwinden.

Astrid seufzte vor sich hin.

Dein Vater ist verhaftet.

Der Ausdruck in Astrids Antlitz veränderte sich bei dieser Mitteilung nicht, von der die Mutter annahm, daß sie einen großen Eindruck auf das junge Mädchen machen würde. Sie hatte aber begriffen, was vorgegangen war, und hatte sich in der halben Stunde des Alleinseins bereits an den Gedanken gewöhnt.

Ich habe es mir gedacht, sagte sie fast ruhig, plötzlich strömten aber die zurückgehaltenen Tränen wieder hervor, und sie schluchzte heftig, während sie wieder und immer wieder ausrief:

Ach! Das ist das Schlimmste nicht! Das ist das Schlimmste nicht!

Was meinst du damit, mein Kind? fragte Frau Bruhn erstaunt.

Astrid erhob sich und warf sich in fürchterlicher Erregung an die Brust der Mutter.

Das Schlimmste ist, daß ich glaube, daß der Vater …

Die Mutter stieß sie heftig von sich und sagte:

Astrid, sprich dieses Wort nicht aus. Du darfst es nicht einmal denken. Vergiß, was du sagen wolltest!

Damit küßte Frau Bruhn ihre Tochter auf die Stirn und sagte:

Geh jetzt nur auf dein Zimmer. Es wird eine schwere Nacht werden, die wir beide, am besten jede für sich allein, durchzukämpfen haben, und wer weiß, ob dieser Nacht nicht ein vielleicht noch schwererer Tag folgen wird.

An diesem Abend war es, daß Astrid an Holger Moe schrieb. Sie schrieb mit der Hoffnungslosigkeit der ersten Verzweiflung, mit keinem Worte berührte sie aber das Geschehene. Sie erklärte nur bestimmt, daß sie nie die Seine werden könne, und er faßte es so auf, als habe sie eine andere Wahl getroffen. Welche, war ihm gleichgültig. Er wollte das nicht einmal wissen, nicht daran denken, er wollte fort, fort, fort von dem Ganzen, und so reiste er.

Aber bis zum frühen Morgen lag Frau Bruhn die Nacht ganz still, ohne sich zu rühren und starrte in das Dunkel hinaus, in dem die Zukunft sich wie unruhige lebendige Bilder vor ihrem Blicke abzeichnete.


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