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Schon in den letzten Tagen des September wurde Frau Bruhns Urteil gefällt. Es lautete auf zwei Jahre Zuchthaus und Tragung aller Kosten, sowie auf Vergütung der ganzen Versicherungssumme an die Feuerversicherungsgesellschaft.
Die Angeklagte legte keine Berufung ein, und wenige Tage später schlossen sich die Pforten des großen Gefängnisses hinter ihr.
Der Gutsbesitzer Bruhn, der von dem unerwarteten Schlage anfänglich ganz vernichtet war, erholte sich nach und nach. Sein Haar war stark ergraut, sein Antlitz mit tiefen Furchen durchzogen, es schien beinahe, als bemühe er sich, noch schlanker als sonst auszusehen und den Leuten zu zeigen, daß er noch das Recht und die Fähigkeit besitze, den Kopf hoch zu tragen.
Im übrigen machte er alles mechanisch. Er sprach nur wenig, lachte nie und hörte still, aber halb geistesabwesend seinem Freunde, dem Oberst Moe, zu, der inzwischen den Abschied genommen hatte und als täglicher Gast in den Tagen des Unglücks auf »Seehof« weilte.
Das bequeme Leben, das der Oberst jetzt führte, hatte ihn überströmend wohlwollend und außerordentlich redselig gemacht. Er interessierte sich scheinbar für alles und war von allerlei kleinen Beschäftigungen in Anspruch genommen. Unermüdlich war er im Hause und Garten tätig, und während er sich frei unter den Zivilisten bewegte und mehr und mehr seinen alten Soldaten ablegte, wurde Bruhn von Tag zu Tag gemessener und militärisch steifer.
Die beiden alten Soldaten und Kriegskameraden bildeten somit nach und mach einen eigentümlichen Gegensatz zu einander, aber in demselben Maße, wie ihr Aeußeres sich veränderte, näherten sie sich einander in ihrem Innern.
War der Oberst allein, so sank er oft förmlich zusammen, während er an den Sohn dachte, von dem er über zwei Monate kein Wort gehört hatte. Fragte man ihn teilnehmend nach dem jungen Offizier, so sagte er immer in scheinbar sorglosem Tone:
Der Junge wird seine Sache schon machen.
Auch Astrid litt unter diesem Mangel an Nachricht. Ein inneres Gefühl sagte ihr, daß ihr Brief den Geliebten zu der plötzlichen Abreise bewogen hatte; wenn sie aber bedachte, was inzwischen geschehen war, in wie fürchterlichem Grade sich ihre bange Ahnung verwirklicht hatte, so fühlte sie, daß ihr Tun richtig war, daß sie nicht anders handeln durfte, als ihm seine Freiheit zu geben.
Der alte Oberst folgte ihr oft mit den Augen. Er sah den Kampf, der in ihr vorging, er bewunderte ihre stille Resignation, und dabei fühlte er, daß ihr Herz sich mehr und mehr dem Jugendfreunde zuwandte, während sie jeden neuen Umgang mied, und er gelobte sich, daß er trotz alles Geschehenen die Kinder einander zuführen wollte.
Ueber Frau Bruhn wurde nach stillschweigender Uebereinkunft nie gesprochen. Trotzdem waren die Gedanken aller bei ihr, und alle führten wohl hundertmal am Tage ihren Namen auf den Lippen; niemand wagte es aber, ihn auszusprechen.
In den ersten Tagen des November reiste der Gutsbesitzer Bruhn nach Kopenhagen. In der Hauptstadt angekommen, fuhr er geradeswegs vom Bahnhofe zur Direktion der Großen Feuerversicherungs-Gesellschaft.
Dort ließ er sich bei dem ersten Direktor melden, der ihn in sehr höflicher, liebenswürdiger Weise empfing und ihn aufforderte, Platz zu nehmen.
Ohne Umschweife begann der Gutsbesitzer:
Sie wissen zweifellos, Herr Generaldirektor, eine wie tiefe Trauer meine Familie betroffen hat. Meine Frau ist wegen Brandstiftung verurteilt und hat Ihnen den durch sie verursachten Schaden zu ersetzen.
Das weiß ich, erklärte der Direktor, Ihre Gattin besitzt aber kein Vermögen, und Sie leben nicht in Gütergemeinschaft.
Nein, das tun wir nicht.
Nun, dann sind wir machtlos.
Ich wünsche aber den Schaden zu vergüten, den meine Frau Ihrer Gesellschaft zugefügt hat.
Der Generaldirektor blickte überrascht auf; der Rittmeister fuhr aber ruhig fort:
Ich wünsche zu zahlen, weil die Ehre meiner Frau auch die meine ist, und wünsche sie so zu stellen, daß sie bei meinem Tode keine Verpflichtungen hat. Es ist mir aber unmöglich, eine so bedeutende Schuld auf einmal zu begleichen. Ich möchte Ihnen deshalb Vorschlägen, daß sie im Laufe von drei Jahren aus den Erträgen meines Gutes abgetragen wird. Zehntausend Kronen werde ich Ihnen sofort anweisen lassen, sobald ich die schriftliche Bestätigung Ihrerseits habe, daß Sie auf meine Vorschläge eingehen.
Der Generaldirektor war sichtlich hoch erfreut und geleitete den Gutsbesitzer an die Tür. Dieser schritt, als er auf der Straße war, noch stolzer einher und trug den Kopf noch höher, als er es beim Betreten des Hauses getan hatte.
Als er wieder auf dem Bahnhof eintraf, fand er den Oberst dort vor. Der ehemalige Regimentskommandeur war in allerbester Laune. Er hatte endlich Nachricht von seinem Sohne Holger. Der Brief war mit einer Menge Stempel und Aufschriften versehen. Er war Mitte Oktober abgesandt und brachte somit nicht die neuesten Nachrichten.
Man ersah aus ihm, daß er von einem Manne geschrieben war, der allerdings mitten in den Begebenheiten stand, sich aber noch keineswegs darüber klar war, wie die Dinge auf dem Kriegsschauplätze wirklich aussahen. Er erzählte kurz und ohne Umschweife. Aus allem ging hervor, daß er bereits mehrere Briefe abgesandt hatte. Von diesen hatte aber keiner seinen Bestimmungsort erreicht. Der Oberst war froh, daß Holger sich trotz der mißlichen Lage der französischen Armee wohl befand, und freute sich über das entschieden rege Interesse, das Astrid an dem Jugendgespielen nahm.
Der Gutsbesitzer, dessen Sinn sich seit dem Tage ein wenig aufheiterte, an dem er die Ehrenschuld erledigt hatte, wurde allmählich von der guten Laune des alten Kameraden beeinflußt, und seit langer Zeit saßen sie einmal wieder auf der Veranda bei einem Glase Grog, wie sie es in den alten Zeiten gewöhnt gewesen waren.
Die Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen. Als alte Soldaten sprachen sie hauptsächlich vom Krieg und tauschten ihre Ansichten über die Leistungen der beiden Armeen, über die großartigen Siege der Deutschen und den tapferen Widerstand der Franzosen aus.
Es dauerte indessen nicht lange, als der Gutsbesitzer wieder gedankenvoll wurde. Er lehnte sich in den Stuhl zurück und sandte dicke Rauchwolken in die Luft hinaus; der Grog schien ihm nicht zu munden.
Der Oberst fühlte sich außerordentlich gedrückt, als der Gutsbesitzer, der lange mit den Worten gekämpft hatte, schließlich sagte:
Nächsten Sonntag darf sie Besuche empfangen.
Der Oberst begnügte sich mit einem einfachen Kopfnicken. Er wußte nur zu gut, wer die »sie« war, von der sie solange nicht gesprochen hätten.
Es entstand eine neue Pause. Dann begann der Gutsbesitzer wieder:
Ich kann mich nicht dazu entschließen, hinauszufahren. Es würde mich zu sehr angreifen, und ich weiß auch nicht, was ich ihr sagen sollte. Ihre Handlungsweise ist mir immer noch ein Rätsel. Mein Besuch würde uns beide nutzlos aufregen.
Und Astrid? wagte der Oberst zu bemerken.
Nein, nein, unter keinen Umständen. Das arme Kind ist schon zu großen Gemütsbewegungen ausgesetzt gewesen. Sie muß ihre Ruhe haben, jedenfalls vorläufig. Die Zeit ist ja leider lang, entsetzlich lang.
Der Oberst nickte bestätigend vor sich hin, und beide saßen einige Augenblicke schweigend da.
Aber, fuhr der Gutsbesitzer fort, ich möchte doch gern eine Nachricht von ihr haben, wissen, wie es ihr geht, und erfahren, ob sie glaubt, daß sie später wieder zu uns zurückkehren und das Leben als ein neuer und besserer Mensch beginnen kann. Es kommt oft eine Unruhe über mich. Dann packt mich wieder eine Furcht, und ich bilde mir ein, daß ich nicht mehr lange lebe.
Nun, nun, meinte der Oberst, der in der Eile keine Worte des Trostes finden konnte.
Nein, lieber Freund, versuche nur nicht, mich zu beruhigen. Ich bedarf dessen nicht. Ich sehe der Zukunft mit Ruhe entgegen, selbst wenn sie mir einen baldigen Tod bringen sollte. Wer ich habe Ahnungen, und ich glaube an sie, und deswegen gehen sie auch gewiß in Erfüllung. Das Lebenwollen spielt nun einmal eine Rolle bei den Menschen.
Als das Unglück mich traf, hätte es mich fast mit einem Schlage zerschmettert. Meine starke Natur widerstand aber einstweilen. Der harte Schlag hat mich indessen halb gebrochen, und lange wird es nicht mehr dauern, daß ich ihm ganz unterliege. Ebenso wie wir im Felde Kameraden gesehen haben, die, ohne ihre tödliche Verwundung zu merken, weiter kämpften, um in dem Augenblick, wenn die Spannung vorüber war, mit einem Seufzer tot umzusinken, so wird es auch mir ergehen.
Ich habe mich von jedem Verdachte gereinigt, ich habe die auf meinem Namen ruhende Ehrenschuld geordnet. Es dreht sich für mich jetzt nur darum, zu wissen, wie es der Frau geht, die ich so sehr liebte, die ich aber nie verstanden habe. Sobald dieser mein letzter Wunsch erfüllt ist, werde ich zusammenfallen, und das Leben, das der Wille in mir aufrecht erhält, wird erlöschen. Denn die Zeit ihrer Freilassung liegt in zu weiter Ferne, als daß der Gedanke, sie je wieder hier zu sehen, meine Lebensgeister aufrecht erhalten könnte.
Der Oberst versuchte wieder, Einwendungen zu machen, in den Worten des Gutsbesitzers lag aber eine solche Ueberzeugung, eine solche fast prophetische Kraft, daß sie ihn überwältigte.
Nach kurzem Nachdenken sagte er:
Willst du, daß ich hinaus fahre?
Der Gutsbesitzer erhob sich und ergriff seine beiden Hände.
Vielen Dank! sagte er gerührt, gerade darum wollte ich dich bitten. Ich wagte nur nicht, es dir zu sagen. In der Zeit der Trauer hast du stets die größten und mühsamsten Lasten auf dich genommen.
Du weißt, daß ich es unserer alten Kameradschaft wegen gern getan habe, sagte der Oberst und drückte die Hand des Gutsbesitzers, und wenn du es verlangst, bin ich auch in Zukunft dazu bereit.
Danke.
Es entstand eine peinliche Pause. Dann brach der Oberst auf.
Auf dem Heimwege sammelten sich die verschiedenartigsten Gefühle im Geiste des alten Herrn. In erster Linie dachte er aber doch immer wieder an den Sohn. Er war glücklich darüber, daß der Junge sich so gut machte und so frisch und munter schrieb, daß er darüber ganz die Sorgen seines Freundes und die traurigen Gedanken vergaß, die dessen letzte Worte in ihm hervorgerufen hatten.
Aber gleichzeitig sah er der Zukunft mit großer Sorge entgegen. Was sollte daraus werden, wenn Holger heimkehrte? Er hatte den Brief des Sohnes nicht mit sich nach dem »Seehof« genommen. Denn er fürchtete, daß sie ihn dann vielleicht sehen wollten.
Gegen Schluß lautete er nämlich folgendermaßen: »Grüße jetzt alle alten Freunde und Bekannte, namentlich die Familie Bruhn. Ich hoffe, daß sie wohl auf ist, und daß alles beim alten steht!«
Beim Alten! Ja, wäre es nur so!
Holger hatte also keine Ahnung von den Vorgängen auf dem »Seehof«, und woher sollte er sie denn auch haben? Der Oberst dachte lange über die Sache nach und kam zu dem Schluß, daß er ihm in seinem nächsten Briefe auch nichts davon mitteilen wollte.
Und wenn er nun heimkehrte! Als Offizier konnte er doch schwerlich die Tochter einer Zuchthäuslerin heiraten. Sollte Holger seiner Liebe das Opfer bringen und seinen Abschied nehmen? Der alte Oberst war sich zum ersten Male in seinem Leben darüber klar, daß er den Charakter seines Sohnes in dieser Beziehung zu wenig kannte. In schlechtester Laune kehrte er nach Hause zurück, während er an die neue, unerquickliche Aufgabe dachte, der er sich unterzogen hatte.