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Am Tage nach dem Besuche im Zuchthause ging Oberst Moe nach dem »Seehof« hinaus. Der Gutsbesitzer Bruhn befand sich bei seinem Empfang in sichtlicher Spannung, sagte aber nichts. Der Oberst, der, wie alle gutmütigen Menschen, zum Eigensinne geneigt war, nahm sich vor, nicht eher über sein Wiedersehen mit Frau Bruhn zu berichten, als bis der Gutsbesitzer ihn fragte und den Namen derjenigen nannte, der sein Besuch gegolten hatte.
Der Gutsbesitzer versuchte mit verschiedenen Fragen darüber wegzukommen, schließlich sagte er aber:
Hast du sie gesprochen?
Deine Frau? – Ja.
Bruhns Antlitz bemächtigte sich eine sichtliche Spannung, und er fuhr angestrengt fort:
Wie ging es ihr?
Sie imponierte mir durch ihre wunderbare Ruhe. Ich vergaß anfänglich ganz, daß ich eine Gefangene vor mir hatte. Sie trat mit derselben Sicherheit und Ueberlegenheit wie hier im Hause auf. In ihrer ganzen Erscheinung lag ein fast majestätisches Selbstbewußtsein.
Bruhn nickte vor sich hin.
So hatte ich sie mir auch gedacht. Dasselbe Wesen zeigte sie immer im entscheidenden Augenblick, während sie im täglichen Leben doch gefügig und bescheiden war. Sie ist zu sehr Aristokratin und zu begabt, um sich meiner schwerfälligeren Natur anzupassen. Gott weiß, ob sie in ihrer Stille und Unterwürfigkeit nicht oft auf mich herabsah und ob sie nicht, ohne daß ich es merkte, mit mir manöverierte, bis ich schließlich das tat, was sie für richtig hielt. Erst in letzter Zeit, wo so viele verschiedene Gedanken auf mich einstürmen, ist mir dies eingefallen.
Du solltest dir nicht zu viele schwere Gedanken machen. Das Grübeln ist nichts für dein Temperament, meinte der Oberst.
Dasselbe würde meine Frau auch wohl sagen, versetzte der Gutsbesitzer mit einem fast bitteren Lächeln. Ihr haltet mich wohl eigentlich alle für ziemlich beschränkt.
Nun, nun, bemerkte der Oberst, der immer ganz unglücklich wurde, wenn der Freund mit solchen Bemerkungen kam.
Ja, Ihr haltet mich für einen Mann, für den man, um ihn an Dummheiten zu verhindern, handeln muß. Ich habe an die Möglichkeit gedacht, daß meine Frau unter der Last ihrer Schuld und Strafe zusammensinken könnte, daß sie reumütig und zerknirscht zu mir zurückkehren würde, und ich räume es ein, daß ich mich glücklich geschätzt hätte, wenn ich sie als solche hätte aufnehmen und ihr für die Zukunft eine Stütze sein können. Vielleicht war dies ein egoistischer Wunsch. Bisweilen stellte ich sie mir ganz so vor, wie du sie soeben beschrieben hast, als im Unglück zur kalten Majestät erstarrt, ganz unzugänglich. Dadurch dürfte sich unser späteres Zusammenleben auch noch kühler, abgemessener, formeller und verständnisloser gestalten, als es bisher der Fall war.
Der Oberst rückte auf dem Sofa nervös hin und her und drehte seinen Schnurrbart.
Sagte sie sonst noch etwas? fragte der Gutsbesitzer und veränderte den Ton.
Sie läßt euch beide grüßen und meinte, das Beste sei, wenn ihr sie einstweilen nicht besuchtet.
Das ist auch wohl das Vernünftigste, erklärte der Gutsbesitzer und starrte vor sich hin. Darauf erhob er sich plötzlich und trat auf den Oberst zu.
Du mußt mich entschuldigen, wenn mein Wesen und mein Ton dich verletzt haben. Ich bin in einer so erregten und nervösen Stimmung, daß ich manchmal nicht recht weiß, was ich sage. Sei aber überzeugt, daß ich dir von Herzen für das dankbar bin, was du gestern und in der ganzen schweren Zeit für uns getan hast. Geh' jetzt zu Astrid und erzähl' ihr von ihrer Mutter. Sie sehnt sich danach, von ihr zu hören.
Als der Oberst das Zimmer verlassen wollte, hielt der Gutsbesitzer ihn noch einmal zurück und sagte, während er seine Hand ergriff:
Willst du mir versprechen, daß du dich, wenn ich einmal nicht mehr auf der Welt bin, Astrids annehmen willst?
Laßt uns doch nicht mehr davon sprechen, versetzte der Oberst.
Versprich mir, daß du dann hierher ziehen und so lange Vaterstelle an Astrid vertreten willst, bis meine Frau zurückkehrt.
Ja – das verspreche ich dir, erklärte der Oberst bestimmt und blickte dem Freunde fest in die Augen.
Der Gutsbesitzer drückte ihm still die Hand, und der Oberst verschwand im Nebenzimmer.
Bruhn trat jetzt an seinen Schreibtische um eine Menge Papiere zu ordnen, die er in der letzten Zeit häufiger herausgeholt hatte, und diese Beschäftigung setzte er bis spät am Nachmittage fort. Als er fertig war, lagen verschiedene Stöße auf seinem Tische. Er schlug einen großen Bogen um jeden derselben und schloß sie in seinem Geldschranke ein. Darauf riß er eine Reihe loser Briefe, Papiere und Quittungen, die er besonders gelegt hatte, in Stücke und verbrannte diese im Ofen.
Von diesem Tage an ging mit dem Charakter des Gutsbesitzers eine langsam fortschreitende Veränderung vor. Er war jetzt fast immer in liebenswürdiger, beinahe übermütiger Laune. Er antwortete stets auf alles, was man ihm sagte, und hatte nicht selten ein kleines, resigniertes Lachen auf den Lippen. Er ging oft aus, unterhielt sich gern, ohne selbst viel zu sprechen, und fing nach und nach an, häufiger von seiner Frau zu erzählen, deren Namen er bis dahin nie genannt hatte.
Oft konnte er abends längere Zeit mit Astrid über ihre Mutter sprechen, und er legte es ihr dann ans Herz, daß sie, wenn diese wieder in die Freiheit zurückkehre, gut, liebevoll und fürsorglich zu ihr sein solle.
Die Briefe aus dem Gefängnis las er mit Interesse und oft mehrmals. Sie waren durch eine gewisse Vornehmheit gekennzeichnet, und Frau Bruhn fühlte sich in diesen kurzen, unter Aufsicht verfaßten Ergüssen immer als Gattin und Mutter, der Gutsbesitzer spähte aber stets vergebens nach dem kleinen, demütigen Worte, auf das er so lange schon wartete, nach der Bitte, er möge ihr den Kummer und die Schande verzeihen, die sie über ihn gebracht hatte.
Die Zeit verlief denn auch einigermaßen erträglich, ja weit besser, als man auf dem »Seehofe« zu hoffen gewagt hatte, und selbst über die sonst so frohe Weihnachtszeit, die jetzt zu ebenso vielen schweren Prüfungstagen wurde, kam man leidlich gut hinweg. Man hatte sich daran gewöhnt, Frau Bruhn als eine ihrer Krankheit wegen fern vom Hause weilende Patientin zu betrachten, deren Rückkehr nach beendeter Kur man mit Sehnsucht und Spannung entgegensieht.
Der Oberst trug übrigens sein gut Teil dazu bei, daß der Druck der Sorge weniger schwer auf dem Hause lastete. Er schien im Vergleich zu dem schnell alternden Gutsbesitzer sich förmlich zu verjüngen. Nicht selten erhielt er Briefe von seinem Sohn, der mit einem gewissen Humor von seinen Kriegserlebnissen und den vielen eigenartigen Elementen berichtete, mit denen er jetzt in Berührung kam.
Diese Briefe interessierten den Oberst in hohem Grade, und diejenigen von ihnen, die für Astrid aufmunternd sein konnten, nahm er mit nach dem »Seehof« und gab sie dem jungen Mädchen zum Lesen. Eines Tages, als der alte Herr Astrid wieder einen Brief mitgebracht hatte, fragte sie, nachdem sie den Inhalt aufmerksam durchgelesen hatte:
Weiß Holger denn gar nicht, was hier während seiner Abwesenheit vorgegangen ist?
Der Oberst suchte nach einer ausweichenden Antwort, es nützte aber nichts. Astrid wiederholte ihre Frage in der bestimmtesten Form.
Nein, antwortete er schließlich, er weiß nichts, und ich halte es für besser, daß er einstweilen auch nichts erfährt. So etwas läßt sich sehr schlecht schreiben, und es wirkt in der Entfernung vielleicht noch schlimmer, als es in Wirklichkeit schon ist. Warten wir seine Rückkehr ab und rauben wir ihm nicht seinen frischen Mut.
Astrid antwortete nichts, kurz darauf fragte sie aber wie zufällig:
Wie ist Holgers jetzige Adresse?
Der Oberst verstand ihre Absicht und sagte mit der unschuldigsten Miene.
Ich weiß sie leider auch nicht. Im letzten Briefe hat er, wie du siehst, keine Adresse aufgegeben, und die alte dürfte heute kaum noch ausreichen. Deshalb antworte ich selbst einstweilen nicht und warte den nächsten Brief ab.
Von diesem Tage an fragte Astrid nicht mehr.
Inzwischen war der Frühling ins Land gezogen. Neue Kräfte gärten in der Natur, junges Gras und frische Waldtriebe schossen durch das verwelkte Laub empor, und mancher verdorrte Zweig stürzte nieder, während die Bäume nach der Ruhe des Winterschlafes im kräftigen Wohlergehen ihre wiegenden Köpfe streckten.
Der Gutsbesitzer Bruhn fühlte sich von der starken Frühjahrslust ermüdet. Nicht etwa, daß er schläfrig und matt war, es lag aber ununterbrochen eine eigenartige Schlaffheit über ihm, wie man sie am Morgen spürt, wenn man sich einer letzten kurzen Ruhe hingibt, die Minuten bis zum Aufstehen zählt und jede von ihnen als einen Genuß für sich empfindet. Es war ihm der Vorgeschmack der ewigen Ruhe gegeben, den das Leben bisweilen als letzten Gunstbeweis denjenigen schenkt, die der Tod gezeichnet hat.
Eines Abends spät im März saß er länger als gewöhnlich auf und unterhielt sich mit der Tochter. Seine Stimme war ruhig, sein Blick milde, und in allen seinen Worten drückte sich eine eigenartige Nachsicht aus.
Er sprach von seiner Gattin, und seine Rede wurde wärmer als sonst, wenn er ihren Namen nannte.
Ich habe heute eine sonderbare Erscheinung, einen seltenen Traum gehabt, der mich so glücklich gemacht hat. Ich sah deine Mutter wie in der Jugend, in den Tagen unserer Verlobung. Sie kam mir rein und freimütig wie damals mit Blumen in der Hand entgegen. Sie lächelte mir zu und sagte: »Ich habe dir Leid zugefügt, bald wirst du aber erfahren, daß ich es nur aus Liebe zu dir getan habe.« Dann küßte sie mich auf die Stirn, mir kam es aber vor, als sei es der Kuß des Todes. Er war mild und weich, aber voller Kälte. Ich versank in eine lange, feste Müdigkeit, in der ich das Leben nur ahnte, und ich merkte, daß sie Blumen über mein Antlitz ausstreute.
Astrid war blaß geworden. Sie kannte den Vater nicht wieder, seine Stimme klang wie aus weiter Ferne, und die Worte waren von seinen gewöhnlichen ganz verschieden.
Ich riß mich mit Anstrengung aller meiner Kräfte los, fuhr der Gutsbesitzer fort, und während ich ihre Hände ergriff, die noch halb mit Blumen gefüllt waren, drückte ich sie an meine kalten Lippen und sagte: »Ich vergebe dir! Ich vergebe dir, mein liebes Weib, da du es nun einmal bist und nicht ich, der um Verzeihung bitten soll.« Dann lächelte sie mir zu und verschwand weit fort in einem grauen, groben Kleide, und das Dunkel schlug um sie zusammen.
Das viele Nachdenken über den Besuch des Obersten bei der Mutter und ihre Briefe haben deine Phantasie in Bewegung gesetzt, Vater.
Ja, die Phantasie ist die Verschönerin des menschlichen Daseins. Ich habe in meinem Leben nur wenig von ihr kennen gelernt. In letzter Zeit ist sie mir aber eine gute Freundin geworden.
Bruhn erhob sich ein wenig im Stuhle, setzte sich dann aber wieder.
Ich bin so durstig, sagte er, kannst du mir nicht ein Glas Wasser reichen, meine liebe, gute Astrid? Und er blickte sie lange und innig an.
Da überfiel eine Fieberangst das junge Mädchen. Sie nahm den Kopf ihres Vaters zwischen beide Hände und küßte ihn heftig. Dann eilte sie in die Küche hinaus und schöpfte ein Glas Wasser aus der Tonne.
Als sie zurückkehrte, blieb sie unbeweglich stehen. Ein Schauer der Verlassenheit durchfuhr ihren Körper, das Antlitz des Vaters war ganz starr. Sie setzte das Glas so gewaltsam von sich, daß das Wasser sich über den Tisch ergoß und in langen Tropfen auf den Boden fiel.
Vater! rief sie leidenschaftlich aus und warf sich über ihn. Er antwortete aber nicht.
Der Gutsbesitzer Bruhn war tot.